NSU-Ausschuss: Bundesanwalt rechtfertigt nicht erfolgte Ermittlungen gegen V-Mann J. H.
Von Claudia Wangerin
Ob ein Verdächtiger im NSU-Verfahren als V-Mann tätig gewesen sein könnte, hat Bundesanwalt Herbert Diemer nach eigener Aussage kaum interessiert. »Das war für uns so was von zweit- und dritt- und viertrangig«, sagte der 63jährige am Donnerstag im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Diemer fand es daher auch logisch, dass er und seine Kollegen die Verfassungsschutzämter nicht konkret danach gefragt hatten. Das jedenfalls erklärte er auf Nachfrage des Ausschussleiters Clemens Binninger (CDU).
Das scheinbare Desinteresse an geheimdienstlichen Verstrickungen in den Rechtsterrorismus ist nach Diemers Darstellung Ausdruck juristischer Unabhängigkeit: »Ein V-Mann, das ist für uns kein Freibrief«, versicherte er. Wären »V-Leute dabei gewesen«, so Diemer, hätte man sie genauso vernommen, verhaftet und angeklagt. »Sie wollen sagen, hemmend hat das keinen Einfluss gehabt?« fragte der Abgeordnete Frank Tempel (Die Linke) zunächst noch in verständnisvollem Ton. Das änderte sich, als es um den Fall J. H. ging. Der »geheime Mitarbeiter« des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, dessen Name hier wegen eines laufenden Rechtsstreits nicht ausgeschrieben wird, war offenkundig nicht vernommen worden, obwohl er einem Phantombild des Attentäters aus der Kölner Probsteigasse auffallend ähnlich sah. Dies hatte die Chefin des Landesverfassungsschutzes 2012 selbst der Bundesanwaltschaft mitgeteilt.
Mit dem Anschlag auf ein deutsch-iranisches Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse hatte sich der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) in einem 2011 verschickten Propagandavideo gebrüstet. Ein persönliches Bekenntnis der heute in München angeklagten Beate Zschäpe oder ihrer inzwischen toten Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt findet sich darin nicht. Im Dezember 2000 hatte ein Mann, der keinem von ihnen ähnelte, einen Geschenkkorb mit einer Splitterbombe in dem Laden zurückgelassen. Im Januar 2001 wurde die 19jährige Mashia M. schwer verletzt, als sie die Stollendose öffnete. Vater und Schwester der Geschädigten konnten den Mann beschreiben. J. H. sah ihm nicht nur ähnlich, er war auch in seiner Jugend wegen eines Sprengstoffdelikts verurteilt worden – und später Vizechef der nach einem 1933 erschossenen SA-Mann benannten »Kameradschaft Walter Spangenberg«. Der Tatort in der Probsteigasse liegt nur wenige Meter vom heutigen Hansaplatz entfernt, der zur Nazizeit »Spangenbergplatz« hieß.
Für Diemer, der vor dem Oberlandesgericht München seit Mai 2013 federführend die Anklage gegen Zschäpe und vier mutmaßliche NSU-Helfer vertritt, war all das kein Grund zu ermitteln. Dies rechtfertigte er am Donnerstag als rein kriminalistische Entscheidung. »Es gab keine Absprachen mit irgendeinem Geheimdienst, dass wir irgendwelche Ermittlungsmaßnahmen machen oder nicht.« Auf Nachfrage erklärte Diemer, die Opferangehörigen hätten J.H. nicht als Tatverdächtigen wiedererkannt, als ihnen Lichtbilder von ihm vorgelegt worden seien, die in zeitlicher Nähe zu dem Anschlag aufgenommen worden seien.
Tempel erwiderte etwas lauter, darunter sei ein Ganzkörperbild »von sehr schlechter Qualität« gewesen – und eine Aufnahme aus dem Jahr 2004, die ihn mit einem Doppelkinn zeige, das auf älteren Fotos nicht zu erkennen ist. Die problematische Bildqualität habe auch die Schwester der Verletzten selbst angesprochen. Auf geeigneteres Fotomaterial hätten Vater und Tochter ganz anders reagiert. Die zur Tatzeit 14jährige Schwester von Mashia M. habe ausgesagt, die Zusammensetzung aller Merkmale entspreche ihrer Erinnerung an den Täter. Sie habe bei diesem Anblick »direkt ein Kribbeln gespürt«, zitierte Tempel aus dem Protokoll. Diemer wehrte sich zum Schluss nur noch gegen den Vorwurf, er habe »bewusst« nicht ermittelt, weil es sich um einen V-Mann handle.
Die Obfrau der Linken im NSU-Ausschuss, Petra Pau, sagte zum Ende der Vernehmung, hier habe sich der Eindruck verfestigt, dass gegen V-Leute »mindestens mit angezogener Handbremse« ermittelt worden sei. Die Bundesanwaltschaft habe sich im Fall J. H. auf die Aussage seines V-Mann-Führers verlassen, das habe offensichtlich genügt.
Die frühe Festlegung der Bundesanwaltschaft auf nur drei vollwertige NSU-Mitglieder hatten am Donnerstag Abgeordnete mehrerer Fraktionen kritisch beleuchtet. Diemer versicherte: »Wir haben nicht gedacht, wir haben da drei Leute, die machen wir jetzt verantwortlich, und dann ist der Käs' gegessen.« Binninger wies darauf hin, dass weder an den Tatorten der Mord- und Anschlagsserie noch an den später sichergestellten Waffen DNA von Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt gefunden worden sei, dafür aber bisher anonyme DNA-Spuren zum Beispiel an der Kleidung des schwerverletzten Polizisten Martin A., dessen Kollegin Michèle Kiesewetter den versuchten Doppelmord in Heilbronn 2007 nicht überlebt hatte.
Zeugen hatten mehrere blutverschmierte Personen in Tatortnähe gesehen, deren Beschreibung nicht auf Mundlos oder Böhnhardt passte. Für Diemer zählte jedoch, dass Kiesewetters Dienstwaffe im November 2011 neben den Leichen der beiden Männer in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden worden war. DNA-Spuren wertete der Bundesanwalt als Beweismittel allgemein stark ab: »Sie wissen ja, DNA-Spuren kann man auf alle möglichen Arten übertragen«, sagte er – vermutlich mit Blick auf die kurz zuvor bekanntgemachte Verunreinigung an Asservaten vom Fundort der Leiche der Schülerin Peggy Knobloch durch Spurensicherungsgerät der Polizei. Der zunächst vermutete Bezug zu Böhnhardt war am Mittwoch von der zuständigen Staatsanwaltschaft in Bayreuth ausgeschlossen worden.
Diemer war planmäßig der letzte Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss, der nun voraussichtlich seinen Abschlussbericht erstellen wird. Binninger bedankte sich am Donnerstag bei Journalisten und interessierten Bürgern, die regelmäßig zu den öffentlichen Sitzungen gekommen waren, »Das hat uns gefallen und auch motiviert«, sagte der CDU-Politiker.