9. November 1938 Leipzigerin erlebte Pogromnacht 1938 und registriert mit Sorge aktuelle Parallelen

Erstveröffentlicht: 
08.11.2016

Neun Jahre war Anneliese Schellenberger alt, als die Nationalsozialisten in der Pogromnacht am 9. November 1938 in Leipzig wüteten. Inzwischen ist sie 87 Jahre alt – und blickt mit Sorge auf aktuelle Parallelen.

 

Es brennt. Schaulustige sammeln sich in der Dämmerung vor der kuppel-gekrönten Feierhalle auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in der Delitzscher Straße in Leipzig. Sie starren auf das lodernde Feuer, das in den Nebengebäuden wütet. Sie zucken mit den Schultern, drehen sich weg. Niemand ruft die Feuerwehr. „Ist doch nicht unser Haus“, sagen die Leute.

 

Dieser Satz hämmert in Anneliese Schellenbergers Kopf und auch Herz. „Dass ich mich heute noch daran erinnern kann, fast 80 Jahre später ..., das zeigt doch, wie mich das schockiert hat als Mädchen.“ Die 87-jährige Leipzigerin war neun Jahre alt, als die Nationalsozialisten in der Pogromnacht am 9. November 1938 wüteten.

 

An rund 50 Orten in Sachsen sind dutzende Synagogen, Geschäfte und Wohnungen zerstört worden. Viele hundert Juden oder als Juden verfolgte Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Der Historiker Daniel Ristau aus Dresden arbeitet die Vergangenheit im Rahmen des Forschungsprojekts „Bruchstücke – Die Novemberpogrome in Sachsen 1938“ auf. Seiner Erkenntnis nach lebten damals etwa 23.000 Jüdinnen und Juden in Sachsen, weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung. Viele der Gläubigen waren zuvor bereits vor gewaltsamen, judenfeindlichen Übergriffen aus dem östlichen Europa geflohen.

 

Heute leben in Sachsen rund 2500 Menschen jüdischen Glaubens. In den letzten beiden Jahren sind laut des Landeskriminalamtes Sachsen jeweils rund hundert antisemitisch motivierte Straftaten begangen worden – oft sind es Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen. 2016 reißen die Übergriffe nicht ab. Ein Betrunkener grölt im Zug bei Dresden, „die Öfen in Auschwitz müssen wieder brennen. Dafür würde ich sogar selbst im Wald Holz holen.“ Eine Mitarbeiterin des Zwickauer Sozialamtes wird als „Scheiß-Jüdin“ beschimpft und ihre Familie mit dem Tod bedroht. In Leipzig wird die Ausstellung der jüdischen Fotografin Gerda Taro mit schwarzer Teerfarbe beschmiert. 

 

„Meiner Meinung nach sind die Muslime die neuen Hassfiguren“


Darauf haben auch Bewegungen wie die der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, kurz Pegida, Einfluss. Das sagt Miki Hermer von der Amadeu-Antonio-Stiftung, die Initiativen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus fördert. „Äußerungen gegenüber Minderheiten, also auch und gerade gegen Juden, sind wieder gesellschaftsfähig geworden.“ Dieser Antisemitismus sei zwar immer da gewesen, aber derzeit könne man ihn besser erkennen, weil er öffentlich geäußert wird. Dabei werden uralte Klischees bedient, die des vermeintlich reichen und mächtigen Judens mit starker Lobby, so Hermer. „Gerade in Sachsen scheinen mir die Weltverschwörungstheorien hoch im Kurs.“

 

Einige Pegida-Anhänger hätten eine Art Schulterschluss mit ihnen angestrebt, erzählt Dr. Nora Goldenbogen. Sie ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresden. „Man hat uns aufgefordert, ebenfalls auf die Straße zu gehen. Wir müssten sogar, die Muslime seien doch auch unsere Feinde.“ Andernfalls fände die jüdische Gemeinde bald keine Unterstützung mehr, berichtet Goldenbogen von Drohungen.

 

Die Gläubigen in Dresden bemerkten zudem die wachsende Wut auf Fremde im Allgemeinen. Viele von ihnen sind zugewandert. Anhand ihres als fremd wahrgenommenen Äußeren würden sie angefeindet – nicht zwangsläufig deshalb, weil sie Juden seien. „Meiner Meinung nach sind die Muslime die neuen Hassfiguren“, sagt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresden. Früher seien Juden lange die einzig wahrnehmbaren Fremden in Europa gewesen und deshalb Feindbild Nummer Eins gewesen, so Goldenbogens Erklärung. Nun müsste der Islam dafür herhalten. 

 

2015 insgesamt 477 rassistische Übergriffe in Sachsen


Tatsächlich habe die Gewalt gegenüber Muslimen in Sachsen stark zugenommen, beobachtet Andrea Hübler, Beraterin der Opferberatung der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Sachsen. Sie hält Fälle rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt im Freistaat fest und unterstützt Betroffene. Ein Ergebnis: 2015 hat es insgesamt 477 rassistische Übergriffe in Sachsen gegeben. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl damit um knapp 86 Prozent gestiegen. Betroffen seien in überwiegender Mehrheit Asylsuchende, mutmaßlich Anhänger des Islam.

 

Es sei schwierig zu unterscheiden, ob die Angriffe in einem religiösen Zusammenhang stünden oder aufgrund der Ansicht, dass Menschen einer bestimmten Rasse weniger wert seien als andere, so Andrea Hübler von der Opferberatung der RAA Sachsen. „Zum Beispiel, wenn eine Frau mit Kopftuch angegriffen wird.“

Gemeinsam ist beiden Religionen, dass sie als Bedrohung wahrgenommen werden, obwohl viele Sachsen weder Juden noch Muslime persönlich kennen – weil verhältnismäßig wenige im Freistaat leben. Weniger als ein Prozent der in Sachsen lebenden Menschen sind Muslime. Der Politikwissenschaftler Maik Herold von der Technischen Universität Dresden sieht aber auch starke inhaltliche Unterschiede bei den Vorurteilen: „Während Juden eine starke Lobby und Macht unterstellt wird, geht kaum jemand davon aus, dass islamische Geistliche Medien oder Politik lenken. Es gibt vielmehr ein verzerrtes Bild davon, wie im Islam Religiosität ausgelebt wird und welchen Stellenwert sie zu haben scheint. Einen angeblich höheren als das Grundgesetz zum Beispiel.“

 

Grit Hanneforth, Geschäftsführerin des Kulturbüros Sachsen, glaubt, dass es diese mit Religion verbundenen Vorbehalte sind, die Menschen als fremd etikettiert – nicht der Glaube an sich. Der Verein berät seit 15 Jahren Politik, Verbände und Initiativen im Freistaat mit dem Ziel, rechtsextremistischen Strukturen eine aktive demokratische Zivilgesellschaft entgegenzusetzen. „Der Antisemitismus wird in Sachsen zurzeit überlagert von der Islamophobie, der Angst vor dem Islam. Das eine Ressentiment löst das andere aber nicht ab. Und Religion spielt hier auch nicht die zentrale Rolle. Es geht den Angreifern nicht darum, das Christentum verteidigen zu wollen.“

 

Wenn die 87-jährige Anneliese Schellenberger die Pegida-Teilnehmer in den Medien verfolgt, wird der Zeitzeugin ganz anders. „Früher haben die ja Uniformen gehabt, aber diese Art und Weise, die ist ähnlich. Diese aggressiven Sprüche lassen nichts Gutes ahnen.“

 

Insa van den Berg