Spontan chaotisch

Aufruhr im Londoner Stadtteil Tottenham am 6
Erstveröffentlicht: 
31.10.2011

Wer waren die jungen Leute, die in England plünderten? Behörden haben erste Statistiken veröffentlicht - mit überraschenden Ergebnissen.

 

Tottenham brannte noch, da war für manche in Politik und Medien bereits alles klar.

 

In den Gewaltnächten des Sommers überschlugen sich Experten mit Erklärungen dafür, warum es gerade zu den heftigsten Unruhen seit 30 Jahren gekommen war. Sie machten vaterlose Familien verantwortlich, Lehrer ohne Autorität, eine rassistische Polizei, den Nihilismus der modernen Popkultur, die Rezession, den schönen Schein der Werbung und die Unterschicht im Allgemeinen.

 

Linke wie der frühere Londoner Bürgermeister Ken Livingstone befanden, die jungen Leute randalierten, weil der Staat so hartherzig spare. Rechte wie Premier David Cameron hingegen erklärten die Plünderungen zum Werk krimineller Jugend-Gangs, die keinerlei politische Absicht verfolgten.

 

Doch beide liegen falsch.

 

Knapp drei Monate nach den August-Krawallen lichtet sich der Nebel. Letzte Woche haben Scotland Yard, Justiz- und Innenministerium detaillierte Angaben zu den bisher mehr als 4000 Verhafteten und knapp 2000 Angeklagten veröffentlicht - mit überraschenden Ergebnissen.

 

Vor allem Camerons Lieblingsthese von der Haupttäterschaft der Gangs hält den Fakten nicht stand. Laut Polizeiangaben waren nur 13 Prozent der Verhafteten Mitglieder von Jugend-Gangs. Vereinzelt seien die organisierten Banden beteiligt gewesen, berichten die Ermittler, aber nirgendwo hätten sie eine entscheidende Rolle gespielt.

 

Manche Sozialarbeiter und Kriminologen hatten von Anfang an nicht viel von der Gang-These gehalten. Krawalle seien für Drogenbanden eher geschäftsschädigend, sagte etwa der Gang-Experte John Pitts. Wenn die Straßen voller Uniformierter seien, suchten berufsmäßige Dealer lieber das Weite.

 

In Wahrheit waren die Plünderungen offenbar spontan ausgebrochen, und sie liefen chaotischer ab als bisher unterstellt. Auch räumt Scotland Yard ein, dass das Polizeiaufgebot in den beiden ersten Nächten viel zu dürftig war - ebenso wie die Polizeikompetenz in den Digitalmedien Twitter und Facebook. Von der Ohnmacht des Staates überrascht, fühlten sich offenbar viele ermutigt, selbst Hand anzulegen.

 

Doch nichts deutet darauf hin, dass hier politisch bewusste Wutbürger zu Randalierern wurden, etwa aus Protest gegen staatliche Kürzungen. Vielmehr gehörten die meisten Täter zu den üblichen Verdächtigen: Drei Viertel der Angeklagten erwiesen sich als polizeibekannt. Ein Viertel zählte gar zu den Hartgesottenen mit elf oder noch mehr Vorstrafen; viele von ihnen hatten bereits im Gefängnis gesessen.

 

Der typische Londoner Plünderer ist den Statistiken zufolge zwischen 15 und 19 Jahre alt. Er wohnt in einem von Armut und Vernachlässigung geprägten Problemviertel. Er ist Schulversager und nicht selten arbeitslos. Je nach Stadtteil ist er schwarz (55 Prozent der Angeklagten) oder weiß (33 Prozent); eher unwahrscheinlich ist, dass er aus Indien oder Pakistan stammt (8 Prozent).

 

Die nächsten Monate bis Jahre wird er wegen Einbruchs im Gefängnis verbringen, das jetzt so voll ist wie nie. Und dort, so mahnen Kritiker, trifft er dann typischerweise auf echte Gang-Mitglieder. So oder so - seine Prognose für Erfolg in der Gesellschaft ist nicht gut.

 

Nach wie vor sind die Spezialisten von Scotland Yard dabei, Bilder aus den Überwachungskameras auszuwerten. 200 000 Stunden Material liegen ihnen vor, fast jeden Tag veröffentlichen sie neue Fahndungsfotos von Kapuzenträgern, die mit Flachbildschirmen unterm Arm durch die Straßen huschen. Im Verlauf der kommenden zwölf Monate könnte sich die Zahl der Haftbefehle noch verdreifachen - möglicherweise ändert sich dann auch wieder das Bild der Statistiker.

 

Cameron hat es abgelehnt, die Hintergründe der Plündernächte von einer Regierungskommission aufklären zu lassen. Stattdessen hat er eine vierköpfige Runde eingesetzt, die den Opfern zuhört. Ihr in Kürze erscheinender Bericht wird über die Täter kaum Aufschluss bieten.

 

Mehr ist von einem ehrgeizigen Projekt der Tageszeitung "Guardian" und der London School of Economics zu erwarten. Zusammen haben sie Dutzende Interviewer mit Fragebögen in die Problemstadtteile geschickt, um systematisch und in anonymer Form Randalierer, ihre Familien und ihr Umfeld über die Motive zu befragen. Im Dezember hoffen sie, einen wissenschaftlichen Bericht zu den "England riots 2011" vorzulegen.

 

Allmählich zeichnen sich die wirtschaftlichen Gesamtkosten der vier verhängnisvollen Augusttage ab. Für den Sparpolitiker Cameron ist die Bilanz ernüchternd: Allein die Entschädigungsansprüche von rund 3900 Londoner Geschäften und Privatpersonen belaufen sich auf bis zu 300 Millionen Pfund.

 

 

Von Marco Evers