Verhaftungswelle soll ethnische Gewalt stoppen

Jugendliche Demonstranten im Moskauer ParkOstankino:"Patriotismus ist kein Faschismus!"
Erstveröffentlicht: 
19.12.2010

4000 Rechtsradikale und Migranten im ganzen Land festgenommen

 

Moskau - Mit Massenfestnahmen versucht Russland die Welle ethnischer Gewalt zu stoppen, die das Land nach dem Mord an einem russischen Fußballfan, angeblich durch einen Kaukasier, vor einer Woche überzieht. Seither wurden landesweit fast 4000 Rechtsradikale, Ultranationalisten und Binnenmigranten in Haft genommen, allein am vergangenen Wochenende etwa 2400. In Moskau wurden mindestens 1300 Menschen festgenommen, unter ihnen viele Schüler. Dabei wurden laut Polizei zahlreiche Messer, Baseballschläger und auch zwei Luftpistolen beschlagnahmt.

Am Samstagabend löste die Polizei eine Kundgebung von rund 400 großteils jugendlichen Nationalisten beim Fernsehturm im Moskauer Park Ostankino auf, nachdem einige Teilnehmer Feuerwerkskörper gezündet hatten.

Sowohl Ultranationalisten als auch Kaukasier riefen im Internet für Sonntag zu neuen Großkundgebungen in Moskau auf. Daraufhin kontrollierte die Polizei den ganzen Tag über Gruppen junger Männer.

 

 

 

 


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Mit einem Spaziergang im Park wollten die älteren Damen den Sonntag geruhsam ausklingen lassen. Das dichte Schneetreiben dämpft den Verkehrslärm der umliegenden sechsspurigen Moskauer Straßen. Doch dann ist es plötzlich vorbei mit der Ruhe im Park Ostankino. Durch den Wald kommt eine Horde von rund 400 vermummten Jugendlichen. "Russen vorwärts! Russland den Russen!, hallt es durch den Park. Auf den Plakaten steht: "Patriotismus ist kein Faschismus!" "Man bekommt Angst, wenn man diese junge Generation sieht" , sagt die 66-jährige Anina.

"Wir sind für die russische Nation und die Wiederherstellung des russischen Imperiums" , sagt Jekaterina ernst. Ihr Gesicht hat die 16-jährige Schülerin mit einem Schal in den Farben der alten Zarenflagge verhüllt. Mehr als dumpfe Parolen geben die überwiegend minderjährigen Teilnehmer der Aktion nicht von sich.

Alexej Scharpow, einer der wenigen Erwachsenen und Organisator der Demonstration, wird konkreter: "Wir sind für die Ausgliederung des Kaukasus aus der Russischen Föderation, weil diese Region nicht mit unserer Zivilisation vereinbar ist."

In Moskau, einem Schmelztiegel, in dem verschiedenste Völker aus dem einstigen Sowjetreich zusammenleben, brodelt es schon seit längerem. Die Wirtschaftskrise ist der Nährboden für fremdenfeindliche Ressentiments. Zwei blutige Kriege mit Tschetschenien sowie die Anschläge in der Moskauer Metro durch islamistische Selbstmordattentäterinnen führten dazu, dass die Kaukasier, die im Volksmund abfällig "Tschornije" , also Schwarze, genannt werden, zum primären Ziel der Anfeindungen wurden. Erst dieses Wochenende wurden sieben russische Jäger im Kaukasus vermutlich von Islamisten ermordet (siehe Seite 5).

Als Präsident und später als Premier propagierte Wladimir Putin einen "gesunden Patriotismus" und initiierte ein entsprechendes Erziehungsprogramm. Auch das bildet den Hintergrund der aktuellen Entwicklung.

Die Gewaltbereitschaft der russischen Rechtsextremen gegen Kaukasier und Einwanderer aus Zentralasien nimmt seit Jahren stetig zu. Laut Innenministerium ist die Zahl rechtsextremer Gewalttaten von 356 im Jahr 2007 auf 548 im Jahr 2009 gestiegen. Im ersten Halbjahr 2010 wurden 370 rechtsextreme Gewalttaten gemeldet, 39 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Heuer wurden bis November laut der Menschenrechtsorganisation Sowa 35 Menschen durch Neonazis getötet.

Die Zahl der rechtsextremen Gruppen in Russland wird auf rund 300 geschätzt. Sie bekommen immer mehr Zulauf aus der schlecht gebildeten Unterschicht. Russlandweit soll es rund 60.000 gewaltbereite Skinheads geben.

Skinhead-Gruppen wie die Weißen Wölfe greifen mit Vorliebe Passanten mit "nichtslawischem" Aussehen an. Mit ihren Handykameras filmten Jugendliche, wie sie elf Gastarbeiter mit Messern und Schraubenziehern töteten. Anfang 2009 wurden der Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa auf offener Straße von einem Rechtsradikalen erschossen.

 

(Verena Diethelm aus Moskau/DER STANDARD, Printausgabe, 20.12.2010)