Als Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping an einem Montagabend im Feuerwehrhaus von Markkleeberg eintrifft, soll sie dort eigentlich über Brandschutzangelegenheiten sprechen: über Ausrüstung, Nachwuchsmangel, Flüchtlinge als ehrenamtliche Helfer. Aber dann, nachdem sie den Fuhrpark bewundert hat ("Beeindruckend!"), geht es doch wieder um das eine Thema, das sie Woche für Woche beschäftigt auf ihren Reisen. Um die Frage, warum so viele im Osten sich abgehängt fühlen. Und um die Frage, was sie, die Integrationsministerin, dagegen tun kann.
Sie habe vor einiger Zeit eine Rede gehalten, sagt Köpping den Feuerwehrleuten von Markkleeberg. In dieser Rede habe sie die Ostdeutschen aufgefordert, endlich über die Nachwendezeit zu sprechen. Es stecke ein "Stachel der Demütigung im Fleisch vieler Ostdeutscher", niemand habe deren Lebensgeschichten gewürdigt, niemand habe zugehört. In Sachsen sei von Staats wegen immer alles spitze und toll geredet worden, deswegen habe sich die Nachwendezeit hier noch stärker zum Tabuthema entwickelt. Das Gefühl wirtschaftlicher Unsicherheit habe das Vertrauen in die Demokratie nachhaltig beschädigt. Und das sei auch eine Ursache für Pegida, für manches Ressentiment, für einige sächsische Probleme. Seit dieser Rede, sagt Köpping den Feuerwehrleuten, bekomme sie unzählige Briefe. Jeder wolle ihr von seinen Frustrationen erzählen. Und nun würde es sie interessieren, was sie, die Feuerwehrmänner, dazu sagen könnten.
Petra Köpping, 58 Jahre alt, SPD-Politikerin, Ministerin für Integration und Gleichstellung des Freistaats Sachsen, hat ein Projekt begonnen, eine Mission. Sie will sich um die Frustrierten, die Abgehängten, die Unzufriedenen des Ostens kümmern. Und ihr ist offenbar aufgefallen, dass sie dafür vor allem mit Männern sprechen sollte. Man könnte fast sagen: Die Frau, die eigentlich für die Integration von Ausländern zuständig ist, hat gemerkt, dass sie die Inländer umsorgen muss. Vielleicht, weil die Integration Fremder erst gelingen kann, wenn die Einheimischen mit sich im Reinen sind? Stimmt es, dass es Sachsen besser gehen würde, wenn sich nur mal jemand die Sorgen der Männer anhört?
Wohl kein zweites Regierungsmitglied hat Pegida so oft aus der Nähe beobachtet wie sie
In Markkleeberg denkt man erst, dass das nicht stimmen kann, weil sich kein Mann meldet nach Köppings Vorrede. Dann traut sich aber doch einer. Ein Mann im mittleren Alter mit Glatze, er sagt: "Das Problem ist, dass vieles weggebrochen ist in der Wendezeit." Er wisse da auch ein Beispiel. "Mein Bruder hat ein privates Unternehmen aufgebaut, viel Arbeit reingesteckt, aber irgendwann blieben Zahlungen aus. Er ging in die Privatinsolvenz, wurde arbeitslos, bekam Hartz IV im Alter von 60. Was wird da noch? Der ist fallen gelassen worden. Ich habe fünf Jahre gebraucht, ehe ich ihn trocken gekriegt habe." Die Ministerin nickt. Wie eine Therapeutin fasst sie seine Geschichte zusammen. "Ihr Bruder hat eine Firma gegründet, niemand hat das anerkannt. Darüber müssen wir anfangen zu reden." Es beginnt eine Debatte an diesem Abend in Markkleeberg.
Offenbar trifft Petra Köpping einen Nerv. Die Frage ist, wieso die Integrationsministerin auf die Idee kam, dieses Thema – die Aufarbeitung der Nachwendezeit – zu ihrem zu machen. Warum sie einheimische Männer für integrationsbedürftig hält. Das kann man wiederum erklärungsbedürftig nennen. Ein Treffen mit ihr deshalb an einem anderen Tag, Köpping sitzt in einem Leipziger Café, ihre schulterlangen Haare trägt sie offen wie immer, sie lacht viel, und man fragt sie: Warum dieses Thema? Warum Männer?
Weil sie immer wieder gefragt worden sei, was die Sachsen zu Pegida treibe. "Und deswegen habe ich mich monatelang, Woche für Woche, an den Rand dieser Demonstrationen gestellt." Und zugehört. Eines Tages habe einer der Pegidisten sie herzlich gegrüßt, er habe sie flüchtig gekannt. Sie entgegnete ihm: "Meckern Sie hier nicht auf der Straße herum, sondern kommen Sie zu mir in die Sprechstunde – und bringen Sie Ihre Kumpels doch auch mit!" Es geschah. Der Mann und die Kumpels kamen.
Sie saßen wenig später in Petra Köppings Büro und begannen zu schimpfen über Flüchtlinge, auch in nicht zitierbarer Weise, so erzählt es Köpping heute. "Irgendwann habe ich ihnen gesagt: 'Es gehört sich, wenn wir hier am Tisch sitzen, dass sich jeder kurz vorstellt. Ich bin Petra Köpping, habe das und das gemacht, und jetzt würde ich gerne wissen, mit wem ich spreche.'" In dem Moment habe jeder der Pegidisten angefangen, seine Geschichte zu erzählen. Es waren Geschichten über Kränkungen, persönliche Niederlagen. "Nur über Flüchtlinge haben wir kein einziges Mal mehr gesprochen", sagt Köpping.
Damals beschloss sie, diese Geschichten ab sofort hören zu wollen. Und zwar alle. Seither fragt sie viele Männer, denen sie begegnet, nach ihrer Biografie. Wohl kein zweites Mitglied der sächsischen Regierung hat sich Pegida so oft aus der Nähe angesehen. Und Frau Köpping hat nichts dagegen, ihr Amt auch als das der Ministerin für zornige Männer zu begreifen. "Ich bin ja sowohl für Integration als auch für Gleichstellung zuständig", sagt sie. Und betreffe Gleichstellung nicht beide Geschlechter? Über Probleme von Frauen werde selbstverständlich gesprochen. Aber Männer? Die fielen in der Problemanalyse oft hinten runter.
"Allerdings haben viele Männer die Nachwende-Umstürze noch härter getroffen", sagt Köpping. "Weil sie natürlich den Wunsch hatten, erfolgreich zu sein, die Familie zu ernähren. Dieses Rollenbild ist noch da." Es ist nicht einmal so, dass sich Petra Köpping ausschließlich an Männer wenden würde. Sie will die Nachwende-Geschichten von allen hören. Die Sache ist nur: Die Frauen beklagen sich seltener. "Ich weiß nicht, ob Frauen wirklich glücklicher sind", sagt Frau Köpping. "Aber ich merke einfach, dass Männer ihre Unzufriedenheit stärker artikulieren."
"Wir müssen über Gefühle reden"
Petra Köpping musste sich in den Neunzigern selbst wieder nach oben arbeiten
Die heutige Ministerin hat selbst einen Wendeknick in ihrer Biografie. Sie wurde, im Alter von 30 Jahren und kurz vor dem Mauerfall, Bürgermeisterin der Kleinstadt Großpösna bei Leipzig. Erst im Juni 1989 trat sie aus der SED aus. Als die Mauer fiel, drängten wütende Bürger sie aus dem Amt. Köpping fing bei einer Krankenkasse als Außendienstmitarbeiterin an. Selbst ihre Freunde wunderten sich damals, wie wenig es ihr offenbar ausmachte, nun eben Klinken zu putzen. In den Jahren danach schaffte sie ein Comeback, das nicht vielen gelang, die schon in der DDR Verantwortung getragen hatten. 1994 wurde Köpping wieder zur Bürgermeisterin von Großpösna gewählt, später zur Landrätin und schließlich zur Landtagsabgeordneten. Sie ist keine Wendeverliererin. "Aber sie hat sich immer für die interessiert, denen der Neuanfang nicht so gut gelungen ist", sagt eine von Petra Köppings Freundinnen.
Nach der Landtagswahl 2014 wurde Köpping Staatsministerin für Integration – als solche hat man in Sachsen wenig Macht. Köppings Rumpfministerium hat 40 Mitarbeiter. Aber weniger Macht heißt mehr Zeit. Petra Köpping nutzt diese Zeit, um ununterbrochen durch Sachsen zu reisen, von Bürgerrunde zu Bürgerrunde. Und so kam sie zu dem Schluss, dass hinter der Wut auf Flüchtlinge eigentlich Frust steckt. Diese These haben schon einige Politiker aufgestellt. Aber es gibt keinen, der daraus so weitreichende Konsequenzen zieht wie Petra Köpping. Sie sagt, das Thema könne noch den Bundestagswahlkampf beeinflussen. Es sei etwas immens Wichtiges, was hier geschehe. Sie spüre das schon daran, wie sehr sie mit Briefen und Mails überschüttet werde.
Seit Köpping in gefühlt jeder Rede von ihrer Mission erzählt, erhält sie viel Post. "Ich möchte Ihnen große Anerkennung aussprechen", lobte ein Mann aus der Lausitz. Ein Professor aus dem Westen schrieb: "Es schmerzt mich alten Mann, wenn ich lesen muss, wie sehr die Verweigerung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit den schlimmen politischen Fehlern und den vielfachen Schicksalsumbrüchen der Nachwendezeit bis heute die Menschen erbittern." Es stünden, sagt Köpping, auch Sätze wie dieser in Mails: "Wenn Sie für mich auf dem Land eine Frau finden, gehe ich nicht mehr zu Pegida."
Und ein Satz, den sie immer wieder lese, in Mails ans Integrationsministerium, laute: "Integriert doch erst mal uns." Diesen Leuten, sagt Köpping, wolle sie zeigen: "Euer Signal ist angekommen, ich habe verstanden." Man könnte sagen, dass Köppings Antwort auf die Wut nicht lautet: Mehr Fakten. Sondern: Mehr Gefühle. Manchmal wirkt sie dabei wie eine Psychologin, die einem über den Arm streichelt und sagt: Sie dürfen weinen. Man könnte es für anmaßend halten, aber viele finden es fürsorglich.
Zu erleben ist das zum Beispiel in einem Chemnitzer Lokal, an einem Bürger-Sorgen-Abend der SPD mit 100 Gästen. Am Tisch sitzen Martin Dulig, Sachsens SPD-Chef und Wirtschaftsminister, ein Bundestagsabgeordneter und eben Petra Köpping. Die Herren tragen Jacketts, helle Hemden und keine Krawatten. Sie sehen ein bisschen uniformiert aus. Nur Petra Köpping ist keine Uniformierte. Bei ihr ist es immer eine Überraschung, wie sie sich heute wohl kleidet: Mal kommt sie in Strickjacke, mal im kurzen Kleid, mal glitzern ihre Turnschuhe silbern, mal tritt sie in hochhackigen Lackschuhen auf. Diesmal hat sie einen blauen Pulli an. Dulig sagt, er sei Petra Köpping dankbar, dass sie sich den Nachwende-Ungerechtigkeiten angenommen habe: "Wir müssen über Gefühle reden."
Dann meldet sich ein älterer Mann zu Wort: "Ich weiß, was Hartz IV bedeutet, und ich spreche ehrlich darüber. Jedem von uns kann es passieren, dass der Fahrstuhl nach unten geht, jedem. Ich hätte es von mir auch nicht gedacht, aber es ist mir passiert." Was jetzt folgt, ist Petra Köppings verbale Eroberungsstrategie: maximales Verständnis, maximale Einfühlung. Das Sorgen-und-Nöte-ernst-Nehmen, niemand hat es je so auf die Spitze getrieben wie sie.
Dem Mann, der sich gerade beklagt hat, sagt sie: Menschen wie ihm sei die Würde genommen worden. Sie kenne das. Im Leipziger Raum seien über Nacht mehr als 100.000 Menschen arbeitslos geworden. Nie sei darüber geredet worden: "Was wird mit diesen Menschen, habe ich mich gefragt. Wer kümmert sich um die? Niemand!" Sie selber habe sich, als sie 1994 Bürgermeisterin von Großpösna gewesen sei, um die 42 kaputten Straßen im Ort gekümmert. "Ich hatte auch keine Zeit, mich um die Leute zu kümmern", sagt Köpping. Dann endet das Gespräch.
Die Frage ist, ob es dem Mann damit besser geht. Sie ist eine sehr gute Rednerin. Was sie sagt, wirkt so überzeugend, dass man schon wieder misstrauisch wird: Klingt ja alles gut und richtig – aber wird das und wird sie, Petra Köpping, wirklich etwas verändern?
Weckt sie falsche Hoffnungen?
Man kann den Mann, der gerade seine Geschichte erzählt hat, ja mal fragen. Er heißt Wolfgang Schramm, ist 57 Jahre alt, wohnt im Erzgebirge, hat fünf Kinder und lebt getrennt von seiner Frau. Früher habe er Wirtschaftswissenschaften studiert, erzählt er, für Banken gearbeitet, er sei in der SPD gewesen, wegen der Agenda 2010 habe er sie wieder verlassen. Neuerdings aber fährt Wolfgang Schramm wieder zu SPD-Veranstaltungen, Petra Köpping hat er viermal bei öffentlichen Terminen besucht. Er habe das Gefühl, dass sie ihm helfe, sagt er: "Sie kann auf die Menschen zugehen."
Köpping selber hilft ihre Methode auch. Bei der vorigen Landtagswahl bekam sie das beste Direktstimmen-Ergebnis aller SPD-Kandidaten. Spätestens seitdem gilt sie als Bürgerliebling. Kürzlich hat sie sich an Martin Schulz, den Kanzlerkandidaten, und an Andrea Nahles, die SPD-Bundesarbeitsministerin gewandt. "Seit Ende des letzten Jahres habe ich mich als Ministerin verstärkt dem Thema Gerechtigkeit in der Nachwendezeit angenommen", schrieb Köpping an Nahles. Und: "Ich bin fest davon überzeugt, dass solche Gerechtigkeitslücken thematisch das Jahr 2017 bestimmen werden." Köpping will einen "Gerechtigkeitsfonds", aus dem diejenigen unterstützt werden sollen, die unter Nachwende-Ungerechtigkeiten leiden. Sie träumt davon, dass das Teil des Bundestags-Wahlprogramms wird.
Ein Besuch bei einer von Köppings Bürgersprechstunden. Es reisen drei hochbetagte Herren an: ehemalige Eisenbahner, die seit Jahren vergeblich um die Auszahlung ihrer DDR-Betriebsrente kämpfen. Sie klagten vor Gericht, erfolglos. Nun haben sie ordnerweise Unterlagen mitgebracht, einer der Männer macht Notizen mit einem Stift der Deutschen Reichsbahn, die seit 1993 nicht mehr so heißt. Ihre Bekannten würden fragen, warum sie sich bei der SPD herumtrieben, erzählen die Eisenbahner. Die Bekannten seien jetzt in der AfD. Aber sie hier setzten Hoffnung in die Ministerin. Als sie die Sprechstunde verlassen, lächeln sie. Endlich habe sie jemand verstanden.
Die CDU ist wütend auf Köpping: Sie wecke völlig falsche Hoffnungen
Der Koalitionspartner der SPD in Sachsen, die CDU, traut der Methode Köpping trotzdem nicht. Premier Stanislaw Tillich soll irritiert sein vom Engagement der Ministerin. Er sei sogar etwas wütend, sagt einer aus dem Kabinett. Schließlich hätten so viele Politiker aus dem Osten, auch Tillich selbst, all die Kämpfe gegen Ost-Ungerechtigkeiten gekämpft. Michael Kretschmer, sächsischer Unions-Generalsekretär, sagt: "Natürlich sind bei der Wiedervereinigung Fehler gemacht worden." Aber weder CDU- noch SPD-geführte Regierungen hätten etwa die komplizierten Probleme mit den DDR-Betriebsrenten lösen können.
"Dass Petra Köpping jetzt den Eindruck erweckt, sie könne all diese Probleme noch lösen, ohne neues Unrecht zu schaffen, ist unredlich", so Kretschmer. "Die Mitglieder des Petitionsausschusses im Bundestag, die viele Tausend Mal diese Anliegen bearbeitet haben, schütteln den Kopf. Es zeigt, dass sie in dieser Sache wenig Ahnung hat. Dass sie es in Kauf nimmt, Menschen falsche Hoffnungen zu machen." Kretschmer wirft Köpping vor, eine depressive Stimmung zu verbreiten. Und was Pegida anbelangt: "Ich finde es sehr problematisch, zu behaupten, die Leute gingen auf die Straße, weil sie Frust in sich trügen. Nach dem Motto: Die haben gar nichts gegen die Flüchtlingspolitik, die haben nur eine Ostmacke. Wer so etwas erzählt, nimmt die Bürger nicht ernst."
Eines streitet nicht einmal Köpping ab: Es sind große Hoffnungen, die sie weckt bei den Männern, die in ihrem Büro sitzen, die zu ihren Veranstaltungen kommen. Und vielleicht große Enttäuschungen, wenn irgendwann alle merken: Ja, sie hat zugehört, vielen Hunderten. Aber nichts ist passiert. Köpping wird ein Problem bekommen, wenn es irgendwann weder einen Gerechtigkeitsfonds gibt noch eine sogenannte öffentliche Debatte. Wenn alles versandet.
Als Integrationsministerin ist sie auch häufig bei Flüchtlingsinitiativen zu Besuch. Seit einiger Zeit konfrontiert sie die Sozialarbeiter dort mit einem speziellen Wunsch: Sie sollen nicht mehr nur Flüchtlingen Unterstützung anbieten. Sondern vielleicht draußen an ihr Schild schreiben: "Hilfe für alle, die Hilfe brauchen." Es könnten sich auch Deutsche angesprochen fühlen, findet sie. Es könnte ein Anfang sein.