BERLIN/ESSEN (Eigener Bericht) - Warnungen vor einem weiteren
Erstarken des Antisemitismus in Deutschland begleiten den heutigen 72.
Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938. Wie die aktuelle Debatte um
Behauptungen des ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin
zeige, sei Antisemitismus "in der Mitte der Gesellschaft" wieder
"salonfähig geworden", warnt der Generalsekretär des Zentralrats der
Juden in Deutschland. Die Lage sei "bedrohlich". Neue Studien belegen
hohe Zustimmungswerte zu antisemitischen Ansichten; so vertritt mehr als
ein Sechstel der deutschen Bevölkerung die Meinung, "der Einfluss der
Juden" sei "zu groß". Zivilgesellschaftliche Initiativen vermelden
Dutzende antisemitische Übergriffe inklusive physischer Attacken auf
Juden und Brandanschläge auf Synagogen; erst vor wenigen Tagen warfen
Antisemiten einen Brandsatz auf die kurz zuvor eröffnete Synagoge in
Mainz. Für den heutigen 9. November kündigen Neonazis eine öffentliche
Kundgebung im nordrhein-westfälischen Essen an. Das Erstarken
antisemitischer Ressentiments erfolgt zu einem Zeitpunkt, da im Berliner
Establishment über ein mögliches Ende der EU sowie einen eventuellen
nationalen Alleingang Deutschlands im weltweiten Machtkampf diskutiert
wird.
Bedrohliche Lage
Zum heutigen 72. Jahrestag der Reichspogromnacht von
1938 warnt der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland,
Stephan Kramer, vor einem weiteren Erstarken des deutschen
Antisemitismus. Juden seien in der Bundesrepublik erneut "Objekt von
Hass und Verleumdungen", berichtet Kramer; Antisemitismus sei, wie die
aktuelle Debatte um Behauptungen des ehemaligen
Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin (SPD) zeige, "in der Mitte
der Gesellschaft" wieder "salonfähig geworden". In der deutschen
Neonaziszene werde heutzutage "der Hass auf alle, die als 'fremd'
bezeichnet werden, immer deutlicher artikuliert"; dies "enthemmt auch
rechtsextremistische Antisemiten, die sich in ihrem braunen
Gedankensumpf bestätigt sehen". Kramer fordert, es müsse ein "nationaler
Aktionsplan" gegen diese Tendenzen erarbeitet werden. Die Lage sei
"bedrohlich".[1]
"Zu viel Einfluss"
Aktuelle Untersuchungen belegen die Verbreitung
antisemitischer Ressentiments. So stimmen fast 15 Prozent der deutschen
Bevölkerung der Behauptung zu, "die Juden" arbeiteten "mehr als andere
Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen"; zudem
hätten sie "einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und
passen nicht so recht zu uns."[2] Über 17 Prozent sind allgemein der
Ansicht, "auch heute noch" sei "der Einfluss der Juden zu groß".
Insgesamt sogar 22 Prozent hielten es während der Weltwirtschaftskrise
im Frühjahr 2009 für "wahrscheinlich wahr", dass Juden "zu viel
Einfluss" auf den internationalen Finanzmärkten besäßen.[3] Zwar seien
nach wie vor 83 Prozent der deutschen Bevölkerung "beschämt, dass
Deutsche so viele Verbrechen an den Juden begangen haben". Zugleich
behaupteten jedoch 38,3 Prozent, "viele Juden" versuchten, "aus der
Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen"; gut 63
Prozent ärgerten sich, "dass den Deutschen auch heute noch die
Verbrechen an den Juden vorgehalten werden". Gut neun Prozent der
Bevölkerung weisen den Untersuchungen zufolge eine durchweg
antisemitische Orientierung auf - mit einem deutlichen Anstieg in
Westdeutschland.[4]
Das "Juden-Gen"
Dabei erfassen die Studien noch nicht mögliche
Verschiebungen, die sich durch die Massendebatte um Behauptungen des
ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin (SPD) ergeben
können. In seinem Buch "Deutschland schafft sich ab", das mittlerweile
in einer Auflage von über einer Million Exemplaren gedruckt worden ist,
will Sarrazin "bei Juden europäischer Provenienz" einen "um 15 Punkte
höheren IQ" festgestellt haben "als bei den anderen Mitgliedern
europäischer Völker". Ganz prinzipiell sei nicht auszuschließen, "dass
Eigenarten und kulturelle Besonderheiten einzelner Bevölkerungsgruppen
über Jahrtausende fortbestehen können", etwa "die kulturelle und
religiöse Identität der Juden". "Noch heute" werde "bei den Juden
Nordamerikas" ein IQ ermittelt, der deutlich über dem Durchschnitt
liege. Dabei sei, behauptet Sarrazin, Intelligenz je nach
Forschungsansatz zu einem Anteil von 40, 60 oder gar 80 Prozent
"erblich".[5]
Brandanschläge
Während Sarrazins Behauptungen ungebrochen
außergewöhnlich hohe Zustimmungswerte nicht nur allgemein in der
Bevölkerung, sondern auch in Teilen der deutschen Eliten finden,
verzeichnen zivilgesellschaftliche Initiativen eine zunehmende Zahl
antisemitischer Übergriffe. Eine "Chronik", die die Berliner Amadeu
Antonio Stiftung seit mehreren Jahren erstellt, ohne dafür
Vollständigkeit beanspruchen zu können, verzeichnet allein für das
laufende Jahr bislang rund 80 Übergriffe in der Bundesrepublik.[6] Die
Übergriffe reichen von der Störung von Holocaust-Gedenkfeiern über
antisemitische Schmierereien und die Schändung jüdischer Friedhöfe bis
zu gewalttätigen Attacken auf tatsächliche oder vermeintliche Juden. In
Worms sowie in Mainz (Bundesland Rheinland-Pfalz) verübten Antisemiten
jeweils einen Brandanschlag auf die örtliche Synagoge, in Dresden
(Sachsen) wurde eine jüdische Begräbnishalle angezündet. Die Mainzer
Synagoge war erst wenige Wochen zuvor eröffnet worden.
Nazi-Kundgebung
Für den heutigen 9. November kündigen Neonazis
schließlich eine öffentliche Kundgebung in Essen (Nordrhein-Westfalen)
an. Wie der nordrhein-westfälische Landesverband der NPD mitteilt, werde
er heute Abend "mit einer Mahnwache" der "Maueropfer" gedenken, "die
bei dem Versuch, aus der DDR zu fliehen, ihr Leben ließen". Bereits
mehrfach haben Organisationen der deutschen extremen Rechten in der
Vergangenheit den Fall der Mauer am 9. November 1989 zum Anlass für
Demonstrationen genommen. Das Datum besitzt in der Neonaziszene hohe
Bedeutung: Fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik am 9. November
1918 unternahm Adolf Hitler am 9. November 1923 in München seinen ersten
Versuch, die Weimarer Republik zu stürzen; exakt 15 Jahre später
starteten die Nazis die Novemberpogrome. Gegen die heutige Provokation
der NPD rufen Essener Initiativen zum Protest auf.
Aktuelle Debatten
Das aktuelle Erstarken antisemitischer Ressentiments
erfolgt zu einem Zeitpunkt, da im Berliner Establishment über ein
mögliches Ende der EU und über einen eventuellen nationalen Alleingang
Deutschlands im weltweiten Machtkampf diskutiert wird. Die Debatte geht
mit weitreichenden Überlegungen über eine innere Umgestaltung der
Bundesrepublik einschließlich rassistischer und diktatorischer Maßnahmen
einher - german-foreign-policy.com berichtete.[7]
[1] Zentralrat der Juden besorgt über Antisemitismus in Deutschland;
www.ikg-wien.at
[2] Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess, Elmar Brähler: Die
Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010,
Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010
[3] Andreas Zick, Beate Küpper: Antisemitismus in Deutschland - Resistente Ressentiments;
www.migration-boell.de Juni 2009
[4] Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess, Elmar Brähler: Die
Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010,
Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010
[5] Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010 (Deutsche Verlags-Anstalt)
[6] Chronik antisemitischer Vorfälle 2010;
www.amadeu-antonio-stiftung.de
[7] s. dazu
Die neue deutsche Frage (I),
Die neue deutsche Frage (II) und
Die neue deutsche Frage (III)