Andreas Förster Staatliche Aufbauhelfer NSU Der Verfassungsschutz hatte 40 teils hochkarätige Spitzel im Umfeld des Terrortrios. Und wusste trotzdem nichts vom NSU?
Vergangene Woche flog wieder ein ehemaliger V-Mann des Verfassungsschutzes in der rechtsextremen Szene auf: Der frühere Deutschland-Chef des internationalen Nazi-Netzwerks „Blood&Honour“ soll demnach spätestens ab 2002 bis mindestens 2010 unter dem Decknamen „Nias“ für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gearbeitet haben. Im Münchner NSU-Prozess hatte der Mann dies 2015 als Zeuge verheimlicht, und auch der Verfassungsschutz hielt die Information gegenüber den Ermittlern geheim. Andernfalls hätten die Prozessbeteiligten sicher noch mehr Fragen an „Nias“ gehabt.
Waren es doch insbesondere Mitglieder und Anhänger der 2000 in Deutschland verbotenen „Blood & Honour“-Organisation, die wesentliche Unterstützungsleistungen für das 1998 abgetauchte NSU-Trio erbrachten. Sie pflegten enge Beziehungen zu Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Insbesondere die Thüringer und sächsischen B-&-H-Kameraden – darunter mehrere V-Leute – kümmerten sich um das flüchtige Trio, besorgten ihm Wohnungen, Geld und Waffen. Die Chemnitzer Blood & Honour-Filiale, mit der „Nias“ nach eigenen Angaben eine enge Freundschaft verband, tat sich dabei besonders hervor.
Hat „Nias“ von seinen Chemnitzer Freunden damals Informationen über das Trio erhalten und diese an das BfV weitergegeben? Der Verfassungsschutz bestreitet dies. Selbst jetzt, da nun erneut ein Spitzel im Umfeld des Trios aufgeflogen ist, beharren die Beamten darauf, erst mit der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 von der Existenz der mörderischen Terrortruppe erfahren zu haben.
Mit jeder neuen V-Mann-Enthüllung aber wird diese Behauptung unglaubwürdiger. Mittlerweile sprechen Nebenklageanwälte von 40 bis 45 Spitzeln deutscher Sicherheitsbehörden, die zwischen 1998 und 2011 im näheren und weiteren Umfeld des untergetauchten NSU-Trios positioniert waren. Darunter sind viele durchschnittliche Informanten gewesen, aber auch mehrere hochkarätige Spitzenquellen mit weitreichenden Verbindungen in die Szene. Und dennoch will der Indlandsnachrichtendienst von der Existenz und den Taten der Rechtsterroristen nichts mitbekommen haben?
Trotz der noch immer lückenhaften, wesentliche Zusammenhänge und Hintergründe aussparenden Aufklärung des NSU-Komplexes durch die Ermittler hat sich in den vergangenen fünfeinhalb Jahren der Eindruck verfestigt, dass der deutsche Verfassungsschutz eine Mitverantwortung trägt für die Entstehung des NSU und dessen rassistische Mordserie. Und zwar nicht wegen des angeblichen Unvermögens einzelner Mitarbeiter oder der Informationsverluste innerhalb der Behörden – sondern weil er Opfer seiner falschen Strategie wurde. Denn statt die von V-Leuten gewonnenen Informationen konsequent dazu zu benutzen, Strukturen zu zerschlagen und die Neuorganisation der Rechten zu verhindern, sorgte der Dienst über Jahrzehnte hinweg mit zum Teil großem logistischen und finanziellen Aufwand lieber dafür, seine Spitzenquellen in Führungs- und Schlüsselpositionen zu platzieren, um so eine vermeintliche Kontrolle über die Szene zu erlangen.
Spitzeltruppe Blood & Honour
„Blood & Honour“ ist ein Beispiel dafür. Bis in die Führungsebene hinein wurden die im Jahr 2000 verbotene deutsche B-&-H-Sektion sowie ihre illegal operierenden Nachfolgestrukturen vom Verfassungsschutz unterwandert. So entpuppten sich neben dem früheren hochrangigen Führungskader von Blood & Honour auch Spitzenleute der Sektionen in Sachsen und Thüringen als Verfassungsschutzspitzel. Hinzu kommen mehrere einflussreiche B-&-H-Aktivisten, etwa in Baden-Württemberg, Sachsen, Dortmund und Chemnitz, die ebenfalls bezahlte Informanten deutscher Sicherheitsbehörden waren.
Neben den V-Leuten im B-&-H-Netzwerk gibt es eine Reihe weiterer einflussreicher Nazi-Kader aus dem Umfeld des NSU, die über Jahre hinweg mit Duldung und Förderung des Nachrichtendienstes die rechte Szene organisieren und schlagkräftiger machen konnten. Tino Brandt etwa: Unter der Anleitung und mit Geldern des Verfassungsschutzes stampfte er den Kameradschaftsverbund „Thüringer Heimatschutz“ (THS) aus dem Boden. Darin radikalisierten sich nicht nur Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, sondern auch eine große Zahl weiterer Neonazis des Freistaats. Oder Kai Dalek, der mit Rückendeckung des Dienstes erst Michael Kühnen bis zu dessen Tod 1991 bei der „Osterweiterung“ seines militanten Nazinetzes zur Seite stand und anschließend Tino Brandt beim THS-Aufbau half; daneben baute er mit technischer Unterstützung des Verfassungsschutzes in den 1990er Jahren das Thule-Netz auf, ein Mailbox-System, das eine interne Kommunikation und Koordination von Nazi-Gruppen erlaubte. Zu nennen ist auch Thomas Richter alias „Corelli“, fast zwanzig Jahre lang Netzwerker im BfV-Auftrag, der zwischen Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Thüringen pendelte und das Vertrauen der wichtigsten Führungspersonen der militanten Nazi-Szene genoss.
Noch weitere Spitzenquellen des Verfassungsschutzes, die sich mit Duldung und Geld der Behörde um den Aufbau von extrem gewalttätigen und rassistischen Organisationen verdient gemacht haben, finden sich im NSU-Umfeld. Achim Schmid (Deckname „Radler“) aus Schwäbisch Hall etwa, der – übrigens zusammen mit V-Mann „Corelli“ – einen Ku-Klux-Klan-Ableger in Baden-Württemberg gründete und dafür auch Polizisten rekrutierte, darunter zwei Kollegen der 2007 vom NSU ermordeten Michèle Kiesewetter. Oder Michael See, Deckname „Tarif“. In seiner Zeit als V-Mann zwischen 1995 und 2001 publizierte er unter „Fachaufsicht“ des BfV von Rassismus und NS-Ideologie geprägte Fanzines für die Szene. In einem davon fand sich auch ein Konzept für den terroristischen Kampf, das von Ermittlern als eine Art Blaupause für das Entstehen der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ bewertet wird.
Die Liste ließe sich weiter fortsetzen: Von der Sauerländer Aktionsfront bis zum Thüringer Heimatschutz, von der Anti-Antifa, dem Thule-Netz, B&H bis zu Ku-Klux-Klan und GdNF – überall finden sich unter den einstigen Führungskadern V-Leute des Verfassungsschutzes. Dabei warnte das BKA schon 1997 den Verfassungsschutz in einem internen Positionspapier vor einem „Brandstifter-Effekt“: „Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu größeren Aktionen anstacheln. Somit erscheint es fraglich, ob bestimmte Aktionen ohne die innovativen Aktivitäten dieser Quellen überhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten!“
Die damit schon vor 20 Jahren aufgeworfene Frage, ob die staatlichen Einflussagenten die Radikalität der rechten Szene nicht eher noch fördern als dämpfen, ist durch die Verbrechensserie des NSU auf brutale Art beantwortet worden. Die Strategie des Verfassungsschutzes, mit seinen Spitzenquellen in Schlüsselpositionen eine Steuerungs- und Kontrollfunktion in der rechtsextremen Szene zu übernehmen, ist gescheitert. Der Nachrichtendienst hat sich verschätzt und überschätzt – mit der Folge, dass ein von ihm mitgezüchtetes mörderisches Biotop außer Kontrolle geraten ist.