Was Innensenator Körting zum 1. Mai erwartet

Erstveröffentlicht: 
23.04.2011

Die Wochen um den 1. Mai sind für die Polizei in Berlin immer wieder eine Herausforderung. In diesem Jahr gibt es nach Einschätzung von Innensenator Ehrhart Körting (SPD) allerdings deutlich weniger Mobilisierungsaufrufe der linksextremistischen Szene.

 

Morgenpost Online: Herr Körting, bald ist 1. Mai. Was bedeutet dieses Datum für einen Berliner Innensenator?

 

Ehrhart Körting: Der 1. Mai ist immer ein Datum, das wir alle mit großer Anspannung erleben. Auch meine Vorgänger Schönbohm und Werthebach werden sich wie ich jedes Mal mit ihren Polizeichefs zusammengesetzt haben und überlegt haben, was sie machen können, um diese Gewaltexzesse endlich abzustellen. Man bewertet, was im letzten Jahr gut und schlecht lief, und analysiert die Daten, die neu vorliegen. Es ist leider ein herausragendes Datum für die Polizei geworden und nicht mehr für die Arbeiterbewegung.

 

Morgenpost Online: Können Sie sich daran erinnern, wie Sie sich vor Ihrem ersten 1. Mai als Innensenator gefühlt haben?

 

 

Körting: Ja, damals gab es schon eine Diskussion um die Deeskalationsstrategie. Da gab es auch eine Auseinandersetzung mit einigen Polizeiführern. Wir haben uns in großem politischen Konsens, außer der CDU, für eine Deeskalationsstrategie entschieden. Insofern war ich vor diesem 1. Mai 2002 begrenzt optimistisch. Es ist dann auch etwas besser gelaufen als im Jahr davor. Aber die Betonung liegt auf „etwas“. Immerhin ist es, seit es eine Strategie gibt, die wir durchhalten, stetig besser geworden. Bis auf 2009, das war wirklich ein Rückschlag. Aber ansonsten konnten wir die Gewalt weiter eindämmen.

 

Morgenpost Online: Ein Rückschlag in den letzten Wochen war der Anschlag auf die Polizeiwache in Friedrichshain. Das haben Sie selbst als „neue Qualität“ bezeichnet, weil in Kauf genommen wurde, dass jemand zu schaden kommt. Was erwarten Sie vor diesem Hintergrund?

 

Körting: Es wird wieder Leute geben, die Gewalt suchen. Leider auch und gerade gegenüber Polizisten. Der Anschlag auf den Abschnitt 51 war trotzdem eher atypisch. Und auch in der linksextremistischen Szene war er nicht vermittelbar. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die Täter im Bekennerschreiben bewusst lügen und behaupten, der Mann sei nicht in der Schleuse gewesen, als sie die Brandsätze hinein geworfen haben. Denn sie haben genau gesehen, dass er drin war. Solche Anschläge sind also selbst ihrem Klientel nicht vermittelbar. Deshalb gehe ich nicht davon aus, dass dieser Anschlag die Aktionsform der Zukunft ist. Dafür gibt es keine breite Basis in der linksextremistischen Szene.

Morgenpost Online: Wie bewerten Sie die Aufrufe im Internet, das Myfest zu stören?

 

Körting: Die hatten wir jedes Jahr. Die Polizei ist darauf vorbereitet. Das Myfest läuft und die Revolution läuft nicht – das ärgert halt viele in der linksextremistischen Szene. Abgesehen von diesen Aufrufen gibt es in diesem Jahr bisher aber noch keine außergewöhnliche Mobilisierung. Es gibt zum Beispiel bisher kaum Spuckies in der Stadt.

Morgenpost Online: Was sind denn Spuckies?

 

Körting: Das sind diese kleinen Aufkleber an Ampeln und Laternen, wo „Heraus zum Revolutionären 1. Mai“ drauftsteht. Davon gab es sonst viel mehr. Auch Plakate sind bisher selten.

 

Morgenpost Online: Die Rechtsextremisten haben in diesem Jahr keine Demo angemeldet. Aber es fällt schwer zu glauben, dass die gerade in Berlin so einflussreichen und sehr gewaltbereiten Autonomen Nationalisten bei diesem 1. Mai keine Rolle spielen wollen.

 

Körting: Innerhalb der rechten Szene wird für Demos außerhalb Berlins mobilisiert. In Bremen, Greifswald, Halle, vielleicht gibt es auch eine in Heilbronn. Deshalb gehe ich davon aus, dass etliche Rechtsextreme zu diesen Demonstrationen fahren. Ich weiß aber nicht, ob nicht doch noch irgendwo eine Demo angemeldet wird. Aber ich halte die rechtsextremistische Szene in Berlin gerade für so zersplittert, dass es einen langen Vorlauf bräuchte, um eine größere Demo zu organisieren. Die wollen ja nicht mit nur 50 Leuten auf die Straße gehen.

 

Morgenpost Online: Spontane Aktionen schließen Sie aus?

 

Körting: Eine spontane Aktion bringt 100 bis 200 Leute auf die Straße. Das wäre überschaubar und zu händeln. Auf größere Aktionen in Berlin deutet im Moment nichts hin.

 

Morgenpost Online: Wir haben einen andauernden Abwärtstrend in der Kriminalitätsstatistik, aber offenbar ein wachsendes Unsicherheitsgefühl bei vielen Berlinern. Warum?

 

Körting: Neulich habe ich mal einen Wissenschaftler im Radio gehört, der sagte, wenn ich nachts allein in einen finsteren Wald gehe, fürchte ich mich am meisten, bin aber höchstwahrscheinlich objektiv dort am sichersten. Und wir haben jetzt eine Situation, in der Menschen mit Kriminalität anders umgehen müssen als früher. Jeder spektakuläre Kriminalfall weltweit wird Ihnen innerhalb von Stunden mit allen schrecklichen Details in unserer neuen Medienwelt präsentiert. Deshalb scheinen alle diese Straftaten viel näher zu sein als früher – aber nur in der Wahrnehmung, nicht objektiv. Dadurch werden die Menschen aber verunsichert. Die Meldung in den Medien kann man nicht verhindern, aber die Menschen müssen anders damit umgehen.

Morgenpost Online: Und zwar wie?

 

Körting: Sie müssen sich fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit für dieses oder jenes Risiko eigentlich wirklich ist. Dazu wollen wir ja mit unserer Kriminalitätsstatistik auch beitragen. Da sollen die Leute sehen: Es gibt viele Kellereinbrüche in Berlin, also sichert eure Häuser entsprechend. Aber es gibt bei uns nur ein recht geringes Risiko, Opfer eines Mordes zu werden.

 

Morgenpost Online: Aber diese Übergriffe, die wir etwa an den U-Bahnhöfen hatten, fallen durch ihre besondere Brutalität auf. Egal, wie gering das Risiko ist, Opfer zu werden – es ist doch klar, dass Menschen Angst bekommen?

Körting: Ich spreche bei der Kriminalitätsentwicklung ja auch von Licht und Schatten. Licht ist, dass viele Delikte in ihrer Häufigkeit runtergegangen sind. Nicht verbessert hat sich in den letzten zehn Jahren die Gewaltbereitschaft. Rohheitsdelikte sind nicht zurückgegangen. Da müssen wir weiter hart arbeiten, bei Prävention, Anti-Gewalt-Training und so weiter. Und ich appelliere seit Jahren an die Sensibilität, die Unterhaltungsindustrie; Filme, die in den 50er-Jahren ab 16 waren, würden jetzt wahrscheinlich ab sechs Jahren freigegeben werden. Die dargestellte Brutalität führt meiner Meinung nach zu einer Gewöhnung an Gewalt. Nehmen Sie etwa den Fall am U-Bahnhof in Lichtenberg – die Bilder haben in schrecklicher Weise an Filmszenen erinnert, so wie der eine Täter auf das Opfer zugesprungen ist. Das hat der nicht im Kindergarten gelernt.

 

 

Morgenpost Online: Wenn die Ansätze zur Bekämpfung dieser Rohheit bisher nicht gegriffen haben, warum wehren Sie sich so gegen den Vorschlag, mit mehr Polizeipräsenz Sicherheit zu schaffen?

 

Körting: Ich habe nichts gegen Polizeipräsenz, aber Polizeiarbeit hat sich verändert. Der Polizist geht heute ins Jugendheim, in die Schule, zum Quartiersmanagement. Bei vielen ist noch der Schutzmann im Kopf, der an der Ecke rumsteht und scheinbar Straftaten verhindert. Professionelle Präventionsarbeit findet aber vor Ort in den kritischen Bereichen statt und nicht auf der Hauptstraße an der Straßenecke. Polizei muss effektiv eingesetzt werden. Die bloße Präsenz auf der Straße führt nicht zu mehr Sicherheit. Das ist ein Irrglaube.

 

Morgenpost Online: Was würden Sie ganz konkret der älteren Dame in Reinickendorf raten, die abends doch ein bisschen Angst hat, noch mit der U-Bahn zur Tochter zu fahren?

 

Körting: Der älteren Dame würde ich etwas entgegen halten, was sie überhaupt nicht beruhigen wird: Statistik. Das Risiko, als ältere Person Opfer einer Straftat zu werden, ist wesentlich geringer als für Jüngere. Praktisch alle Rohheitsdelikte sind Auseinandersetzungen zwischen jungen Tätern und jungen Opfern. Das Risiko für ältere Damen ist statistisch ziemlich gering. Ich weiß, dass ihr das nicht unmittelbar gegen die Angst helfen wird. Aber sie muss sich bewusst machen, wann und wo Straftaten passieren und dann kann sie sich sicherer fühlen.