Rechte Gewalt in Russland
Armut als Bodensatz für Neid und Hass
von Daniela Neubacher 16. November 2010, 13:48
Experten über die zunehmende Gewalt der Rechten und die fehlende Integrationspolitik der Regierung - Ein Erklärungsversuch für den nationalen Hass, der keine Grenzen kennt
Die russische Menschenrechtsorganisation SOVA zieht aus dem Jahr 2010 eine traurige Bilanz: 264 Menschen wurden seit Jahresanfang Opfer von rassistischen Angriffen - darunter 23 Tote und mindestens 241 Verletzte.
Gewalttaten steigen um fast 40 Prozent
Die Zahl der Gewalttaten stieg zwischen 2007 und 2009 von 356 auf 548 - Das teilte der Chef des Forschungsinstituts des russischen Innenministeriums, Sergej Guirko in einer Presseaussendung vom Oktober mit. Die steigende Tendenz würde sich auch dieses Jahr fortsetzen, so Guirko. Im ersten Halbjahr 2010 wurden ihm zufolge 370 Gewalttaten von Neonazis in Russland registriert - zum Vorjahr sei dies ein Anstieg von beinahe 40 Prozent.
Auch das Forschungsinstitut Political Capital schlägt Alarm: „Die russische Gesellschaft hat eine der höchsten Vorurteilsraten", heißt in einer aktuellen Studie, die - anlässlich der Anschläge einer tschetschenischen Rebellengruppe auf das U-Bahnsystem in Moskau im April dieses Jahres - in Auftrag gegeben wurde.
„Großes Fundament an Fremdenfeindlichkeit"
Russland-Experte, Hans-Henning Schröder, Forschungsgruppenleiter am "Deutschen Institut für internationale Politik und Sicherheit" in Berlin, ist nicht davon überzeugt, dass es zu einer allgemeinen Radikalisierung in der Bevölkerung kommt. „Ich erkenne keinen grundsätzlichen Wandel. Zwar existiert ein großes Fundament an Fremdenfeindlichkeit, doch die extremistischen Gruppen, die aktiv werden, sind relativ klein", sagt Schröder im Gespräch mit derStandard.at. Er schätzt den Anteil an gewaltbereiten Aktivisten auf etwa zwei bis drei Prozent.
„Es gibt eine relativ große Fremdenfeindlichkeit, die sich gegen Afrikaner und Asiaten und vor allem in den letzten Jahren sehr stark gegen Leute aus dem Kaukasus und aus Zentralasien richtet", erklärt der Wissenschaftler.
Das Problem sei vor allem in Ballungsräumen wie Moskau und St. Petersburg zu erkennen. „Gerade jetzt, wo es in Moskau und Umgebung einen hohen Arbeitsplatzbedarf gibt - beispielsweise im Baugewerbe - wird dieser meistens mit Einwanderern aus Zentralasien gedeckt, viele davon illegal", sagt Schröder. Infolge komme es zu massiven Konflikten.
Armut und latenter Antisemitismus
Abseits von Österreichs Skipisten, die seit Jahren reiche Touristen aus Russland anziehen, sieht die soziale Realität im flächengrößten Land der Welt ganz und gar nicht prächtig aus. „24,5 Millionen Menschen leben nach Angaben von Rosstat unterhalb der Armutsgrenze. Betroffen sind vor allem kinderreiche Familien.", schreibt die russische Internetzeitung „Russland-aktuell". So liegt das durchschnittliche Existenzminimum bei 5625 Rubel (etwa 135 Euro), berichtet das russische Amt für staatliche Statistik auf Ria Novosti.
„Wir hatten noch bis in das Jahr 2006 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung, die unter dem Existenzminimum lebten. Dieser massive soziale Gegensatz war Bodensatz für Neid und Hass", meint Schröder.
Der Blick der Betroffenen gehe oft zu den Oligarchen, die auch jüdische Wurzeln haben. "In Russland gibt es einen starken und latenten Antisemitismus" - Das hätten auch die Gräueltaten der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges nicht geändert, behauptet der Wissenschaftler. Hinzu komme, dass die Exekutive rassistische Taten in der Vergangenheit oft als Rowdytum behandelt und nicht entsprechend geahndet habe.
In jeder Gesellschaftsschicht
Unter den unzähligen rechtsradikalen Gruppen dominiert die Szene der Skinheads in Brutalität. Die Szene ist jung - in der Regel sind die Mitglieder unter 30. Sie kommen zusammen, um in den Wäldern Soldat zu spielen, doch dabei bleibt es nicht. Sie treffen sich am Abend: Kahlgeschorene Männer, die mit Schlagstöcken bewaffnet auf die Jagd gehen - nach Chinesen, Nordkaukasiern, oder sogenannten „Schwarzärschen", wie Menschen mit dunkler Hautfarbe in der Szene seit Jahrzehnten genannt werden.
Einer ihrer Opfer heißt Sek Thongsuwan: „Ich war mitten in der Nacht am Heimweg, als ich einen Schlag auf meinen Hinterkopf bekam. Es waren fünf Männer. Zwei haben mit geschlagen und ich bin zu Boden gefallen. Sie haben mich so lange geschlagen, bis ich ein Black Out hatte. Ich bin erst wieder im Krankenhaus aufgewacht", erzählt Sek sein Erlebnis.
An ihrer Kleidung hat der Thailänder erkannt, dass es Skinheads waren. „Drei der Männer hatten Glatzen", berichtet der Klavier-Student, der damals ein Auslandsemester in Rybinsk, einer Stadt nördlich von Moskau, absolviert hat. Der Übergriff fand in der Silvesternacht vor sieben Jahren statt, doch Sek ist immer noch wütend. Einen seiner Freunde hätte es noch schlimmer getroffen: „Sie haben ihn auf dem Heimweg, in der Nähe seines Studentenheims, ins Bein gestochen", erzählt Sek, der mittlerweile seit acht Jahren in Russland lebt.
Das Stereotyp vom schlecht gebildeten Rechtsradikalen, der aus einer zerrütteten, armen Familien stammt, wurde bereits mehrfach widerlegt. Beispielsweise hat ein 22-jähriger, russischer Student zwischen den Jahren 2007 und 2008 15 Menschen aus Fremdenhass ermordet. „Wenn man heute mit russischen Studenten spricht, dann hat man das ganze Spektrum der politischen Meinungen - vom Rechtsradikalen bis zum Liberalen.", sagt Schröder.
Brutaler Kampf gegen soziale "Parasiten"
150 aktiv gewalttätige, rechtsextreme Gruppierungen gibt es nach Regierungsangaben momentan in Russland. Die Zahl der Gruppen, deren Ideologie auf „ethnische, rassische oder religiöse Intoleranz" basiere, nehme zu, sagte der Chef des Forschungsinstitut, Sergej Guirko, nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax.
Mehr als 150 dieser Gruppierungen hätten Angriffe oder sogar Morde verübt. „Ich bin nicht sicher, ob die russische Staatsanwaltschaft da immer richtig zählt und nicht vielleicht etwas unterrechnet", meint Schröder zu den veröffentlichten Zahlen.
Im Internet entladet sich der ganze Hass und Frust in Foren, Videos und auf den Webseiten vieler Gruppen. So werden in einem Artikel auf der Homepage der Gruppe "Russischer Verband gegen Migration" (DPNI) Ausländer als "Parasiten" und "Kakerlaken bezeichnet". In einem nationalsozialistischen Russland würde man Ausländer nicht abschieben müssen, da sie von sich aus weglaufen würden, heißt es auf der Webseite weiter. Der Artikel schließt mit einer Warnung: Wenn die "Parasiten" nicht verstehen würden, dass ihr Haus nun einem neuen, sauberen Besitzer gehöre, helfe eine kleine, prophylaktische Desinfektion.
Regierung mit Scheuklappen
„Wenn man sich die Wahlergebnisse ansieht, dann sind es etwa 50 Prozent der Bevölkerung, die auf fremdenfeindliche Parolen ansprechen", sagt Russland-Experte Schröder. "Putin benutzte das um Stimmen zu holen." In seiner Rolle als Präsident hätte Wladimir Putin bewusst Stimmung gemacht und diese erfolgreich zur Wählermobilisierung benutzt.
Auch unter Medwedew hat sich die Einstellung der russischen Führung zur Integration nicht geändert. "Er hat keine explizite Integrationspolitik", sagt Schröder, der nicht erkennen kann, dass Medwedew dieses Thema überhaupt anspreche. Der enorme Zuzug von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen führe immer wieder zu Spannungen, die die Regierung nicht versuche zu mildern. Dem Experten zufolge sei ein Auffangen dieser Radikalisierung in naher Zukunft nicht in Sicht. "Die russische Regierung sieht diese Probleme nicht und hat auch keine Pläne, wie sie diese auffangen kann".
Eine mögliche Erklärung für die Scheuklappen der Regierung hat Andreas Umland, Russland-Experte für vergleichende Faschismusforschung: "Um die Macht des autoritären Staates zu demonstrieren, sind die Nazis als Schreckgespenst durchaus gewollt", wird Umland im Spiegel zitiert.
Putin hätte damals die potentielle Bedrohung der Ultrarechten dazu benützt, seine autoritäre Führungsweise zu legitimieren. Ganz nach dem Motto: Schaut her! Wenn ich nicht wäre, könnten diese rechtsradikalen Gruppen Russlands Führung übernehmen. (dan/derStandard.at, 16.11.2010)
Links
derFreitag: "Russland den Russen?"
Eurasisches Magazin: "Minderjährige russische Skinheads morden ohne Angst"
Deutsche Welle (Video): "Rechtsradikale machen mobil"