RAF-Prozess: Höhnisches Echo

Erstveröffentlicht: 
26.04.2011

Seit 34 Verhandlungstagen schweigen die Zeugen im Stuttgarter Verena Becker- Prozess. Und so wird die Wahrheit über den 1977 von der RAF verübten Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback weiterhin im Dunkeln bleiben.

 

Seit sieben Monaten gibt der Rechtsstaat in Stuttgart eine Probe seines Könnens. Einmal in der Woche – fast jeden Donnerstag, manchmal zusätzlich am Freitag – zieht er die Robe an, schiebt sich die Binde vor die Augen, die ihn nicht blind macht, sondern unbestechlich, und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit im Sinne der Strafprozessordnung.

 

34 Mal hat sich das Publikum von den Plätzen erhoben, wenn Hermann Wieland, Vorsitzender Richter am Stuttgarter Oberlandesgericht, mit seinem Senat den Gerichtssaal betrat. 34 Mal hat die Angeklagte schweigend Stunde um Stunde zwischen ihren Verteidigern gesessen. 34 Mal hat Herr Wieland, ein freundlicher, besonnener Mann, die Verhandlung eröffnet, Akten verlesen und vor allem Zeugen, die die Wahrheit wissen, die wirkliche, die wahre Wahrheit, ermahnt, diese Wahrheit hier und heute auch zu sagen, aber nicht einer der die Wahrheit wissenden Zeugen war bereit, Herrn Wielands Ermahnung zu entsprechen – nicht hier, nicht heute. Warum auch sollten die Zeugen ausgerechnet hier und heute an einem der 34 Verhandlungstage im Mord-Prozess gegen die frühere Terroristin Verena Becker berichten, was sie seit 34 Jahren verschweigen – wer am 7. April 1977 in Karlsruhe Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dessen Fahrer Wolfgang Göbel und Georg Wurster, den Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft, erschoss mit 15 Schüssen vom Rücksitz eines Motorrads, Typ Suzuki GS750.

 

Das ist die Frage: Wie es damals, vor 34 Jahren, wirklich war? Das ist die Frage, die Michael Buback, Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, seit 34 Jahren so sehr umtreibt, dass er die Anklage gegen die 58 Jahre alte Verena Becker der Justiz abgerungen hat und ihr als Nebenkläger beigetreten ist. Und das ist zugleich die Frage, auf die dieser so akribisch und vorbildlich fair geführte Prozess – wie mit jedem Verhandlungstag immer klarer wird – keine Antwort findet. Herr Wieland und sein Senat werden in den nächsten Monaten noch weitere Zeugen vernehmen, wissende und unwissende, gutwillige und verschlossen schweigende, Augenzeugen und Zeugen vom Hörensagen, sie werden Akten verlesen, Gutachten prüfen, die Argumente der Bundesanwälte und der Verteidiger sorgfältig abwägen und – wenn ein Vortrag wieder einmal sehr lang und das Zuhören sehr anstrengend war – immer wieder die Verhandlung für eine halbe Stunde unterbrechen.

 

Am Ende aber – im Herbst, im Winter? – wird der Senat keine Antwort verkünden, sondern ein Urteil sprechen. Dann wird die Akte im Prozess gegen Verena Becker geschlossen, und der Mordfall Buback wird um eine prozessuale Wahrheit reicher sein.

 

Über einen Mangel an prozessualen Wahrheiten konnte sich der Fall Buback schon bisher nicht beklagen. Eine prozessuale Wahrheit lautet, dass Knut Folkerts, 1980 unter anderem wegen der Ermordung Bubacks zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und 1995 vorzeitig aus der Haft entlassen, am Attentat beteiligt war. Worin die Beteiligung genau bestand, wurde einerseits nie geklärt. Folkerts und einige ehemalige Komplizen behaupten, er habe sich am 7. April 1977 gar nicht in Karlsruhe, sondern in den Niederlanden befunden. Andererseits kam es darauf – aus Sicht der prozessualen Wahrheit – gar nicht an, denn auch wer sich aus der Ferne an einem gemeinsam verabredeten Verbrechen beteiligt, ist beteiligt.

 

Eine andere prozessuale Wahrheit lautet, dass auch Christian Klar, 1985 wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und vor drei Jahren entlassen, an der Ermordung Bubacks irgendwie beteiligt war. Zwar ist auch der Tatbeitrag Klars nie genau ermittelt worden, andererseits hat Klar seine Beteiligung an dem – wie auch an anderen – Verbrechen nie bestritten.

 

Und schließlich gibt es die prozessuale Wahrheit im Fall Brigitte Mohnhaupts, der zeitweiligen Anführerin der Rote Armee-Fraktion, die die Mord-Serie der Terror-Gruppe vor 34 Jahren („Offensive 77“) lenkte, die wie Klar wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt – und nach 24 Jahren 2007 entlassen – wurde, die nie im Verdacht stand, selbst am Tatort gewesen zu sein. Die prozessuale Wahrheit weist ihr die Rolle der „Rädelsführerin“ zu. Drei prozessuale Wahrheiten, drei verurteilte Terroristen. Und eine offene Frage: Wer erschoss Siegfried Buback?

 

Knut Folkerts weiß es möglicherweise, Christian Klar wahrscheinlich, Brigitte Mohnhaupt gewiss. So ist es vor allem Brigitte Mohnhaupt, auf die Herr Wieland an einem Verhandlungstag Ende März seine Hoffnung setzt, doch noch den Namen des Todesschützen zu erfahren. Sie ist auch seine letzte Hoffnung. Fast alle ehemaligen Mitglieder der so genannten Zweiten Generation der RAF hat er bis dahin schon befragt, hat ihnen ins Gewissen geredet, nachdem sie ihre Strafen verbüßt und wieder Aufnahme in die Gesellschaft gefunden hätten, doch endlich „reinen Tisch“ zu machen, auszupacken und dem Gericht zu sagen, was es hören wolle: die Wahrheit im Mordfall Buback. Einige wenige – Peter-Jürgen Boock zum Beispiel, der den Verdacht auf Stefan Wisniewski zu lenken versuchte, oder Silke Maier-Witt, die Verena Becker angeblich nie kennen gelernt hat und auch im Übrigen nicht sehr viel weiß – haben geredet, alle anderen hatten geschwiegen und sich auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht berufen.

 

Mit diesem Recht legt sich der rechtsstaatliche Strafprozess selber Fesseln an: Er sucht die Wahrheit, aber er sucht sie nicht um jeden Preis. Wer befürchten muss, sich mit der wahrheitsgemäßen Beantwortung von Vernehmungsfragen der Strafverfolgung auszusetzen, darf zwar nicht lügen, aber nach Paragraf 55 Strafprozessordnung schweigen. Etwa ein Dutzend ehemalige Terroristen hatte Herr Wieland höflich und präzise nach Dauer und Intensität ihrer Mitgliedschaft in der RAF befragt, nach ihrem Status in der Gruppe, ihren – längst abgeurteilten – Verbrechen und schließlich nach ihrem Wissen über die Ermordung Bubacks und der Beteiligung Verena Beckers.

 

Und wie ein höhnisches Echo war stets die Berufung auf „Paragraf 55“ zurückgekommen, so oft, so schnell und so bedenkenlos, dass Herr Wieland schon zu resignieren schien. Jetzt aber sitzt vor ihm Brigitte Mohnhaupt, 61 Jahre alt, erwerbslos wie die meisten anderen ehemaligen Terroristen, und Herr Wieland hebt die Stimme, um die Eindringlichkeit der Ermahnung zu erhöhen: „Betrachten Sie Ihren Auftritt hier als Chance.“

 

Aber Brigitte Mohnhaupt zögert nicht einen Moment: „Ich sehe das hier nicht als Plattform“, sagte die ehemalige Terroristin.

 

Das ist der Augenblick, in dem Hermann Wieland, Vorsitzender Richter am Stuttgarter Oberlandesgericht, zum ersten Mal in diesem Verfahren die Fassung verliert. Vermutlich wird ihm mit dieser Antwort klar, dass auch er und sein Senat – wie alle anderen Gerichte, die sich in den vergangenen 34 Jahren mit dem Mordfall Buback befassten – sich mit der prozessualen Wahrheit bescheiden müssen, weil die wirkliche Wahrheit nicht zu haben ist.

 

Seine Stimme vibriert vor Zorn, als er Brigitte Mohnhaupt erwidert: „Es gibt Personen, die haben kein Gewissen und keine Moral.“ Aber selbstverständlich weiß auch Herr Wieland, dass es hier nicht um das Gewissen geht und nicht um die Moral, sondern um das Recht der Zeugin. Doch kann er in dem Augenblick nicht ahnen, dass die Bundesanwaltschaft Brigitte Mohnhaupt nur wenige Tage später die beste Begründung ihres Schweigens liefern wird: Mitte April wurde bekannt, dass die Anklagebehörde gegen sie wegen Mordversuchs an einem Frankfurter Waffenhändler im Sommer 1977 ermittelt, für den bisher nur Knut Folkerts angeklagt und verurteilt wurde.

 

DNA-Analysen sollen die Fahnder auf die Spur Mohnhaupts gebracht haben.

 

Ohne DNA-Analysen säße auch Verena Becker nicht auf der Anklagebank des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Kein ehemaliger Komplize hat sie belastet, keine unvorsichtige Aussage Beckers den Verdacht der Behörden erregt. Zwar hatte Michael Buback, der Sohn des Mord-Opfers, in einem Buch („Der zweite Tod meines Vaters“) eine Reihe vermeintlicher Tat- und Tatortzeugen benannt, die vor 34 Jahren angeblich eine „zierliche Frau“ auf dem Rücksitz des Motorrads als Schützin erkannt haben und eine eindrucksvolle Liste merkwürdiger Fahndungspannen präsentiert.

 

So waren einige Wochen nach dem Anschlag Günter Sonnenberg und Verena Becker nach einer blutigen Schießerei verhaftet und etliche Waffen bei ihnen sichergestellt worden, darunter die auch beim Buback-Mord verwendete Maschinenpistole. Alle Indizien sprachen dafür, dass Becker und Sonnenberg am Karlsruher Attentat direkt beteiligt gewesen waren, ein entsprechender Haftbefehl war auch zunächst erlassen worden.

 

Aber angeklagt wurden die beiden deswegen nie. Ausgerechnet an der Terroristin, gegen die von Anfang an schwerwiegendste Indizien sprachen, ausgerechnet an Verena Becker hatten die Ermittlungsbehörden schlagartig jegliches Interesse verloren. Bis heute glaubt Michael Buback, vermutlich sei Verena Becker die Mörderin seines Vaters, und der Verfassungsschutz, für den sie gearbeitet habe, halte seine „schützende Hand“ über sie. Doch hätte das alles kaum für eine Anklage Beckers genügt. Zu ihr entschloss sich die von Michael Buback öffentlich erheblich unter Druck gesetzte Bundesanwaltschaft erst, nachdem auf mehreren nach dem Attentat abgesetzten Bekennerschreiben der Terror-Gruppe DNA-Spuren Beckers entdeckt worden waren.

 

Wer die wahre Wahrheit fordert, dem ist die prozessuale Wahrheit egal. Michael Buback will wissen, wer seinen Vater erschoss, nicht mehr und nicht weniger: „DNA-Spuren auf Bekennerschreiben interessieren mich nicht.“ Zwar ist Verena Becker wegen gemeinschaftlichen Mordes an Siegfried Buback angeklagt, aber nicht als vermeintliche Todesschützin, sondern allein wegen ihrer Fingerabdrücke auf den Bekennerschreiben. Und selbst diese Anklage ist zwar nicht auf Sand gebaut, aber auch nicht gerade auf festem Fundament.

 

Der Bundesgerichtshof hatte Verena Becker vor Beginn der Verhandlung mit der Begründung auf freien Fuß gesetzt, der dringende Tatverdacht sei nicht hinreichend begründet. Belegt sei lediglich der dringende Verdacht, Becker habe „die eigentlichen Täter zumindest psychisch bei Begehung der Tat bestärkt und damit Beihilfe zu dieser geleistet“. Zwar hatten Hermann Wieland und sein Senat dennoch eine Anklage wegen Mittäterschaft an den drei Morden zugelassen. Doch am Ende wird es kaum von Bedeutung sein, ob Becker wegen Beihilfe oder wegen Mittäterschaft verurteilt wird. Denn der Bundesgerichtshof hat bei der Entlassung Beckers aus der Untersuchungshaft klargemacht, dass die nicht mit einer höheren Strafe wird rechnen müssen. Ihr Tatbeitrag sei nicht entscheidend gewesen, ihre verbüßte langjährige Freiheitsstrafe im Übrigen selbstverständlich anzurechnen.


Wer erschoss Siegfried Buback? Die Antwort auf diese Frage, also die wahre Wahrheit werden Michael Buback und die Justiz woanders suchen müssen. Ehemalige Terroristen haben immer wieder auf Stefan Wisniewski, 1981 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und 18 Jahre später vorzeitig aus der Haft entlassen, als angeblichen Todesschützen verwiesen. Seit vier Jahren ermittelt deshalb gegen ihn die Bundesanwaltschaft. Doch soweit bekannt, gibt es bisher keine handfesten Beweise. Mehr als eine prozessuale Wahrheit ist also nach Lage der Dinge auch hier nicht zu erwarten.