Junge Grüne, Gewerkschafter und Falken wollten mit einem Bus zur G-20-Demo. Dann gerieten sie an die Polizei – und wurden ohne ersichtlichen Grund in Gewahrsam genommen. Ein Fall von Beamtenwillkür?
Vierundvierzig junge Leute aus dem Ruhrgebiet wollten nach Hamburg reisen, um an der größten Demonstration gegen den G-20-Gipfel teilzunehmen. Sie gehören zur Grünen Jugend, zur Gewerkschaftsjugend, zur Alevitischen Jugend und zu den Falken, der SPD-nahen Jugendorganisation. Sigmar Gabriel, beispielsweise, ist stolz, ein Falke gewesen zu sein. Die jungen Leute, darunter einige Minderjährige, wollten friedlich demonstrieren. Dafür hatten sie auf einen freien Samstag verzichtet, andere nahmen ihre Klausurvorbereitungen mit in den Bus. Frühmorgens hin, spätnachmittags zurück. Es ging um demokratisches Engagement, das ist ihnen wichtig. Doch was sie erlebten, war für die jungen Leute eine bittere Lektion.
Den Bus hatten die Falken NRW von einem Recklinghäuser Fuhrunternehmen gemietet. Gegen drei Uhr morgens ging es los. Ihre Ankunft war angemeldet, bei den Organisatoren der Demo, der Polizei und beim Zentralen Busbahnhof in Hamburg, wie bei Großveranstaltungen üblich. Zu Beginn der Fahrt wies der Organisator Paul Erzkamp von den Falken die Mitreisenden kurz ein. Dabei habe er, so Erzkamp, auch eine eventuelle Polizeikontrolle angesprochen und dass dies kein Problem wäre. Sie sollten dabei bitte keine Handyfotos machen. Der in politischer Jugendarbeit Erfahrene kennt solche Kontrollen und hält sie für verhältnismäßig. Natürlich hatten die Reisenden von den schweren Krawallen der vergangenen Nacht gehört.
Deshalb waren die jungen Aktivisten nicht beunruhigt, als ihr weißer Bus hinter Bremen plötzlich von mehreren Polizeifahrzeugen eskortiert wurde. Vor der Raststätte Hamburg-Stillhorn wurde der Bus gegen halb acht per Leuchtzeichen zum Abbiegen aufgefordert. Wie Erzkamp und andere berichten, standen auf dem Parkplatz schon etwa dreißig Polizisten, die – und das wunderte sie – bei ihrer Ankunft die Helme aufsetzten. Der Busfahrer öffnete die Tür und nahm Kontakt zu den Beamten auf. Einer der Polizisten betrat den Bus und stellte sich als der Einsatzleiter Herr Knoblauch vor. Er fragte, wer im Bus sei und kündigte eine Durchsuchung und Personalienüberprüfung an.
Man müsse aber noch warten, niemand dürfe den Bus verlassen. Kurze Zeit später fuhren weitere Mannschaftswagen der Polizei vor. Ihnen entstiegen voll ausgerüstete, bewaffnete und vermummte Polizisten. An ihren dunklen Monturen trugen sie die Abzeichen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit BFE. Es waren robuste Polizeikräfte, geübt in schweren Auseinandersetzungen mit Hooligans oder dem schwarzen Block. Hoheitsabzeichen hätten gefehlt, sagen die Zeugen des Vorfalls. Jetzt wurde vielen mulmig. Sie waren eine gemischte Jugendgruppe, etwa ein Dutzend Mädchen und Frauen, der Rest Jungen und junge Männer. Alle bunt gekleidet und schläfrig von der Nachtfahrt. Keiner hatte einen gefährlichen Gegenstand dabei, gegen niemanden liegt nach aktuellem Stand der Dinge etwas vor. Der Polizeiführer forderte sie auf, „jetzt keine hastigen Bewegungen mehr zu machen“ oder „sich nicht ruckartig zu bewegen“. Das schüchterte sie ein. Der zwanzig Jahre alte Bochumer Max Lucks, Sprecher der Grünen Jugend in NRW, sah, wie ihn ein behelmter Polizist an der linken Seite des Busses anblickte und dabei seine geballte Faust in die offene andere Hand schlug. Er empfand diese Situation als bedrohlich. Sein Nachbar, Fredo, fragte, ob sie Plätze tauschen sollten. Ja.
Ganze Gruppe plötzlich in Gewahrsam
Insgesamt acht bis zehn der BFE-Polizisten bestiegen nun den Bus, postierten sich in den Gängen und sprachen kein Wort. Auf Fragen, was nun komme, gab es keine Antworten. Polizist Knoblauch wies den Fahrer an, loszufahren. Der Bus werde nicht hier kontrolliert, sondern zu einem „gesicherten Objekt“ gebracht. Die ganze Gruppe war nunmehr in Gewahrsam. Gründe wurden nicht genannt. Aus dem fahrenden Bus heraus gelang es einigen, sich per SMS bei ihren Dachorganisationen zu melden und mitzuteilen, dass etwas schieflaufe. Erzkamp hatte inzwischen ein „sehr ungutes Bauchgefühl“. Besorgte Anrufe und Telefonate erreichten um diese Zeit sowohl die Bundesvorsitzende der Falken als auch den Grünen-Fraktionsvorsitzenden in der Hamburger Bürgerschaft und die örtliche DGB-Vorsitzende Katja Karger. Die jungen Leute im Bus waren gut vernetzt. Dieses Netz von persönlichen Verbindungen erleichterte ihnen Stunden später die Freilassung.
Kurz nach neun rief die DGB-Chefin Karger Innensenator Andy Grote persönlich an und sagte sinngemäß: Die Polizei hat Jugendliche in Gewahrsam genommen. Das ist unser Bus, klär das! – Der Sozialdemokrat Grote versprach, sich darum zu kümmern. Auch beim Grünen-Koalitionspartner hatte der Vorfall rasch die Spitze erreicht: Justizsenator Till Steffen, selbst vor Jahrzehnten Gründungsmitglied der Grünen Jugend, bekam eine SMS vom Fraktionsvorsitzenden und übermittelte sie dem Leiter seines Präsidialstabes. Der wiederum rief bei der Gefangenensammelstelle für die G-20-Störer an. Was geht da vor?
Hamburger Polizei verweigert Auskunft
Ja, was ging vor? Die Hamburger Polizei verweigert auch drei Wochen nach dem Geschehen die Auskunft zu den Ereignissen und verweist auf ein laufendes Verfahren der Internen Ermittlung. Die jungen Leute schildern Folgendes: Bei der Ankunft des Busses in der Gefangenenanlage in Hamburg-Harburg waren sie überrascht: Wieso kamen sie hier hinter hohen Stacheldraht? Was hatten sie getan?, fragten sie sich. Sie wurden dann von den Bereitschaftspolizisten aus dem Bus geführt und mussten ihre Sachen abgeben. Für einige hieß es: Hände auf den Rücken. Anderen wurden Handschellen oder Fesseln mit Kabelbindern angedroht, Telefonanrufe seien verboten gewesen. Niemand habe ihnen die Fragen nach dem Warum beantwortet. Paul Erzkamp, der Ansprechpartner auch für die verunsicherten Jüngeren, wurde in einen Wachcontainer gebracht. Dort musste er Telefon und Uhr abgeben, dann noch die Schuhe. Alles wurde in eine Plastikbox gesteckt. Er wurde abgetastet. Die Polizisten von der Gefangenenstelle fragten ihre BFE-Kollegen nach einem schriftlichen Einsatzbericht. Nee, haben wir nicht. Andere übernahmen die weiteren Kontrollen. Ein Polizist sagte Erzkamp, sie würden als „Gefährder“ verdächtigt. Der wollte einen Anwalt anrufen. Das wurde verweigert. Er sei ja noch gar nicht in Gewahrsam.
Nach und nach wurden weitere Jugendliche und Heranwachsende aus dem Bus abgeführt, meistens im festen Griff von jeweils zwei Polizisten. Mehrere mussten sich zur Leibesvisitation ausziehen. Einige splitternackt. Ob darunter Minderjährige waren, ist noch ungeklärt. Was suchte die Hamburger Polizei in ihren Körperöffnungen? Lucks schrieb am selben Abend in einem Gedächtnisprotokoll, dass er gefragt habe, was ihm vorgeworfen werde. Lucks hat Vertrauen in die Demokratie. Der Rechtsstaat ist quasi sein Zuhause: Sein Vater ist Richter, seine Mutter hat eine Anwaltskanzlei. Die Polizisten, vor denen er sich ausziehen sollte, entgegneten: „Eine Straftat.“ – „Aber welche?“, fragte er. Das könne man „noch nicht sagen“. Der junge Mann berichtet, dass in diesem Augenblick Panik in ihm aufgestiegen sei. Vor einem Jahr habe er an einer Christopher-Street-Day-Demonstration in Istanbul teilgenommen, gemeinsam mit einer grünen Europaabgeordneten. Dabei wurde er plötzlich von türkischen Polizisten weggerissen und auf eine Polizeiwache verschleppt. Er war sich sicher: So etwas würde in Deutschland niemals passieren. Diese Gewissheit, sagt er, brach nun in sich zusammen.
„Sie können ja später klagen“
Er musste sich ausziehen. Die Kabine, in der das geschah, hatte einen Vorhang. Er soll die Privatsphäre von Verdächtigen schützen. Auch wegen solcher Vorkehrungen hatten Menschenrechtsorganisationen und Anti-Folter-Komitees die Gefangenensammelstelle gebilligt. Aber jetzt durfte er den Vorhang beim Ausziehen nicht schließen. Lucks notierte am Abend: „Der mit der Glatze tastet mich an den Boxershorts ab. Berührt meinen Penis. Darf mich wieder anziehen. Die machen ein Foto von mir.“ Immerhin darf er seine Unterhose anbehalten. Sein Sitznachbar habe sich nackt ausziehen müssen.
Erzkamp landete unterdessen in einer Gefangenenzelle. Seine Brille wurde ihm weggenommen, obwohl er bei -4,5 Dioptrien ohne sie kaum etwas sieht. Er verlangte abermals, telefonieren zu dürfen. Ein Anruf bei einem Anwalt steht jedermann zu, so ist das Gesetz. Ein Polizist habe das abgelehnt. Nach Erzkamps Erinnerung sagte er zu ihm: „Sie können ja später klagen.“
Als sich hinter ihm die Tür schloss, war auch er der Panik nahe. Dann wurden drei Jüngere aus der Reisegruppe in seine Zelle gebracht. Erzkamp fühlte sich verantwortlich, deren Angst zu lindern. Sie plauderten über Fernsehserien und Möglichkeiten, den winzigen, kahlen Raum zu verschönern. Draußen bat der Landesvorsitzende der Grünen Jugend NRW darum, auf die Toilette zu dürfen. Zwei Beamte begleiteten ihn. Die Klotüre musste offen bleiben. Die Beamten sahen ihm zu. Aber er bemerkte, dass sich etwas im Ton veränderte. Einer der Bewacher sagte, dass er womöglich der Falsche sei. Das würde gerade geklärt. Auch von anderen Polizisten wird berichtet, dass sie Zweifel äußerten, dass es hier gerade mit rechten Dingen zugehe.
Junge Generation der Hamburger Regierungsparteien gedemütigt
Dann kam ein Funkspruch: Man solle sie gehen lassen. Lucks notierte: „Der mit der Glatze fragt mich, ob ich das gehört habe. Lächelt und gibt mir die Kiste mit meinen Sachen. Sagt, ich kann jetzt gehen.“ – Vermutlich zeigten um diese Zeit, es war halb zwölf, auch die Anrufe von ganz oben Wirkung – aus dem Büro des Innensenators und dem Präsidialstab des Justizsenators. Nach und nach wurden die Gefangenen gegen Mittag aus den Zellen gelassen. Im Bus erwarteten sie einige, die nicht kontrolliert oder durchsucht worden waren. Offenbar wurde die Maßnahme mittendrin abgebrochen. Nähere Angaben macht die Hamburger Polizei nicht. Die Sache ist ihr unangenehm. Immerhin wurde da quasi die junge Generation der Hamburger Regierungsparteien gedemütigt und in Sammelzellen eingeliefert. Grote sprach vorige Woche von einer Kennzeichen-Verwechslung, die zu dem Fehlgriff geführt habe. Bei Twitter verbreitete er einen Tweet der Polizei Hamburg zu eventuellen Übergriffen: „Uns ist die Aufklärung aller Vorwürfe ein wichtiges Anliegen.“
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer rief vergangenen Freitag persönlich bei den Falken NRW an. Er bat um Entschuldigung. Am selben Tag ersuchte Meyer das Dezernat Interne Ermittlung um eine Untersuchung des Vorfalls. Nach erster Prüfung hat das Dezernat nun ein Ermittlungsverfahren offiziell eingeleitet. Ziel des Gesprächs mit den Falken sei auch gewesen, so der Polizeipräsident auf Anfrage, „Gesprächsbereitschaft für einen Dialog mit den Betroffenen zu signalisieren“.
Seine Entschuldigung freute die Falken. Aber eine mündliche Abbitte, das genügt den jungen Leuten nicht. Sie wollen, das die Sache juristisch aufgearbeitet wird und Konsequenzen hat. Erzkamp reichte vergangene Woche Klage beim Verwaltungsgericht Hamburg ein. Es soll amtlich feststellen, dass die Polizei rechtswidrig gehandelt habe. Der Sprecher der Hamburger Polizei, Timo Zill, sagt, „das Schöne an unserem Rechtsstaat“ sei, dass man die Vorwürfe vor Gericht klären kann.