Warum Bouffiers Präzision gelitten hat

Erstveröffentlicht: 
27.06.2017

Der hessische Ministerpräsident bestritt vor dem NSU-Untersuchungsausschuss erneut, die Abgeordneten belogen zu haben. Er räumte aber manche Ungenauigkeit ein.

 

Volker Bouffier war empört. „Ich gebe Ihnen doch nicht mein Handy!“, fuhr er den Saaldiener des hessischen Landtags an. Doch so sind die Regeln, die seine eigene schwarz-grüne Koalition für geheime Sitzungen aufgestellt hat. Die gelten auch im NSU-Untersuchungsausschuss. Bouffier musste sein Telefon abgeben, doch er ließ es lieber von seinem Sicherheitsmann verwahren als es wie alle Abgeordneten in die Kiste des Saaldieners zu werfen.

 

Mehr als zehn Stunden lang war der hessische Ministerpräsident und frühere Innenminister am Montag von den Abgeordneten befragt worden. Sie wollen herausfinden, wie die hessischen Behörden nach den Morden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) ermittelten – und warum die Regierung das Parlament erst weit nach dem NSU-Mord in Kassel im April 2006 informierte.

 

Bouffier räumte an einigen Punkten ein, dass Dinge hätten besser laufen können. So hätte er nach eigenen Angaben der Staatsanwaltschaft erlaubt, den rechtsextremen V-Mann Benjamin Gärtner zu vernehmen – wenn er gewusst hätte, dass dieser Zeuge nicht zu den islamistischen V-Leuten gehörte, die unbedingt vor Offenlegung geschützt werden sollten. Gärtner und die Islamisten wurden vom Verfassungsschützer Andreas Temme geführt, der in Kassel am Tatort war, nach eigenen Angaben für einen privaten Chat.

 

Bouffier räumte auch ein, dass die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Temme angemessen gewesen wäre. „Man hätte das zum Beispiel durch einen aus Südhessen machen können oder aus einem anderen Landesamt. Das kann man sich vorstellen“, schlug er vor.  Trotz grober Verstöße war ein Disziplinarverfahren gegen Temme nur auf dem Papier geführt worden.  

 

Interpretationsfähig


Schließlich gestand Bouffier nach langer Auseinandersetzung mit seinen eigenen Aussagen im Landtags-Innenausschusses vom 17. Juli 2006: „Sie sind in der Tat hoch interpretationsfähig. Ich hatte gehofft, es ist klar, was ich gesagt habe.“

 

Damals hatte Bouffier die Abgeordneten erstmals über den Kasseler Mord und Temmes Anwesenheit informiert – erst nachdem die Bild-Zeitung und Spiegel online im Juli 2006 berichtet hatten, dass ein hessischer Verfassungsschützer am Tatort gewesen war. Bouffier war hingegen schon am 21. April 2006 von Landespolizeipräsident Norbert Nedela informiert worden, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme kurz vorher festgenommen worden sei. Doch die Sitzungen des Innenausschusses und der geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollkommission Verfassungsschutz (PKV) im Mai verstrichen, ohne dass die Regierung Informationen herausrückte.

 

Am 17. Juli 2006 nahm Bouffier vor den Abgeordneten Stellung, die empört waren, erst aus der Zeitung von den Vorgängen zu erfahren. Der damalige Innenminister erwähnte mit keinem Wort, dass er schon seit April Bescheid wusste. Stattdessen sagte er den Satz: „Dass Abgeordnete etwas aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Minister, ist betrüblich – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt.“ Und er betonte: „Ich kann doch nur über etwas berichten, von dem ich überhaupt weiß.“

 

Hat Bouffier die Abgeordneten also belogen? So hat die Frankfurter Rundschau diese Aussagen in einem Kommentar bewertet, worauf der Ministerpräsident im Februar 2015 fuchsteufelswild reagierte. Man konnte das im Untersuchungsausschuss am Montag noch einmal erleben, denn dort wurde das Video von Bouffiers Pressekonferenz eingespielt, in deren Verlauf  er dem FR-Korrespondenten vorwarf: „Sie haben schlicht Falsches in Ihrem Kommentar geschrieben.“

 

Damals wie heute behauptet Bouffier, seine Angabe, er habe „etwas aus der Zeitung erfahren“, habe sich nicht auf die Festnahme Temmes bezogen, sondern auf Einzelheiten – etwa dass bei Temme ein Buch über Serienmörder gefunden worden oder dass ermittelt worden war, dass Temme zumindest für einen der neun Morde mit der immer gleichen Ceska-Waffe ein Alibi hatte. „Wenn’s missverständlich ist, dann ist das bedauerlich“, kommentierte der Ministerpräsident sein damaliges Zitat.

 

Es wäre aber abwegig anzunehmen, dass er erst aus der Zeitung von der Verhaftung Temmes erfahren habe. „Das wäre ja völlig irre“, sagte Bouffier. „Es ist doch klar, dass bei einer solchen Maßnahme der Minister informiert wird.“

 

Warum aber sagte Bouffier dann in der Sitzung nicht, dass er seit dem 21. April Bescheid wusste, ohne das Parlament zu informieren? „Ich weiß es heute nicht mehr“, erwiderte er auf die Fragen des Linken-Obmanns Hermann Schaus. Es könne „schon sein in freier Rede, dass dann die Präzision ein bisschen darunter leidet“.

 

SPD und Linke halten es weiterhin für eine Missachtung des Parlaments, dass Bouffier den Abgeordneten damals nicht gleich reinen Wein eingeschenkt habe. Er berief sich darauf, dass durch öffentliche Informationen laufende Ermittlungen hätten behindert werden können. Warum aber informierte der damalige Innenminister nicht wenigstens die geheim tagende PKV, bohrte der Grünen-Abgeordnete Jürgen Frömmrich nach? Bouffier antwortete vage – und kam im Laufe der Befragung selbst zu dem Schluss, er hätte den Generalstaatsanwalt in die Parlamentsgremien mitnehmen sollen, damit dieser entscheiden könne, wie weit Informationen gegeben werden könnten.

 

Den Verdacht, er habe die Anwesenheit des Verfassungsschützers Temme am Tatort vertuschen wollen, wies Bouffier energisch zurück. „Ich wüsste gar nicht, was zu vertuschen gewesen wäre“, gab er zu Protokoll. „Spannend wäre es gewesen, wenn der dienstlich da gewesen wäre“, räumte Bouffier ein. Darauf gebe es aber keine Hinweise. 

 

Heute deutlich zurückhaltender


In jener Innenausschuss-Sitzung vom Juli 2006 hatte Bouffier noch den Pressebericht über  Temmes Alibi für eine Tat zitiert und gefolgert: „Er kann es nicht gewesen sein. Daraus kann man auch ableiten, dass der Mann unschuldig ist.“ Der Linken-Abgeordnete Schaus hielt Bouffier daraufhin vor, die Folgerung sei falsch, da ein Alibi für einen Mord nicht bedeute, dass jemand die anderen Taten nicht begangen haben könne.

 

Heute gibt sich Bouffier in dieser Frage deutlich zurückhaltender. Bei seiner Pressekonferenz von 2015, die per Video eingespielt wurde, antwortete er auf die Frage, ob Temme dienstlich im Internetcafé gewesen sei: „Das weiß ich nicht.“ Das bekräftigte der Ministerpräsident auch bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss. „Ich kann es aus eigener Kenntnis nicht sagen“, formulierte er jetzt.

 

Der Untersuchungsausschuss arbeitet bereits seit drei Jahren, verfügt aber noch immer nicht über alle Akten. Noch kurz vor der Montags-Sitzung waren weitere Akten geliefert worden, inzwischen sind es fast 2000 Aktenordner.

 

Nicht nur die Landtagsopposition beklagt das Tempo der Aktenlieferung, das langsamer sei als in jedem anderen Bundesland. Auch der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte – sogar mit Unterstützung von Bouffiers CDU – die „lückenhafte Aktenvorlage“ aus Hessen festgestellt und darin „eine erhebliche Beeinträchtigung“ der Aufklärungsarbeit gesehen.

 

Bouffier sieht keinen Grund für solche Klagen. „Das wurde  sorgfältig nach meiner Kenntnis gemacht“, sagte. Die Zuständigen hätten ihm das „in verschiedenen Runden“ berichtet, „nicht zuletzt unter dem Aspekt, die halbe Behörde ist lahmgelegt“, weil man „Blatt für Blatt“ umdrehen müsse.