Wann dürfen Journalisten aus E-Mails zitieren?

Erstveröffentlicht: 
15.11.2011

Zitatrecht


Seit einiger Zeit fällen die Gerichte ihre Urteile in Zitatrechtsfragen zunehmend zugunsten der Pressefreiheit. Wichtig ist nicht nur das öffentliche Interesse an den Informationen, sondern auch, wie privat der Inhalt und wie groß der Verteiler der fraglichen Botschaft ist.


Wenn Journalisten einen "Putschplan" in die Hände bekommen, sind sie natürlich erpicht darauf, ihn zu veröffentlichen. Diesen Sommer erfuhr die Berliner tageszeitung von einem solchen Plan. Mithilfe der Onlineplattform linksunten.indymedia.org gelangte die Redaktion an Mails und Dokumente, die belegten, dass sehr weit rechts stehende Burschenschaften die Macht im Dachverband Deutsche Burschenschaft übernehmen wollten. "Niemand sollte davon erfahren. Doch die Mails wurden öffentlich", heißt es im Anlauf eines entsprechenden taz-Artikels vom Juli.

Im Text folgen ausführliche Zitate. "Da wir erlebt haben, dass der linke Mob die Diskussion nicht annimmt (…), müssen wir davon ausgehen, dass wir 2012 (…) alle Ämter besetzen müssen/werden", schreibt ein gewisser "Ruzi", Mitglied der Karlsruher Burschenschaft Tuiskonia, an seine Gesinnungsgenossen. "Diskutiert die Punkte ruhig mal bei Euch auf dem Haus (...), aber schaut, dass die Gedanken nicht zu unseren Liberalinskis im Verband kommen."

Mit bürgerlichem Namen heißt "Ruzi" Rudolf Sch., er gehört zu den sogenannten Alten Herren in seiner Burschenschaft, also den nicht mehr Aktiven. Weil ihm missfiel, dass die Zitate in dem Beitrag der taz vorkamen, klagte er vor dem Landgericht Braunschweig. Im August wiesen die Richter die Klage ab. Begründung: Sch. habe keinen persönlichkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch (Az: 9 O 1718/11).

Im Oktober verlor er dann in einer ähnlichen Sache gegen Spiegel Online. Das Nachrichtenportal hatte in einem Beitrag über "Burschenleaks" auf jene Indymedia-Seite verlinkt, auf der die Mails zu finden waren (Az: 9 O 1956/11). In beiden Fällen betonte das Gericht das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Nachdem die von Sch. angegriffenen Beiträge erschienen waren, berichteten auch andere Medien über die Deutsche Burschenschaft. Anlass der Berichterstattung war der Versuch einer Burschenschaft, eine andere aus dem Verband auszuschließen, weil diese einen Studenten chinesischer Herkunft aufgenommen hatte.

Was folgt aus diesen Urteilen, gegen die Sch. zumindest in der taz-Sache bereits Berufung eingelegt hat, für die journalistische Praxis? "Grundsätzlich gilt, dass die unbefugte Veröffentlichung von vertraulichen Aufzeichnungen das allgemeine Persönlichkeitsrecht tangiert, denn der Einzelne hat grundsätzlich ein Recht darauf, selbst zu bestimmen, wie er sich in der Öffentlichkeit darstellt", heißt es in der Entscheidung zu Spiegel Online. In vergleichbaren Fällen klingt es ähnlich. Auf diese Einschätzungen folgt stets ein großes Aber zugunsten der Pressefreiheit.

 

Die Mär von der Privatsphäre

 

Journalisten müssten – wie immer, wenn es ums Persönlichkeitsrecht gehe – "genau abwägen", ob sie unerlaubt etwas Vertrauliches veröffentlichen, erläutert Thorsten Feldmann aus der Kanzlei JBB, der Spiegel Online in dieser Sache vertritt. Selbstverständlich gehöre die Privatsphäre geschützt, sagt Feldmann. Schwierig sei aber zu definieren, wann etwa eine Mail eigentlich privat sei. "Nur weil sie über einen kleinen Verteiler geht, ist sie rechtlich noch lange nicht privat", sagt Feldmann. Die Braunschweiger Richter fanden zum Beispiel, Sch. könne sich nicht auf die Privatsphäre berufen, weil die Mails keinerlei privaten Charakter hätten. Schließlich gehe es nicht um seinen "familiären und häuslichen Bereich", heißt es in beiden Urteilen.

Zwischen den beiden Braunschweiger Verfahren gibt es durchaus einen Unterschied. Die taz geht in ihrem weiterhin abrufbaren Beitrag redaktionell auf die Mails ein, ohne den vollen Namen des "Putschplaners" zu nennen. Spiegel Online erwähnt Sch. im Artikel gar nicht, auf seinen Namen stößt man nur über den Link zu Indymedia. Dort finden sich dann auch weitere Informationen zur Person, unter anderem die, dass er für seine politische Tätigkeit seine Mailadresse bei einem Autokonzern genutzt hatte.

Das Braunschweiger Spiegel-Online-Urteil belegt, dass sich in der Debatte um die Rechtmäßigkeit von Verlinkungen einiges geändert hat. In früheren Fällen spielte in der rechtlichen Debatte zunächst lange die Haftungsfrage die Hauptrolle. "Eine Zeitlang gab es die Tendenz, die Haftung exzessiv auszuweiten", sagt Feldmann. Wer auf einen rechtswidrigen Inhalt verlinkte, wurde als sogenannter Störer zur Rechenschaft gezogen, unabhängig davon, was mit dem Link bezweckt war.

Einen Wendepunkt brachte 2010 ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH). Anlass des Streits war ein Bericht von Heise Online über die Software AnyDVD – einen "Kopierschutzknacker", wie es in dem Beitrag wörtlich heißt. Weil Heise auf die Website verlinkt hatte, wo sich die Software herunterladen lässt, klagten acht Unternehmen aus der Musikindustrie, unter anderem Sony und BMG – mit Verweis auf Paragraf 95a des Urheberrechts ("Wirksame technische Maßnahmen zum Schutz eines nach diesem Gesetz geschützten Werkes oder eines anderen nach diesem Gesetz geschützten Schutzgegenstandes dürfen ohne Zustimmung des Rechtsinhabers nicht umgangen werden").

In den ersten beiden Instanzen – Landgericht und Oberlandesgericht (OLG) München – bekamen Sony, BMG und Co Recht. Der 1. Zivilsenat des BGH urteilte dagegen, dass "die formale Gestaltungsfreiheit" Teil der Pressefreiheit sei. Die Kernaussage des Urteils: Eine Verlinkung kann auch dann rechtmäßig sein, wenn die verlinkten Inhalte rechtswidrig sind (Az: I ZR 191/08). In diesem Zusammenhang kritisierte der BGH das OLG München. Das hatte die Heise-Berichterstattung als "vorsätzliche Unterstützung der Rechtsverletzung" bewertet. Die Karlsruher Richter vertraten dagegen die Ansicht, "dass gerade die Schwere des in Frage stehenden Verstoßes ein besonderes Informationsinteresse begründen kann". Sprich: Je schwerer ein Rechtsverstoß, desto wichtiger kann die Berichterstattung darüber sein. Damit endete ein fast sechsjähriger Rechtsstreit.

 

"Freiheit für Links"

 

Das BGH-Urteil spielte auch bei der Argumentation der Braunschweiger Richter zu den Burschenschafter-Mails eine Rolle. Im Urteil zu AnyDVD heißt es nämlich auch: Generell dürfen Journalisten über Äußerungen berichten, "durch die in rechtswidriger Weise Persönlichkeitsrechte Dritter beeinträchtigt worden sind" – wenn ein überwiegendes Informationsinteresse besteht und der Verbreiter sich die Äußerung nicht zu eigen macht. Der Passus bezieht sich unter anderem auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Az: EGMR 21980/93).

Die besondere Relevanz des Braunschweiger Urteils bestehe darin, dass die Richter das Motto "Freiheit für Links" auf das Persönlichkeitsrecht übertragen hätten, sagt Feldmann. Bemerkenswert sei darüber hinaus, dass "das Gericht entschieden hat, dass die Linksetzung sogar dann rechtmäßig ist, wenn die Erstveröffentlichung der E-Mails bei Indymedia eine Persönlichkeitsrechtsverletzung gewesen sein sollte". Mit anderen Worten: Ob sich Indymedia die Mails auf unrechtmäßige Weise beschafft hat, ist nicht relevant. Es gebe, so die Richter, ein Informationsinteresse an der Originalquelle.

Gestärkt wurde die Meinungsfreiheit auch durch ein Urteil des OLG Stuttgart (Az: 4 U 96/10), das in einem Rechtsstreit zwischen einem Impfgegner (Kläger) und einem Impfgegner-Kritiker zu entscheiden hatte. Letzterer hatte aus einer Mail zitiert, die an rund 100 Mitglieder einer geschlossenen Yahoo-Mailingliste gegangen war. Der Kläger pries dort den Verschwörungstheoretiker Ryke Geerd Hamer, einen ehemaligen Arzt, der heute die "Germanische Neue Medizin" propagiert. Nachdem der Hamer-Fan gegen das Zitat geklagt und in der ersten Instanz Recht bekommen hatte, hob das OLG das Urteil auf. Die Stuttgarter schreiben: "Geschäfts- und Privatbriefe" seien nicht gegen Veröffentlichungen geschützt, "sofern der Wille des Verfassers oder Berechtigten zur Geheimhaltung nicht deutlich erkennbar ist".

 

"Klassischer Enthüllungsjournalismus"

 

Das Fazit: Etwas ungenehmigt zu veröffentlichen, kann durchaus zulässig sein, weil "Privat- und Sozialsphäre nicht absolut geschützt" seien. Wenn der Urheber der Veröffentlichung "im Wirtschaftsleben oder in der Politik aktiv" sei und am "Meinungskampf" teilnehme, müsse er sich "in weitem Umfang der Kritik aussetzen", so das OLG Stuttgart. Entsprechende Mails zu veröffentlichen, gehöre in den "Bereich des klassischen Enthüllungsjournalismus", sagt Spiegel-Online-Anwalt Thorsten Feldmann.

Auch das Stuttgarter Verfahren macht deutlich, dass sich der Begriff Privatsphäre unterschiedlich interpretieren lässt. Nach Ansicht der Richter konnte im vorliegenden Fall von einer privaten Mail nicht die Rede sein, weil sie an eine Mailingliste gegangen war, deren Mitglieder der Kläger gar nicht alle persönlich kennt. Einen "Vertraulichkeitsschutz" biete die Liste schon deshalb nicht, weil man dort unter Pseudonym Mitglied werden kann. Der Stuttgarter Fall ist aber noch nicht beendet. Nachdem das OLG eine Revision nicht zugelassen hatte, hat der Unterlegene eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt (Az: VI ZR 317/10).

Als wichtigstes Urteil in Sachen unerlaubtes Mail-Veröffentlichen gilt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom Februar 2010. In dieser Sache (Az: 1 BvR 2477/08) unterlag der Berliner Anwalt Christian Schertz dem Onlineportal der Neuen Rheinischen Zeitung. Der prominente Jurist hatte geklagt, weil nrhz.de aus einer Mail zitiert hatte, die Schertz den Machern der Website auf deren Anfrage geschickt hatte – anders als in den anderen Fällen ging es hier also nicht um eine auf Umwegen, möglicherweise sogar auf unrechtmäßige Art beschaffte Mail. nrhz.de hatte auf sarkastische Weise angefragt, ob man einen Prozessbericht mit einem Foto bebildern dürfte, das auf der Website der Kanzlei zu finden war und das Schertz und dessen damaligen Sozius Dominik Höch zeigte. Schertz untersagte dies, auch im Namen Höchs.

Dieses BVG-Urteil spielte auch bei der Spiegel-Online-Sache in Braunschweig eine Rolle – zwar nicht in der Urteilsbegründung, aber in der mündlichen Verhandlung. Die Karlsruher Entscheidung, sagt Thorsten Feldmann, sei von großer Bedeutung, nicht nur, was Mails und Briefe betrifft, sondern weil sie deutlich mache, dass man alles aus der Sozialsphäre veröffentlichen darf, sofern es keine Prangerwirkung hat. Die Verfassungsrichter konnten nicht erkennen, "dass das mit dem Zitat berichtete Verhalten des Klägers ein schwerwiegendes Unwerturteil des Durchschnittspublikums nach sich ziehen könnte, wie es der Annahme einer Anprangerung vorausgesetzt ist". Genau dies hatten die Vorinstanzen, das Landgericht und das Kammergericht Berlin, angenommen.

 

Meinungsfreiheit bleibt Meinungsfreiheit

 

Mindestens ebenso wichtig ist eine Passage aus dem Urteil des Verfassungsgerichts, die sich auf das Interesse der Öffentlichkeit bezieht. Während es bei "Burschenleaks" und auch in der Mail des Impfkritikers um gesellschaftlich relevante Themen geht, ist die Weigerung eines Anwalts, einem Medium zu gestatten, dass es ein auf seiner Website publiziertes Foto nutzt, von vergleichsweise geringem öffentlichen Interesse.

Dazu stellen die Karlsruher Richter klar, das öffentliche Interesse sei zwar ein "wesentlicher Abwägungsfaktor", wenn es um die Kollision von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten gehe. Daraus folge aber nicht, "dass die Meinungsfreiheit nur unter dem Vorbehalt des öffentlichen Interesses geschützt wäre". Es stelle "eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verkürzung dar", wenn der Kläger nur Recht bekomme, weil dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht über dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit stehe. Oder um es mit dem Medienjournalisten Stefan Niggemeier zu sagen: "Artikel 5, Absatz 1, Satz 1 des Grundgesetzes lautet nicht: 'Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, solange es sich um ein wichtiges Thema handelt und ein Interesse der Öffentlichkeit an dieser Meinung besteht.'"