Gedenkstätte für Polizisten : Der schwere Weg zurück ins Leben

Nicole Steiner bei der Rede
Erstveröffentlicht: 
15.06.2010

Selm-Bork. In der Landespolizeischule Selm-Bork wird künftig eine „Wächter”-Statue an Polizisten erinnern, die in Nordrhein-Westfalen im Dienst ums Leben gekommen sind. Bereits gestern, am Tag der Gedenkfeier für die drei vor zehn Jahren von dem Rechtsextremisten Michael Berger erschossenen Polizisten zeigte sich, dass diese noch unvollendete Gedenkstätte mehr vermag, als nur beim Erinnern helfen: Sie kann Menschen wieder ins Leben zurückholen.

 

Es ist kurz nach halb Elf, fast auf die Minute genau zehn Jahre, nachdem in Waltrop die tödlichen Schüsse auf die beiden Polizisten Ivonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz fielen, als in der Aula der Landespolizeischule Selm-Bork eine kleine, dunkelhaarige Frau ans Rednerpult geht. Nicole Steiner erscheint in Zivil, im Gegensatz zu ihren zahlreichen uniformierten Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Land, und vielleicht hat ihr Äußeres etwas mit ihrer Botschaft an diesem Tag zu tun. Sie atmet scharf durch und nach den ersten Worten der Polizeioberkommissarin wird allen im Saal klar, dass an jenem 14. Juni 2000, als in Dortmund und Waltrop drei Polizisten getötet wurden, noch etwas anderes gestorben war: Der Glaube einer damals 25-jährigen Polizistin an das Glück und an das Leben. Zehn Jahre hat Nicole Steiner gebraucht, um diese Worte gestern herauszubringen, zehn Jahre, „um Ja sagen zu können zum Leben und Ja zum Erlebten.”

Drei Beamte starben

 

Nicole Steiner, die damals Hartmann hieß, saß neben ihrem Kollegen Thomas Goretzky im Streifenwagen, als Michael Berger unerwartet, wie ein Blitz aus blauem Himmel, das Feuer eröffnete. Goretzky, Vater von zwei Kindern, wurde von vier Kugeln in den Kopf getroffen. Einer der Schüsse Bergers drang durch das Gesäß schräg in das Bein Steiners. Trotz ihrer schweren Verletzung konnte sie die Leitstelle alarmieren. Verzweifelt, aber erfolglos rangen die Notärzte in Dortmund um das Leben von Thomas Goretzky. Wenig später erschoss Berger in Waltrop Ivonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz.

Nicole Steiner überlebte diesen schwarzen Tag für die Polizei - doch um welchen Preis! „Ich sollte doch glücklich sein, ich hatte ja überlebt”, sagt sie. Nicole Steiner war aber nicht glücklich, weil sie es sich seit diesem Tag nicht mehr erlaubt hat. Was in der zierlichen Beamtin vorgegangen sein muss, kann man nur unzureichend aus ihren knappen Worten erahnen. Selbstvorwürfe, innerliche Zerrissenheit, das Zurückgeworfenwerden in die grausamen Minuten, als ihr verwundeter Kollege neben ihr auf dem Fahrersitz mit dem Tode ringt und verliert. „Auch von mir ist ein Teil gestorben, meine Freude, meine Lebendigkeit, meine Leichtigkeit, mein Glücklichsein”, sagt sie.

„Das Glück wieder in mein Leben lassen“

 

Nicole Steiner geht zurück in den Dienst, heute arbeitet sie in der Polizeidienststelle Soest. Erst die Einladung zur Gedenkfeier an ihre getöteten Kollegen, die sie vor zwei Wochen erhielt, hat sie zu dem Schritt ermutigt, den sie gestern in Selm tat. Ihren persönlichen Frieden schließen mit den schrecklichen Ereignissen und sich wieder zum Leben zu bekennen. Und dann sagt sie diesen Satz, der bei den Menschen im Saal die Gewissheit erzeugt, einem seltenen, schönen Moment beizuwohnen. „Diese Einladung”, sagt Nicole Steiner, „ist eine Chance, das Glück wieder in mein Leben zu lassen.”

Selbst beinharten Beamten treibt der Moment die Tränen in die Augen. Aufspringend, und mit lang anhaltendem Applaus begleiten sie Nicole Steiner bei diesem Schritt in einen neuen Abschnitt. Später bekennt Diethelm Salomon, Vorsitzender der Polizeistiftung NRW, bei der Grundsteinlegung der Gedenkstätte: „Liebe Nicole, es ist schön, dass man noch weinen kann und es ist schön, dass auch Polizisten weinen können.”

Diskussionen und Erinnerung

 

Spätestens ab September soll vor der Polizeischule ein trutziger „Wächter” aus rostigem Eisen an im Dienst gestorbene Polizistinnen und Polizisten erinnern und an das Leid der Angehörigen, die einen geliebten Menschen verloren. Geschaffen hat ihn Anatol, ein früherer Polizist und Schüler von Beuys. Die tonnenschwere klobige Gestalt, der Schild und der Rost des „Wächters“, da sind sich die Initiatoren der Gedenkstätte einig, werden zu Widerspruch, zu Diskussionen und zur Erinnerung auffordern.

Dort, wo der Wächter einmal stehen soll, legten Hunderte junger Polizeistudenten 500 Kerzen nieder. Sie haben junge, offene Gesichter, in denen das Leben noch keine Spuren hinterlassen hat. Tiefe Spuren, wie bei Nicole Steiner.

 

Westfalen, 14.06.2010, Michael Schmitz