Wieder salonfähig

Erstveröffentlicht: 
09.11.2010

BERLIN/ESSEN (Eigener Bericht) - Warnungen vor einem weiteren Erstarken des Antisemitismus in Deutschland begleiten den heutigen 72. Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938. Wie die aktuelle Debatte um Behauptungen des ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin zeige, sei Antisemitismus "in der Mitte der Gesellschaft" wieder "salonfähig geworden", warnt der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Lage sei "bedrohlich". Neue Studien belegen hohe Zustimmungswerte zu antisemitischen Ansichten; so vertritt mehr als ein Sechstel der deutschen Bevölkerung die Meinung, "der Einfluss der Juden" sei "zu groß". Zivilgesellschaftliche Initiativen vermelden Dutzende antisemitische Übergriffe inklusive physischer Attacken auf Juden und Brandanschläge auf Synagogen; erst vor wenigen Tagen warfen Antisemiten einen Brandsatz auf die kurz zuvor eröffnete Synagoge in Mainz. Für den heutigen 9. November kündigen Neonazis eine öffentliche Kundgebung im nordrhein-westfälischen Essen an. Das Erstarken antisemitischer Ressentiments erfolgt zu einem Zeitpunkt, da im Berliner Establishment über ein mögliches Ende der EU sowie einen eventuellen nationalen Alleingang Deutschlands im weltweiten Machtkampf diskutiert wird.

 

Bedrohliche Lage
Zum heutigen 72. Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938 warnt der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, vor einem weiteren Erstarken des deutschen Antisemitismus. Juden seien in der Bundesrepublik erneut "Objekt von Hass und Verleumdungen", berichtet Kramer; Antisemitismus sei, wie die aktuelle Debatte um Behauptungen des ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin (SPD) zeige, "in der Mitte der Gesellschaft" wieder "salonfähig geworden". In der deutschen Neonaziszene werde heutzutage "der Hass auf alle, die als 'fremd' bezeichnet werden, immer deutlicher artikuliert"; dies "enthemmt auch rechtsextremistische Antisemiten, die sich in ihrem braunen Gedankensumpf bestätigt sehen". Kramer fordert, es müsse ein "nationaler Aktionsplan" gegen diese Tendenzen erarbeitet werden. Die Lage sei "bedrohlich".[1]

"Zu viel Einfluss"
Aktuelle Untersuchungen belegen die Verbreitung antisemitischer Ressentiments. So stimmen fast 15 Prozent der deutschen Bevölkerung der Behauptung zu, "die Juden" arbeiteten "mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen"; zudem hätten sie "einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns."[2] Über 17 Prozent sind allgemein der Ansicht, "auch heute noch" sei "der Einfluss der Juden zu groß". Insgesamt sogar 22 Prozent hielten es während der Weltwirtschaftskrise im Frühjahr 2009 für "wahrscheinlich wahr", dass Juden "zu viel Einfluss" auf den internationalen Finanzmärkten besäßen.[3] Zwar seien nach wie vor 83 Prozent der deutschen Bevölkerung "beschämt, dass Deutsche so viele Verbrechen an den Juden begangen haben". Zugleich behaupteten jedoch 38,3 Prozent, "viele Juden" versuchten, "aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen"; gut 63 Prozent ärgerten sich, "dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden". Gut neun Prozent der Bevölkerung weisen den Untersuchungen zufolge eine durchweg antisemitische Orientierung auf - mit einem deutlichen Anstieg in Westdeutschland.[4]

Das "Juden-Gen"
Dabei erfassen die Studien noch nicht mögliche Verschiebungen, die sich durch die Massendebatte um Behauptungen des ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin (SPD) ergeben können. In seinem Buch "Deutschland schafft sich ab", das mittlerweile in einer Auflage von über einer Million Exemplaren gedruckt worden ist, will Sarrazin "bei Juden europäischer Provenienz" einen "um 15 Punkte höheren IQ" festgestellt haben "als bei den anderen Mitgliedern europäischer Völker". Ganz prinzipiell sei nicht auszuschließen, "dass Eigenarten und kulturelle Besonderheiten einzelner Bevölkerungsgruppen über Jahrtausende fortbestehen können", etwa "die kulturelle und religiöse Identität der Juden". "Noch heute" werde "bei den Juden Nordamerikas" ein IQ ermittelt, der deutlich über dem Durchschnitt liege. Dabei sei, behauptet Sarrazin, Intelligenz je nach Forschungsansatz zu einem Anteil von 40, 60 oder gar 80 Prozent "erblich".[5]

Brandanschläge
Während Sarrazins Behauptungen ungebrochen außergewöhnlich hohe Zustimmungswerte nicht nur allgemein in der Bevölkerung, sondern auch in Teilen der deutschen Eliten finden, verzeichnen zivilgesellschaftliche Initiativen eine zunehmende Zahl antisemitischer Übergriffe. Eine "Chronik", die die Berliner Amadeu Antonio Stiftung seit mehreren Jahren erstellt, ohne dafür Vollständigkeit beanspruchen zu können, verzeichnet allein für das laufende Jahr bislang rund 80 Übergriffe in der Bundesrepublik.[6] Die Übergriffe reichen von der Störung von Holocaust-Gedenkfeiern über antisemitische Schmierereien und die Schändung jüdischer Friedhöfe bis zu gewalttätigen Attacken auf tatsächliche oder vermeintliche Juden. In Worms sowie in Mainz (Bundesland Rheinland-Pfalz) verübten Antisemiten jeweils einen Brandanschlag auf die örtliche Synagoge, in Dresden (Sachsen) wurde eine jüdische Begräbnishalle angezündet. Die Mainzer Synagoge war erst wenige Wochen zuvor eröffnet worden.

Nazi-Kundgebung
Für den heutigen 9. November kündigen Neonazis schließlich eine öffentliche Kundgebung in Essen (Nordrhein-Westfalen) an. Wie der nordrhein-westfälische Landesverband der NPD mitteilt, werde er heute Abend "mit einer Mahnwache" der "Maueropfer" gedenken, "die bei dem Versuch, aus der DDR zu fliehen, ihr Leben ließen". Bereits mehrfach haben Organisationen der deutschen extremen Rechten in der Vergangenheit den Fall der Mauer am 9. November 1989 zum Anlass für Demonstrationen genommen. Das Datum besitzt in der Neonaziszene hohe Bedeutung: Fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 unternahm Adolf Hitler am 9. November 1923 in München seinen ersten Versuch, die Weimarer Republik zu stürzen; exakt 15 Jahre später starteten die Nazis die Novemberpogrome. Gegen die heutige Provokation der NPD rufen Essener Initiativen zum Protest auf.

Aktuelle Debatten
Das aktuelle Erstarken antisemitischer Ressentiments erfolgt zu einem Zeitpunkt, da im Berliner Establishment über ein mögliches Ende der EU und über einen eventuellen nationalen Alleingang Deutschlands im weltweiten Machtkampf diskutiert wird. Die Debatte geht mit weitreichenden Überlegungen über eine innere Umgestaltung der Bundesrepublik einschließlich rassistischer und diktatorischer Maßnahmen einher - german-foreign-policy.com berichtete.[7]



[1] Zentralrat der Juden besorgt über Antisemitismus in Deutschland; www.ikg-wien.at
[2] Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess, Elmar Brähler: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010
[3] Andreas Zick, Beate Küpper: Antisemitismus in Deutschland - Resistente Ressentiments; www.migration-boell.de Juni 2009
[4] Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess, Elmar Brähler: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010
[5] Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010 (Deutsche Verlags-Anstalt)
[6] Chronik antisemitischer Vorfälle 2010; www.amadeu-antonio-stiftung.de
[7] s. dazu Die neue deutsche Frage (I), Die neue deutsche Frage (II) und Die neue deutsche Frage (III)