1. Verhandlungstag 11.10.2016. 09:00 – 11:00 Uhr (2. Strafsenat des Kammergerichts Berlin, umverlegt ins Kriminalgericht Moabit)
Der Angeklagte Ali Hıdır Doğan (am 25.04.2016 festgenommen und seitdem ununterbrochen in U- Haft) verweigerte am Anfang der Verhandlung die Angabe seiner Personalien, weil er die Institution Gericht nicht anerkenne. Nach einer Belehrung des wortführenden Richters, dass dies eine Ordnungswidrigkeit darstelle, stellt der verteidigende Anwalt Lukas Theune den Antrag auf Aussetzung der durch das Justizministerium im September 2011 erteilten Verfolgungsermächtigung gegen mutmaßliche Mitglieder der PKK. Danach liest der Generalbundesstaatsanwalt Müller die Anklageschrift vor. Folgende Tatvorwürfe sollen den Verdacht einer Straftat gemäß §§ 129a, 129b StGB begründen:
- Gebietsleiter der PKK Raum Berlin Juli 2014 bis Juli 2015. Ab dann Gebietsleiter Raum Bremen mit folgenden Tätigkeiten: Sammeln von Spendengeldern, Organisation von Reisebussen und Fahrkarten zu kurdischen Kulturfesten, logistische Aufgaben innerhalb dieser
- aktives Mitglied im Exekutivrat der KCK [Union der Gemeinschaften Kurdistans], welcher ein legislatives Organ zur Kontrolle der ideologischen Ausrichtung der Volksverteidigungskräfte sei
- Kondolenzbesuche bei Hinterbliebenen von Gefallenen
Der verteidigende Anwalt Theune stellt einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens mit der Begründung, dass die neu ausgerichtete Zielsetzung der PKK verkannt sei. Die Grundlage ihrer Ausrichtung sind Grundwerte friedlichen Zusammenlebens. Der KCK geht es um Schaffung einer Gesellschaft, die die Grundrechte und die Menschenwürde achtet und die für eine Demokratisierung der Türkei eintritt. Er bezieht sich auf das fortschrittliche Gesellschaftsmodell in Rojava, wo diese neue Verfassung angewendet wird. Theune beschreibt den Kampf der PKK als eine verständliche Reaktion jahrzehntelanger Gewalt gegen Kurden und benennt den türkischen Staat als ein diktatorisches Regime, welches nicht nur die Möglichkeiten legaler politischer Opposition absichtlich zerstöre, sondern sich gerade im Hinblick auf die kurdische Minderheit in der Türkei zahlreicher Verbrechen schuldig mache.
Es folgt ein 2. Antrag des verteidigendes Anwalts Theune – die Aufhebung des Haftverfahrens gegen Ali Hıdır Doğan mit folgender Begründung: Die Untersuchungshaft sei grob unverhälnismäßig, denn es bestehe keine Fluchtgefahr. Theune weist darauf hin, dass der Angeklagte legale Aktionen in Deutschland durchgeführt hat. Generalstaatsanwalt Müller sieht darin keinen Grund zur Aussetzung des Verfahrens.
Es werden mehrere dicke Aktenordner den Verteidiger-Anwälten und den Angeklagten selbst vorgelegt. Der Vorsitzende Richter kündigt ein Selbstleseverfahren an. Die Akten enthalten alle deutschsprachige Texte. Der Richter erklärt, dass 2 gestellte Dolmetscher (vereidigt in Türkisch und Kurmancî ) dem Angeklagten die Texte übersetzen sollen.
Verteidiger-Anwalt Schmidt legt sofort Widerspruch ein, denn es seien zu viele Akten. Theune schliesst sich an und kritisiert die Art und Weise. Er betont, dass der einzige Vorteil eines Selbstleseverfahrens sei, dass der Angeklagte selbst die Schriftstücke lesen kann und das sei hier nicht gegeben. Es wird zwischen dem Richter und den Anwälten vereinbart, dass zumindest ein Kennenlerntermin mit den Dolmetschern stattfinden soll (es gab in der Vergangenheit Probleme mit der Verständigung zwischen gestellten Dolmetschern und dem Angeklagten).
Anwalt Theune stellt noch einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens wegen Verdacht auf verfassungsunrechtlicher Maßnahmen. Begründung:
Nachrichtendienstliche Beweise können nur unter bestimmten Voraussetzungen verwendet werden. Die Frage, ob die vom LKA und dem Bundesamt für Verfassungsschutz genutzten Daten, nicht rechtswidrig erlangt worden sind, sei nicht geklärt (bezieht sich u.a. auf die Kooperation mit türkischen Geheimdiensten).
Es folgen 3 Verfahrensanträge der Verteidigerseite:
- sämtliche Vorgangsakten sind miteinzubeziehen
- Aussetzung Verfahren aufgrund von Besorgnis der Befangenheit des in der Vergangenheit für das LKA tätigen Dolmetschers Cimcek. Er benutzte Maßnahmen, die über seine neutralen Dolmetschertätigkeiten hinausgehen
- vollständige Akteneinsicht, die gesamtes Ermittlungsverfahren lückenlos und vollständig dokumentieren
2. Verhandlungstag 14.10.2016 09:00 – 15:00
Punkte: Zeugenvernehmung Jürgen Becker, Stellungnahme zu gestellten Anträgen
Als Zeuge sagt der Bundeskriminalbeamter Jürgen Becker, 56 Jahre alt und Sachgebietsleiter zu Ermittlungen gegen die PKK in Deutschland aus. Er hatte 2003 das Ermittlungsverfahren übernommen und seit 2011 läuft das Verfahren wegen Verdacht der kriminellen Vereinigung im Ausland - aufgrund der im September 2011 durch das BMJV erteilte Verfolgungsermächtigung (als Prozessvoraussetzung für Verfahren wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen „terroristischen Vereinigung“). Die verwendeten Erkenntnisse stammen vom Bundesamt für Verfassungsschutz, von „PKK-eigenen“ Medien und aus der Rechtshilfe mit Belgien („Finanzbüro Europas“), Dänemark und Frankreich.
Becker gibt einen geschichtlichen und strukturellen Abriss der PKK. Er gibt an, dass es 2005 eine „Umbenneunug der Organisation“ in KCK gegeben hat - aufgrund eines neuen, von Öcalan verfassten Konzeptes (Demokratischer Konföderalismus).
Der Richter fragt nach, ob diese Strukturen trotz Umbenennung gleich geblieben sind. Becker bejaht dies und geht zu einem späteren Zeitpunkt der Verhandlung darauf ein: Bis 2013 waren kurdische Kulturvereine in einem legalen Dachverband zusammen geschlossen. 2013 gab es eine Neugründung mit dem Namen NAV-DEM [„Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschland“ ]. Alle Vereinsdachverbände sind darin zusammengeschlossen mit jeweiligen Gebietsfachräten. Das sind legale Strukturen, aber aus polizeilicher Ermittlungssicht gehört NAV-DEM zur PKK. Denn die kurdischen Vereine sind, laut Becker, die Basis der politischen Arbeit. Die Veranstaltungen sind von der PKK-Führung vorgegeben und die Vereine setzen sie als politischer Teil des Systems um. Auch autonome Strukturen wie Frauen- und Jugendorganisationen setzen die Parteiziele um. Also sind die Feste, die von Vereinen organisiert werden, Teil der PKK-Struktur.
Parallel daneben existiert weiterhin die illegale Parteistruktur mit den gleichgeblieben Sektoren, Gebieten mit identische Vorgaben und Beschlüssen. Es gab keine wesentlichen Änderungen der illegalen Strukturen, trotz Umbenennung und Neuumstrukturierung. Neuer Name der illegalen Parteistruktur ist CDK [„Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa“]. Der Richter fragt nach, welche öffentlichen Aktivitäten der PKK es in Europa gibt. Becker erwidert, dass der Kampf gegen die türkische Regierung die Leitlinie ist und dass dazu Unterstützungswerbung in Form von Demos, Veranstaltungen, Kundgebungen und Hungerstreiks gemacht wird mit der zentralen Forderung nach Freiheit für Öcalan.
Es folgen genauere Nachfragen über die Höhe der Spenden und die Art und Weise der Spendenbeschaffung. Insgesamt beträgt das Spendenaufkommen 20 Millionen Euro, darunter kommen 12-14 Millionen aus Europa. Die Hälfte davon aus Deutschland. Weitere Finanzierungsmöglichkeiten seien die Beiträge in Kulturvereinen und Werbeeinnahmen der PKK- eigenen TV-Sender. Außerdem organisiere die PKK z.B. die Newroz-Feste, wo durch Verkaufsstände wieder Geld hereinkommt. 10-15% der eingenommenen Spendengelder würden in die Türkei und in den Irak transferiert. Der Rest bleibt in Europa, um z.B. die eigenen Medien (Print und TV) zu unterhalten. Spendengelder für Rojava waren gesonderte Sammlungen.
Die Aufgaben des Gebietsleiters sind das Durchführen von Veranstaltungen, sowie die Durchführung von Spendenkampagnen und die Schulung der Kader. Des weiteren erklärt Becker, dass das BKA regelmäßig Einblick in die Kommunikation (Email und Telefon) zwischen der Europaführung und den Gebietsleitern hatte.
Becker geht auf die von Öcalan verkündete Friedensinitiative und die Verhandlungen zwischen türkischer Regierung und PKK ein (2011-2013). Ab 2014 hätte sich die Rhetorik verschärft, aufgrund von nicht erfüllten Forderungen und mit dem Attentat in Suruç eskalierte der Konflikt. Auf die Nachfrage welche Anschläge vom BKA überhaupt erfasst werden, antwortet Becker, dass sie nur „klassische, terroristische“ Anschläge registrieren, wenn es dazu Bekennungen seitens der Guerilla auf ihrer Webseite gibt. Kriegsgefechte werden nicht erfasst.
Bei den Antworten auf die Nachfragen der Verteidigung sagte Becker mehrmals, dass ihm jeglicher geschichtlicher und politischer Kontext egal ist. Z.B. sieht Becker keinen Zusammenhang des PKK- Verbots in der Türkei mit dem zeitgleichen Ereignis des Militärputsches. Mehrmals betonte er, dass er keine Hintergründe und historische Abläufe erforsche und keine rechtlichen Bewertungen und Auswertungen „ideologischer“ Parteipolitik mache. Er ermittle auch nicht gegen den türkische Staat oder den IS (sagte er auf die Nachfrage, ob ihm der Vorwurf bekannt sei, dass der türkische Staat durch Waffenlieferungen Mitschuld am Aufbau des IS hat).
Begriffe wie Paradigmenwechsel und das Existenzrecht von Kurd_innen sagten ihm nichts.
Es folgen Nachfragen der Verteidigung zu den Quellen der allgemeinen nachrichtendienstlichen Erkenntnisse. Becker erwidert das BKA bezieht sich auf Presseveröffentlichungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Becker wies bei der Nachfrage, ob sich auch auf andere Geheimdienste (speziell dem türkischen) bezogen wurde auf seine Aussagegenehmigung hin. Diese Informationen seien nicht gedeckt und er könne nichts dazu sagen. Im Rahmen seiner Ermittlungen hätte es keine Zusammenarbeit mit der Türkei gegeben.
Die Zeugenvernehmung wird vom Obersten Richter aufgrund der fortgeschrittenen Zeit unterbrochen und wird am 04.11. um 9 Uhr fortgesetzt werden. Es folgt die Stellungnahme des Generalstaatsanwaltes zu den von der Verteidigung gestellten Anträge. Alle Anträge werden abgelehnt.
Die weiteren Termine für den Prozess gegen Ali Hıdır Doğan findet ihr auf https://freiheit.blackblogs.org/