Besonders aktive politische Menschen nennen wir heutzutage schlicht „Aktivist*innen“. Das Wort hat es sogar in den Duden geschafft. Die Bezeichnung wurde zuvor in der DDR für Werktätige verwendet, die bei der Planerfüllung außerordentliche Leistungen erbrachten – bekanntestes Beispiel ist der Bergmann Adolf Hennecke. In der Linken der USA galt „Aktivist“ vor 50 Jahren noch als Beleidigung, erinnert sich der einst linksradikale Mark Rudd, der Mitglied der US-amerikanischen Untergrundorganisation Weather Underground gewesen war. Der Begriff wurde in den Staaten während des Ersten Weltkriegs auf die Unterstützer der Mittelmächte (um das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn) angewandt, schreibt Astra Tylor in „Le monde diplomatique“ vom Juni 2016. Die Publizistin kritisiert den Ausdruck heute als inhaltsleer: „Er steht weniger für eine politische Überzeugung als für ein gewisses Temperament.“ Und: „organisatorische Strukturen, wie sie früheren Bewegungen zum Erfolg verholfen haben, fehlen.“
Dieser Abstecher in die Geschichte des Begriffes soll andeuten, wie spannend es sein kann, sich mit jenen zu beschäftigen, die wir alltäglich nutzen. Unter anderem dieser Aufgabe widmet sich das „Lexikon der Bewegungssprache“ aus dem Unrast Verlag. Der Band nimmt sich auch des Begriffs „Aktivist“ an. Der Eintrag erinnert, dass es früher Revolutionäre und Kommunist*innen, Mitglieder und Kader, Genoss*innen und Mitstreiter*innen, Vertreter*innen und Sprecher*innen, Autonome und Militante gab, außerdem Hausbesetzer*innen, Umweltschützer*innen, Atomkraftgegner*innen. Und er stellt kritisch fest, dass heute offensichtlich keine entsprechenden Wörter mehr vorhanden sind. Alle sprechen und schreiben nur noch von Aktivist*innen.
Organisierung, Vernetzung und Spaltung
„Allein machen sie dich ein“ – Mit diesem Verweis auf die Band „Ton Stein Scherben“ endet der Lexikoneintrag „Organisierung“. Darunter, so wird ausgeführt, ist ein Prozess zu verstehen, der handlungsfähiger und schlagkräftiger machen soll, aber zugleich die Gefahr formalisierter Strukturen birgt, die zu Bürokratismus und Erstarrung neigen. So resümieren es aus eigener Erfahrung sogenannte postautonome Gruppen. Diese zielen, wie im Wörterbuch zu lesen ist, auf breite Bündnisse unter Einbeziehung von Gewerkschaften, NGOs und Parteien, um mit linken Inhalten und Praxen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wirkmächtig zu werden. Sie sind Teil von Organisierungsversuchen jenseits hierarchischer Strukturen, wie wir sie beispielsweise aus K-Gruppen der 1970er Jahre kennen. Und wenn Linke solche Versuche mit Vielen zusammen wagen, stellen sich schnell auch Fragen nach Entscheidungsfindung, Moderation, Quotierung und weiteren Strukturen von Plenum und Kollektiv.
Nimmt man den 120 Seiten umfassenden Band zur Hand und blättert darin, stößt man auf solche und zahlreiche durch Querverweise verbundene Begriffe und beginnt sofort, einen davon zu lesen, weil man damit selbst vieles verbindet und wissbegierig ist, was andere dazu zu erzählen haben. Bei der aufklärenden Beschreibung unternehmen die Autor*innen zahlreiche Ausflüge in die Bewegungsgeschichte der vergangenen 60 Jahre. Der Band enthält eine bunte Mischung von Lexikoneinträgen, die von Abkürzungen und Szenesprache wie „EA“ für Ermittlungsausschuss über den Ausruf „Haut ab!“ bis zum Buchstaben und Symbol „X“ reicht. Außerdem vertreten: Bauchschmerzen, Fishbowl, kämpfen und pink. Zu den meisten Einträgen haben die Leser*innen sicher direkte Assoziationen, aber wahrscheinlich nicht immer zu allen. Was geschah zum Beispiel im Jahr 1980 in Bremen (Straßenschlacht anlässlich einer Rekrutenvereidigung) und in Zürich (Züri brännt)? Und wer erinnert sich noch an das ein ganzes Lebensgefühl ausdrückende Verb „hönkeln“? Insgesamt eine gelungene Auswahl, stehen die etwa 150 Begriffe doch in ihrer Gesamtheit für ein repräsentatives Bild aktueller aktivistischer Bewegungen und ihrer Geschichte(n), die mit verschiedenen Aufmerksamkeit erheischenden Methoden in gesellschaftliche Konflikte intervenieren.
Gegenöffentlichkeit, Diskurs und Handgemenge
Die 21 Autor*innen sind aus eigener Erfahrung vertraut mit dem, worüber sie schreiben. Sie gehören verschiedenen Altersklassen und politischen Strömungen an, haben somit in den vergangenen Jahrzehnten sehr unterschiedliche Diskussionen der Linken miterlebt. Manche ihrer kurzen Texte sind lehrreich, viele unterhaltsam und einige zum Schmunzeln. Die Autor*innen schöpfen aus dem Schatz, den soziale Bewegungen bieten und nutzen ihn teilweise auch, um sich auf Kosten der politisch Bewegten zu vergnügen. Ein verbindendes Element der Autor*innen ist ihre schreibende Tätigkeit für die linke Tageszeitung neues deutschland, die sich – unter anderem in ihrem Online-Auftritt – zu einem bewegungsnahen Organ und einem Ort für linke Debatten entwickelt hat. Die Vielfalt und Kontroversen aktiver linker Politik ziehen sich auch durch das Lexikon. Deshalb fasziniert es nicht nur Menschen, die Teil der Linken waren und sind, es stößt sogar auf Interesse in bürgerlichen Organen wie Welt, Focus und Bayerischer Rundfunk.
Insofern eignet sich das Büchlein als Geschenk für Eltern und Freund*innen, die schon immer mal wissen wollten, was genau dahinter steckt, wenn wir davon sprechen, auf Polittreffen zu gehen. Mit der Lektüre jedes Beitrags kommen die Leser*innen der Linken etwas näher, vermittelt doch der Band ein Verständnis von sozialen Bewegungen mit all ihren Facetten, ihren Formen und Inhalten, ihrem Denken und Handeln, ihrer Geschichte, ihren Kampfplätzen, Methoden und Strukturen.
- Buchautor_innen: N. Seibert / I. Wallrodt (Hg.)
- Buchtitel: Murmeln Mumbeln Flüstertüte
- Buchuntertitel: Lexikon der Bewegungssprache