Sie standen mitten im Leben. Fast alle hatten Arbeit. Dann kam der Hass. Und nun sollen sie Rechtsterroristen sein. Am Dienstag beginnt in Dresden der Prozess gegen die Gruppe Freital. Eine Spurensuche.
Von Ulrich Wolf
Das also ist die Endstation. Die Dresdner Gröbelstraße liegt direkt neben dem Einkaufszentrum Löbtau-Passage. Wer mit der Buslinie A aus Freital kommt, muss hier aussteigen. Ein Fahrer macht Pause, liest Zeitung. „Ja“, sagt er, „die beiden habe ich flüchtig gekannt. Der eine ist so ein lauter Typ, unsympathisch, einer, der alles gleich besser weiß. Der andere, der kleine Dicke, der ist ein Mitläufer.“
Der Busfahrer spricht von zwei Kollegen, die er schon lange nicht mehr gesehen hat. Von Timo S., 28, und Philipp W., 30. Beide sitzen seit 16 Monaten in Untersuchungshaft. Kein Geringer als der Generalbundesanwalt in Karlsruhe wirft den Männern vor, Mitglieder einer rechtsterroristischen Vereinigung zu sein: der Gruppe Freital. Eine Clique, die vorsätzlich und organisiert Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingswohnungen, auf das Auto eines Lokalpolitikers, auf ein Parteibüro und ein autonomes Wohnprojekt verübt haben soll.
Die Anklage lautet auf versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung und
Sachbeschädigung. Vermutetes Motiv: Hass auf Ausländer und politisch
Andersdenkende. Am kommenden Dienstag beginnt der Prozess vor dem
Oberlandesgericht Dresden.
Außer den zwei Busfahrern sollen der
Gruppe sechs weitere Personen im Alter von 19 bis 39 Jahren angehören:
ein Lagerist, ein Gleisbauer, ein Altenpfleger, ein Mechaniker, ein
Caterer und eine Arbeitslose (hierzu sz-online.de vom 26.04.2016: "Wie der Terror nach Freital kam").
Zwei von ihnen sind gebürtige Freitaler, zwei sind Dresdner. Die
anderen stammen aus Hamburg, Berlin, Prenzlau und dem rheinländischen
Erkelenz; aber auch sie wohnen in Freital oder Dresden. Nur einer von
ihnen war zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Drei von ihnen
sitzen seit November 2015 im Gefängnis, die anderen fünf seit April
2016.
Bis zu ihren Festnahmen durch Elitepolizisten
lebten sie unauffällig. In Ein- oder Mehrfamilienhäusern, in
Plattenbauten. Die meisten waren liiert, einer ist Vater. Zwar sind es
Menschen, die nicht unbedingt das große Los gezogen haben. Aber auch
keine Niete.
Patrick F. zum Beispiel. Der 25-Jährige soll einer
der beiden Rädelsführer sein. Er traf sich mit seinen Kumpels gern an
der Hem-Tankstelle in der Tharandter Straße, die parallel zur Route der
Buslinie A verläuft. „Wann und wo ist morgen Treff?“, fragt einer seiner
Facebook-Freunde. „Ich schätze mal um acht an der Hem“, lautet die
Antwort. „Komme etwas später“, teilt Patrick F. mit.
Eine Tankstellenmitarbeiterin erkennt ihn auf einem Foto wieder. „Ja,
der war öfter hier. Mit ein paar anderen. Die haben abends ihr Bierchen
getrunken und einmal eine Verwarnung gekriegt, weil sie die Zapfsäulen
zugeparkt hatten. Ist aber schon länger her.“ Bei Facebook fährt Patrick
F. auf Autos ab, vor allem auf getunte Audis und BMW. Statussymbole als
Kompensation für einen vermeintlich Zukurzgekommenen?
Nur fünf
Minuten zu Fuß braucht Patrick F., um von seiner Wohnung in
Dresden-Gittersee auf Arbeit zu kommen. Er ist Schichtarbeiter, verdient
sein Geld als Lagerist bei einem Hygieneartikelhändler. Dort heißt es,
man habe Herrn F. „als hilfsbereit und fleißig erlebt“. Er sei nicht
aufgefallen. „Wir waren völlig perplex, als die Polizei seinen Spind
durchsuchte.“
So ähnlich klingt es auch im Bekanntenkreis. Seine
Freunde nennen ihn „Keks“ oder „Festi“. Es heißt, er sei „ein richtig
netter Kerl“. „Ein Kumpeltyp.“ Gar von einem „ausgeprägten
Gerechtigkeitsempfinden“ ist die Rede. Mit seinem Vater lebe er
zusammen, der habe ihn geprägt. In den letzten zwei, drei Jahren aber
habe sich Patrick F. isoliert, unter anderem durch rechtsextreme
Äußerungen. Er sei auch nicht mehr zum sommerlichen Gartenfest
erschienen.
Ein guter Bekannter vermutet, dass Patrick F. „sich angesprochen fühlte
zu handeln“. Gegen was? „Na, gegen all die Flüchtlinge und Linken.“
Warum? „Vielleicht, weil Pegida ihn heißgemacht hat. Und der Hass in
sozialen Netzwerken. Und einen Hang zum Militärischen hatte er auch.“
Auf
Facebook findet Patrick F. Pegida „spitze“ und gibt an, deren ehemalige
Frontfrau Tatjana Festerling als Oberbürgermeisterin gewählt zu haben.
Sein Profilbild zeigt ihn als Paintballer, ein Mannschaftssport, bei dem
sich die Spieler mit Farbkugeln beschießen. Er trägt eine Uniform,
einen Helm und ein Headset. Ein Youtube-Video zeigt ihn bei einem
Paintballwettbewerb in einer Ruine im brandenburgischen Plessa. Als
letzte Facebook-Aktivität vor seiner Verhaftung lud er ein neues
Titelbild hoch. Darauf ist ein Vermummter zu sehen, Pyrotechnik erhellt
die Szenerie. Dazu die Inschrift: „Es beginnt. Holen wir uns unser Land
zurück.“
Ein Land, das sich seit dem Spätsommer 2015 vor allem im
Osten mit ungewohnt vielen Fremden konfrontiert sah. Und die sich auch
Pizza liefern ließen. Das war der Zweitjob von Patrick F. Der
Pizzaservice liegt ebenfalls in der Tharandter Straße, nahe der
Hem-Tankstelle. Der Serviceleiter dort sagt, „arbeitstechnisch hat er
sein Ding gemacht“. Ansonsten gebe es zu Patrick nichts zu sagen. Man
möchte wissen, was dran ist an dem Gerücht, der Pizzaservice beliefere
Kunden mit bestimmten Nationalitäten nicht. „Was glauben Sie, was los
wäre, würde ich das bejahen“, lautet die Antwort. Dann wird man sehr
bestimmt gebeten, den Verkaufsraum zu verlassen.
Viel besser
haben sich Patrick F. und Timo S. verstanden. Sie hätten häufig über den
Smartphone-Kurznachrichtendienst Kakaotalk kommuniziert, heißt es in
Ermittlerkreisen. Mindestens seit dem Herbst 2015. Bekannte vermuten
Pegida und Facebook als weitere Bindeglieder. Die Ankläger halten Timo
S. für den zweiten Rädelsführer der Gruppe Freital.Der 28-Jährige wuchs
in Hamburg auf, machte seinen Hauptschulabschluss im Arbeiterviertel
Allermöhe. 2009 lief der HSV-Fan bei einer Nazidemonstration mit.
Weitere Demos folgten. Linke sind für ihn nur „Dreck“. Schon in Hamburg
arbeitete er als Busfahrer.
Wahrscheinlich im Herbst 2014 zieht
er nach Freital zu seiner Freundin in ein Mehrfamilienhaus mit hübschem
Garten. Als sich im August ’14 der Berliner NPD-Chef in Dresden aufhält,
fragt Timo S. via Facebook: „Seid ihr die Nacht noch in Dresden? Bin ab
23 Uhr auch dort. Hab gehört, man trinkt noch einen.“ Die Antwort folgt
prompt. „Ja Timo (...), sind wir, wäre schön, dich dann heute noch zu
sehen. Rest dann bitte via PN.“ PN steht für Privatnachricht.
Beim neuen Arbeitgeber in Sachsen findet Timo S. mit seinem Gedankengut
Gehör bei einem Kollegen: bei Philipp W. Freunde nennen ihn „Philli“
oder „Zigeunerphilli“. Der heute 30-Jährige machte eine Lehre als
Abwassertechniker bei den Stadtwerken Freital, ein Zeitungsfoto vom
Januar 2006 zeigt ihn als Auszubildenden im Abwasserpumpwerk
Kleinnaundorf.
Doch er wurde Busfahrer. Auf der Linie A. Nahezu
täglich passiert er dabei seine Wohnung, ein Gründerzeithaus in der
Dresdner Straße, in dem er mit seiner Freundin lebt. Um die Ecke liegt
der Platz des Friedens. 2015 war das ein beliebter
Demonstrationsstandort für Asylgegner.
Es ist Philipp W., der die
erste Protestaktion vor dem damals als Flüchtlingsheim genutzten
Leonardo-Hotel in Freital anmeldet. Ebenso wie Timo S. geht er zu Pegida
und gehört zur „Bürgerinitiative Freital wehrt sich“. In der Kleinstadt
sind zudem der Pegida-Klon Frigida und der Widerstand Freital aktiv.
Nach einem Zwischenfall mit zwei Marokkanern in der Buslinie 360 kommt
die Bürgerwehr FTL/360 hinzu. Ihre Mitglieder sollen in Bussen
patrouillieren und für Ordnung sorgen.
Alle gemeinsam geben im
April 2015 auf Facebook bekannt, sich „künftig in allen Aktionen
gegenseitig unterstützen“ zu wollen. „Gemeinsam für Freital, gemeinsam
für Deutschland.“ Das Bild dazu zeigt zwölf Vermummte, zwei tragen
Pyrofackeln, in der Mitte ein schwarzes Transparent, auf dem in
Runenschrift „Freital“ geschrieben steht. Es entstand am Aussichtspunkt
auf dem Windberg, im Hintergrund leuchten die Lichter von Freital in der
Tiefe. In Ermittlerkreisen heißt es, dieser Schulterschluss könnte die
Keimzelle für die Gruppe Freital gewesen sein.
In der Folgezeit zwischen April und November 2015 registriert die
Polizei 16 gravierende rechtsmotivierte Gewalttaten in Freital: Angriffe
mit Leuchtraketen, Böllern, Brandsätzen, Pfefferspray,
Baseballschlägern. Der Ort wird zu einem Synonym für Ausländerhass in
Sachsen.
Bei politisch motivierten Straftaten in der Kleinstadt
stoßen die für die Aufklärung zuständigen Polizeibeamten des Operativen
Abwehrzentrums Sachsen auf wiederkehrende Namen: Patrick F. ist
darunter, Timo S., Philipp W. und auch ein Rico K. Der 39-Jährige ist
seit dem vergangenen April im oberfränkischen Hof inhaftiert.
Seine
Wohnung befindet sich im Osten des Dresdner Plattenbauviertels Gorbitz,
in einem Sechsgeschosser hinter einer Schallschutzmauer der
Bundesstraße 173.
Ein Nachbar, der ihn seit vielen Jahren kennt, erinnert sich an die
Festnahme: „Das gab damals einen Riesenknall. Um vier Uhr früh. Die
haben die Tür aufgebrochen und bei uns sogar den Türspion zugeklebt. Vor
dem Haus standen Polizeiautos mit Bonner und Leipziger Kennzeichen.“ Er
und seine Frau seien total geschockt gewesen, sagt der Nachbar. „Der
Rico? Wahnsinn!“ Drei Kinder gebe es da, das seien „ganz solide Leute,
eine nette Familie“.
Rico K. arbeitete als Caterer. Er schnitzte
Fantasiefiguren, Musikinstrumente, Blumen und reale Personen aus Obst
und Gemüse. So gut, dass er auch beim Gogelmosch-Menü im März 2016 im
Tom-Pauls-Theater in Pirna auftrat. Oder zusammen mit Starkoch Kai
Kochan in der Löbtau-Passage. Manchmal hüpfte K. zudem im Auftrag einer
Werbeagentur als verkleideter Osterhase oder Frosch für Firmen und
Sportvereine herum.
Viel Geld machte er damit offenbar nicht.
2008 berichtet die Bild-Zeitung über ihn. Es geht um einen Prozess, in
dem er sich als Hartz-IV-Empfänger gegen einen Sozialbetrugsvorwurf der
Arbeitsagentur wehrt. Erfolgreich. Anfang 2016 beklagt er sich auf
Facebook über die neuen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung.
„Am Ende bleibt mir weniger als ein Hartz-IV-Empfänger. Irgendwas stimmt
in diesem deutschen System nicht.“ Er suche deshalb dringend einen Job
zur Festanstellung.
Aus seiner Facebook-Seite geht auch hervor,
dass Rico K. ebenfalls Pegida besuchte. Im Oktober 2015 sei seine
Tochter von „vermummten Linksradikalen“ angegriffen worden, behauptet
er. Über diesen „drecksversifften Antifa“ schreibt er da: „Bei mir gibt
es keine Pflegestufe mehr. Der ist dann tot!“ Darunter kommentiert
Busfahrer Timo S.: „Jaaaa ausrasten!“
Anfang 2016 organisiert
Rico K. einen Spontanprotest vor einem Dresdner Hallenbad. Er wolle „ein
Zeichen gegen Kindesmissbrauch/Vergewaltigung“ setzen, schreibt er und
fordert ein „Hausverbot für Flüchtlinge“. Anfang dieses Monats taucht
sein Name im Internet auf einer Liste von 215 Hooligans und Neonazis
auf, die im Januar 2016 das Leipziger Szeneviertel Connewitz überfallen haben sollen. „Das kann ich alles nicht glauben“, sagt sein Nachbar.
Dieser
Satz passt in das Bild, das sich inzwischen auch das Operative
Abwehrzentrum zu eigen gemacht hat, wenn es um Straftaten im
Zusammenhang mit dem Thema Asyl geht. Demnach handelt es sich bei den
bisherigen Tatverdächtigen nicht nur zu 93 Prozent um Männer, sondern zu
über drei Vierteln auch um Personen, die zuvor noch nie polizeilich in
Erscheinung getreten waren. Eine Art Zäsur in der Ermittlungsarbeit. Ihr
Beginn stimmt zeitlich ziemlich genau mit dem Aufkommen von Pegida und
dem Hass auf Facebook überein. Die Hetzrhetorik scheint bislang
Unbedarften den Verstand geraubt zu haben.
So sagt der Bekannte
von Lagerist und Pizzalieferant Patrick F., dessen Intellekt reiche
vermutlich nicht aus, „um sich aus dieser Hasswelt zu befreien“. Und
sogar in der spontan gegründeten Facebook-Gruppe „Freiheit unseren
Kameraden Timo, Philipp und Patrick“ wird dieses Manko diskutiert. Ein
Mitglied schreibt: „Schade, dass ihr es nie begreifen werdet. Aber das
liegt wohl an der mangelnden Bildung. (...) Wie dämlich muss man sein,
um das Leben von fremden Menschen und sein eigenes aufs Spiel zu setzen,
um was zu verändern? (...) Wenn euch wirklich was an Timo liegt, dann
(...) steht ihm bei als Freund und nicht als sogenannte Kameraden.“