Linke Gewalt ist für Rot-Rot-Grün kaum der Rede wert

Erstveröffentlicht: 
26.12.2016

Die Berliner Koalition sagt jeder „Form von politischem oder religiösem Fanatismus“ den Kampf an. In den Fokus nimmt sie dabei aber nur den Rechtsextremismus – nicht linke oder islamistische Gewalt.

 

Das Bekenntnis von Rot-Rot-Grün ist eindeutig: Dem Schutz der Einwohner vor Alltags- und organisierter Kriminalität, „Übergriffen, Gewalt und Terror“ sowie der „Bekämpfung jedweder Form von politischem oder religiösem Fanatismus“ weist die neue Koalition in ihrem Vertrag „hohe Priorität“ zu.

 

Doch wer das Werk liest, kann zu dem Schluss gelangen, in Berlin gebe es nur eine einzige wirkliche Gefahr: den Rechtsextremismus. Begriffe wie „Linksextremismus“ oder „islamistischer Terrorismus“ tauchen in dem rund 250 Seiten umfassenden Koalitionsvertrag kein einziges Mal auf. Wohl aber ist die Rede von „rechtsterroristischer Gewalt“ und „Terror gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen und Anderslebenden“.

 

Der Islamismus, dessen mörderisches Treiben Berlin gerade zu spüren bekam, wird unter „internationaler Terrorismus“ subsumiert. Und zu linker Gewalt, etwa beim Streit über ein teilbesetztes Haus im Ortsteil Friedrichshain, verlieren SPD, Grüne und Linkspartei kein Wort.

Anders verhält es sich beim Rechtsradikalismus. Ihm widmet sich die vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) geführte Koalition ausführlich. Ein Unterkapitel heißt: „Entschieden gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus – Demokratie und Zivilgesellschaft stärken“. Das Bündnis verspricht „die konsequente Bekämpfung rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Straftaten“. Das Antifaschistische Pressearchiv​ und andere Einrichtungen, die Gewaltandrohungen der ultrarechten Szene gegen die politische Linke dokumentieren, leisteten „unverzichtbare Aufgaben“, weshalb die Koalition „diese dauerhaft institutionell absichern“ wolle.

 

„Leider sehr häufig auf rechtem Auge blind gewesen“


Die innenpolitischen Sprecher der Abgeordnetenhausfraktionen, Frank Zimmermann (SPD), Benedikt Lux (Grüne) und Hakan Tas (Linke), sagten der „Welt“ mit Blick auf diese Gewichtung: Sie lehnten Gewalt grundsätzlich ab. „Es ist völlig egal, ob ein AfD-Politiker oder ich eins auf die Fresse kriegt. Unser Mittel ist die inhaltliche Auseinandersetzung“, sagte Tas.

 

Zimmermann sekundiert: „Anschläge etwa auf Infrastruktur und Polizisten sind zu verurteilen. Es wird kein Pardon geben.“ Und Lux betont: „Der Staat wird gegen jede Form der Gewalt vorgehen.“ Zugleich sind sich die drei Politiker einig, dass die weitaus größere, gar „zentrale“ Gefahr von Rechtsradikalen ausgehe. Als Begründung führen sie die NSU-Morde sowie Gewalttaten gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte an.

 

Zimmermann sagte weiter: „Die Rot-gleich-Braun-Theorie ist eine deutsche Legende.“ Ultralinke stellten „niemals diese Gefahr für die gesamte Gesellschaft“ dar, wie es ihr rechtes Pendant längst tue. Sein Grünen-Kollege Lux hält die rechtsextreme Szene für „jahrzehntelang unterschätzt“. Nun sei sie im Kommen, werde in der Mitte der Gesellschaft unterstützt und habe „in Teilen der AfD sogar einen politischen Arm“. Und Tas meint, in der Vergangenheit sei „man leider sehr häufig auf dem rechten Auge blind gewesen“.

 

Der rot-rot-grünen Einschätzung zur Gefährlichkeit des Linksextremismus in Berlin widersprechen Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz, wonach der bisher „stabile Konsens“ in der Szene bröckelt, auf gezielte Tötungsaktionen zu verzichten. „Die Hemmschwelle im Hinblick auf Gewalt gegen bestimmte Personen, insbesondere gegen Polizisten und vermeintliche ,Faschisten‘, ist von Jahr zu Jahr gesunken.“

 

Die Wortwahl in linksextremen Internetforen ist genauso rabiat wie die am anderen Ende des politischen Spektrums. Ultralinke Akteure brüsten sich permanent mit Brandanschlägen auf Behörden und Einrichtungen der Polizei, die sie für „Abschaum“ halten. Dennoch beharrt die Berliner Koalition auf ihrem Kurs. Tas beteuert: „Wir sind nicht auf dem linken Auge blind, wir sehen mit beiden Augen sehr gut.“

 

Die Hauptstadt-CDU hält das Gegenteil für erwiesen: Den Koalitionsvertrag wertet sie als „deutliches Zeichen, wie sehr die vereinigte Linke auf eben diesem linken Auge blind“ sei. Extremismus müsse generell „mit allen Mitteln von allen demokratischen Kräften“ verhindert werden, sagte der CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Florian Graf. Er erinnerte daran, dass eine Resolution gegen Neonazis im Parlament „selbstverständlich“ von allen mitgetragen worden sei – aber eine gegen Linksextremismus an Rot-Rot-Grün gescheitert sei.

 

Harsche Kritik gibt es auch aus der Wissenschaft und der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Als „sehr schade und teilweise absolut unverständlich“ bezeichnete ein GdP-Sprecher die Behandlung des Themas im Koalitionsvertrag. Es sei richtig und wichtig, sich klar gegen Neonazis zu stellen. „Wir müssen aber endlich aufhören, Straftaten von Linksextremen klein- oder schönzureden.“

 

Ein SPD-Abgeordneter attackiert Grüne und Linke

Hinzu kommt die Debatte über Baustaatssekretär Andrej Holm , der im Ressort von Katrin Lompscher (Linke), Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, tätig ist. Holm hatte sich zur DDR-Zeit freiwillig für eine Stasi-Laufbahn entschieden.

2007 wurde er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet; der Vorwurf, er habe einer „militanten Gruppe“ angehört, konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Der Bundesgerichtshof bescheinigte Holm lediglich eine „linksextremistische Einstellung“. Die GdP fordert auch wegen der Causa Holm „Klarheit“ über das Verhältnis der Linkspartei zum ultralinken Lager.

 

Von einer „Einheitsfront der Linken“ in Regierungsverantwortung spricht Klaus Schroeder, Professor für Politologie und Extremismusforscher an der Freien Universität Berlin. „Die sind im gleichen Milieu, die demonstrieren zusammen, und wenn es zu Ausschreitungen kommt, wird man es nicht begrüßen, aber sich auch nicht distanzieren.“ Schroeder kritisiert, dass sich die SPD „von diesen Leuten abhängig gemacht hat und deshalb die Klappe hält“.

 

Der SPD-Innenexperte Tom Schreiber, der im Abgeordnetenhaus sitzt, schweigt allerdings nicht. Er selbst ist Beschimpfungen und Drohungen aus der linksradikalen Szene gewohnt. Er nennt die einseitige Wortwahl im Koalitionsvertrag „bedauerlich“.

 

Grünen und Linker bescheinigt er „ideologisches Denken von vorgestern“. Mehr Kameraüberwachung als Teufelszeug abzutun sei „lächerlich“, wie gerade der Terroranschlag am Breitscheidplatz zeige. Auch der Mann, der in einem U-Bahnhof in Berlin-Neukölln eine Frau eine Treppe heruntertrat, wurde dank Videoaufnahmen gefasst.

Schreiber sagte weiter, dass die Stärkung von Antifa-Vereinen ganz offensichtlich nicht dazu führe, dass weniger rechts gewählt werde. „Viel Geld hilft am Ende nicht viel.“ Der Sozialdemokrat kritisiert zudem die Forderungen der SPD-Koalitionspartner im Wahlkampf, das Landesamt für Verfassungsschutz „sofort“ (Linke) oder „mittelfristig“ (Grüne) abzuschaffen. Ebenfalls wollte die Linkspartei V-Leute des Verfassungsschutzes  abschalten. „Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden mit Neonazis und Kriminellen bringt hohe Gefahren und wenig Nutzen“, hieß es zur Begründung.

 

Die SPD lehnte die Forderung nach Abschaffung des Landesamts für Verfassungsschutz ab – und setzte sich durch. Allerdings darf der V-Leute-Einsatz laut Koalitionsvertrag „nur in begründeten Ausnahmefällen stattfinden“.

 

Sicherheitsexperten verweisen darauf, dass die getarnt agierenden Einsatzkräfte oft die einzige Möglichkeit sind, im Bereich der organisierten Kriminalität sowie der islamistischen beziehungsweise salafistischen Szene an Informationen ranzukommen. CDU-Fraktionschef Graf nennt die Einschränkung bei den V-Leuten einen „unverantwortlichen Schritt und ein deutliches Zeichen dafür, dass das Linksbündnis die innere Sicherheit bewusst schleifen will“.

 

SPD-Mann Schreiber sagt: „Wir brauchen Real- und keine Wünsch-dir-was-Politik.“ Gerade die Linken „wollen doch wissen, wie es um die Reichsbürger und Identitären steht. Was glauben die, woher die Informationen kommen?“ Der Sozialdemokrat kündigt an: „Mein Kurs wird sich nicht ändern. Es darf nichts unter den Teppich gelehrt werden.“ Als Nagelproben bezeichnet er den kommenden 1. Mai und den Umgang mit dem Problem

Rigaer Straße.

„Besonnen“ auf Hausbesetzer eingehen

 

Das Gebäude an der Rigaer Straße 94 ist eines der letzten teilbesetzten Häuser in der Bundeshauptstadt. Nach Worten der drei innenpolitischen Sprecher soll „eine längerfristige Perspektive für die Bewohner entwickelt werden“ mit dem Ziel, die Eskalation zu beenden, indem „falsche Solidarisierungen“ verhindert würden. „Es gibt Kooperationsbereitschaft bei den Eigentümern“, sagte Zimmermann.

 

Sein Mitstreiter von den Grünen möchte das gleichwohl nicht als „Rabatte und Belohnung fürs Randalieren“ verstanden wissen. Lux sagte: „Bei Neubesetzungen wird die Berliner Linie durchgesetzt, sprich: Die Häuser werden binnen kürzester Zeit geräumt.“ Die Bewohner „randalieren nicht. Der überwiegende Teil ist unbescholten, wenn ich das richtig sehe“, sagte der Grünen-Politiker. Er begründet damit „den Taktikwechsel“, „besonnen“ bei Straftaten einzuschreiten, „statt symbolische Schlachten zu führen“.

 

Auch hier widerspricht Schreiber. Der SPD-Abgeordnete verweist auf eine Antwort des Senats auf eine seiner parlamentarischen Anfragen von Ende 2014. Darin wird die Rigaer Straße 94 als Ort brutaler Gewalt beschrieben, wo Polizisten immer wieder mit Flaschen, Feuerwerkskörpern und Steinen unterschiedlicher Größen beworfen wurden. In einem Fall wurde wegen versuchten Mordes ermittelt. In einem linksextremen Forum ist davon die Rede, dass es einen Teil in der Szene gebe, der „in der Rigaer öffentlich Heckenschützen auf den Dächern wünscht“.

 

Im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag heißt es übrigens auch: „Wer Gewalt ausübt, kann für die Politik niemals Verhandlungspartner sein. Das gilt völlig unabhängig davon, unter welchem Deckmantel einer politischen Ausrichtung – ob links, rechts oder religiös – sie ausgeübt wird.“

 

Extremismusforscher Schroeder glaubt indes nicht, dass gegen gewalttätige Hausbesetzer und Sympathisanten hart durchgegriffen wird: „Die werden denen das schenken. Die wollen das Problem loswerden und nennen das dann ,befrieden‘.“