Berlin soll brennen

Erstveröffentlicht: 
25.04.2010

Die Zunahme linker Straftaten alarmiert die Politik. Endlich soll auch Gewalt von links geächtet werden. Die Szene ist unbeeindruckt.


Von Julia Schaaf

 

Stell dir vor, es geht um einen friedlichen 1. Mai - und keiner geht hin.

 

Donnerstagabend in der Mehrzweckhalle einer Grundschule in Kreuzberg: An einem Rechteck aus Resopaltischen sitzen eine junge Frau mit Kopftuch. Eine pinklippige Sozialarbeiterin mit Peacezeichen auf dem Gürtel. Eine vom Leben gezeichnete Rothaarige. Ein Elternvertreter. Zwei Polizisten. Ein Bezirksbürgermeister. Ein fahriger Moderator. Tausend Einladungen hat die "Landeskommission Berlin gegen Gewalt" verschickt, um mit sogenannten Multiplikatoren ins Gespräch zu kommen über einen "friedlichen 1. Mai 2010": mit Schülern, mit Eltern, mit Mitarbeitern von Jugendtreffs. 25 Zusagen hat es gegeben. 15 Teilnehmer sitzen im Saal. Staatssekretär Thomas Härtel (SPD) als Vorsitzender der Kommission äußert sich enttäuscht über die geringe Resonanz. Aber er sagt: "Es ist ein Versuch. Wir wollen jede Chance nutzen."

 

Es geht nicht nur um den 1. Mai. Natürlich wächst in den Wochen vor der größten regelmäßigen Demonstration der radikalen Linken in Deutschland die Sorge, die Ausschreitungen vom vergangenen Jahr könnten sich wiederholen. 479 verletzte Polizisten, 289 Festnahmen: Nachdem sich die Kreuzberger Krawalle am Maifeiertag einige Jahre lang erst gegen Ende der sogenannten revolutionären 1.-Mai-Demonstration entzündet hatten, war es 2009 von Anfang an zu heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen. Ein erfahrener Beamter sagt, noch nie habe er einen so großen schwarzen Block gewaltbereiter Autonomer gesehen. Selbst eine wissenschaftliche Analyse der Eskalation lieferte keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Für dieses Jahr hat die Gewerkschaft der Polizei vor Toten gewarnt. Beobachter bewerten die Mobilisierung in der Szene als besonders aggressiv. "Berlin's burning" steht auf einem Plakat von Linksextremisten. Aus berstenden Hochhäusern bricht ein feuerspeiender Dinosaurier hervor.

 

Die Sorge über politisch motivierte Gewalt von links wächst jedoch auch jenseits aggressiver Mai-Proteste. Die Zahlen sind alarmierend. In Deutschland gab es 2009 vierzig Prozent mehr Straftaten aus dem linken Spektrum als im Jahr zuvor. Erstmals begingen radikale Linke mehr Körperverletzungen als Rechtsextreme; Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) äußerte sich besorgt über die wachsende Gefahr für Polizisten. Noch drastischer ist die Statistik für Berlin, wo mit 1100 gewaltbereiten Linken rund jedes sechste Mitglied der vom Verfassungsschutz beobachteten Szene lebt. Während in der Hauptstadt die Zahl links motivierter Straftaten insgesamt um knapp neunzig Prozent gestiegen ist, haben sich Gewaltdelikte um fast 150 Prozent vermehrt. Es gab Monate, da brannte in Berlin fast jede Nacht ein Auto. Dazu kamen Anschläge auf umstrittene Bauvorhaben, Firmensitze, Jobcenter, Polizeiwachen, Parteibüros. Seit dem Herbst werden Gebäude auch mit Gaskartuschen angegriffen, die zeitverzögert detonieren. "Das sind Tatmittel, mit denen bewusst die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen wird", sagt die Sprecherin des Berliner Verfassungsschutzes.

 

Darüber ist eine Debatte entstanden, die auf konservativer Seite als überfällig galt, während das linke Lager zaghaft einsteigt. Allmählich beginnt ein Prozess des Umdenkens. Ende März veröffentlichten die Fraktionsvorsitzenden von CDU, SPD, Linksfraktion und Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus eine gemeinsame Erklärung, die scheinbar Selbstverständliches enthält, aber an Symbolkraft kaum zu überbieten ist. "Brandanschläge sind kriminell und kein Ausdruck politischen Handelns" steht über dem Papier, mit dem sich die Politiker ausdrücklich hinter die Arbeit von Polizei und Justiz stellen. Dann schreiben die Fraktionsvorsitzenden: "Kein brennendes Auto, kein Anschlag auf ein neues Gebäude löst ein einziges Problem dieser Stadt. Im Gegenteil: Gewalt ist kontraproduktiv und erschwert den notwendigen politischen Dialog."

 

Das ist neu. Frank Henkel, dessen CDU-Fraktion dem rot-roten Senat über Jahre vorgeworfen hatte, auf dem linken Auge blind zu sein, spricht von einem Stimmungswandel und lobt den politischen Gegner. Volker Ratzmann, Fraktionschef der Grünen, sorgt sich um die nötige Rückendeckung für die Polizei und diagnostiziert ein "klammheimliches Verständnis" gesellschaftskritischer Kreise gerade für jene Straftaten, die im Zusammenhang mit der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten im Zuge der Stadtentwicklung stünden. Ratzmann sagt: "Deswegen ist es an der Zeit, auch von der Linken zu sagen: Wir sind nicht in Zeiten, wo es gewalttätiger Auseinandersetzungen bedarf, um sich zu artikulieren. Wir ächten Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung."

 

Der Kern der Szene reagiert mit Abwehr. "Politische Hysterie", meint Florian Herbst von der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (Arab) und erinnert an die "antikommunistische Hetze" zu den Hochzeiten der RAF. Theo Meyer, Sprecher der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB), spricht von einem "repressiven Klima", wie er es noch nie erlebt habe. Er ist 22 Jahre alt. Man weiß nicht viel über gewaltbereite Linksextremisten. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass das Gros in Berlin aus rund 950 Autonomen besteht. Die ALB ist mit rund sechzig Mitgliedern die größte Organisation innerhalb dieses Spektrums. Die zirka zwanzig Köpfe zählende Arab wird als gewalttätig eingestuft. Anders als die Mehrheit halten beide Gruppen Pressearbeit für sinnvoll.

 

Deshalb sitzen an diesem Mittwochnachmittag drei junge Männer in einem Café, fünf Minuten vom Kottbusser Tor entfernt, wo vergangenes Jahr eine Demonstrantin durch einen Molotowcocktail schwerste Verbrennungen erlitt: Jonas Schiesser (Arab), Geschichtsstudent, blass und schmächtig, 19 Jahre alt. Theo Meyer (ALB), komplett in Schwarz, was wegen der Trainingsjacke von Adidas allerdings auch nicht nach politischem Statement aussieht. Der Soziologiestudent bestellt Bananensaft. Florian Herbst (Arab) skizziert die Geschichte linksradikaler Militanz von 1968 bis heute mit einer Lässigkeit, als wäre er dabei gewesen. Er ist aber erst 25 Jahre alt, hat eine Ausbildung zum Mediengestalter in Bild und Ton abgeschlossen und lebt jetzt von Hartz IV, weil er keine Lust hat auf weitere Praktika oder einen Umzug in eine Stadt wie Stuttgart, wo es zwar Jobs geben mag, aber das Leben teurer ist. Jogginghose, ein Sweatshirt mit dem getagten Logo einer Münchner Hip-Hop-Marke darauf. Der 1. Mai bedeutet ihm persönlich viel: Seine erste Kreuzberger Mai-Demo im Alter von 13 Jahren hat ihn politisiert.

 

Herbst redet in einem Tempo, dass die anderen kaum zum Zuge kommen. Aber die sind geduldig; man nennt einander Genossen, ist ebenbürtig theoriesicher und eloquent und nur in Nuancen unterschiedlicher Meinung. Lange, komplexe Sätze ranken sich um Konzepte wie "kapitalistische Verwertungslogik", und der Begriff Gewalt bezieht sich zumeist auf die Gesellschaft, deren strukturelle oder ökonomische Verhältnisse Militanz angeblich nötig machten. Meyer sagt, die ALB stelle das Gewaltmonopol des Staates grundsätzlich in Frage. Schiesser nennt es menschenverachtend, Ausgegrenzten vorzuwerfen, dass sie sich wehrten. Herbst sagt: "Ich finde nicht, dass sich linker Widerstand auf das Strafgesetzbuch festnageln lassen darf." Wenn Meyer dann auf die Integrationsfähigkeit bürgerlicher Demokratien zu sprechen kommt und sagt, "das Anzünden von Autos ist im Rahmen von Stadtumstrukturierung ein radikaler Akt der Negation, der die Grenzen der konstruktiven Kritik verlässt", kichert Genosse Herbst und bemerkt: "Das ist Adorno." Immer wieder stellen alle drei heraus, Gewalt sei für sie kein Selbstzweck. Es gehe stets um politische Ziele.

 

Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber sieht das anders. Es gebe zwar kaum sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu Gewalt aus dem linken Spektrum. Aber der Extremismusforscher von der Fachhochschule des Bundes in Brühl weist auf die Selbstinszenierung der Autonomen als Straßenkämpfer hin, auf die Symbolhaftigkeit ihrer Taten und fehlende Begründungen. Manch ein Linksextremer vergleiche den ersten Steinwurf mit dem ersten Kuss. "Deswegen hat Gewalt für die Szene, unabhängig von politischen Zielen, sehr wohl eine emotionale Faszination und einen hohen Identifikationswert", sagt der Professor.

 

Auf Bundesebene hat Thomas de Maizière die Sicherheitsbehörden um ein Lagebild zur Kriminalität aus dem linken Spektrum gebeten; darüber wollen die Innenminister Ende Mai beraten. Das Bundesfamilienministerium plant Präventionsprogramme gegen linke Gewalt. In der Erklärung der Berliner Fraktionsvorsitzenden heißt es: "Alle politisch Verantwortlichen sollten ein Zeichen setzen und dafür sorgen, dass jeder Anschein von Sympathie oder Unterstützung für Straftaten vermieden wird." Nach Erfahrung von Florian Herbst hingegen gibt es innerhalb der linken Szene keine Distanzierung von militanten Extremisten. Er sagt: "Ich habe so etwas noch nie erlebt. Bei Basisbewegungen passiert so etwas nicht. Die Radikalen werden als Teil der Bewegung gesehen."

 

Ganz gleich, ob Bündnisse gegen Nazi-Aufmärsche, Bildungsstreik oder Stadtentwicklung: Je nach Thema sitzen Arab und ALB bei der Vorbereitung mit Bürgerinitiativen, mit Attac, Gewerkschaftern, Kirchenleuten, den Jusos oder der Linkspartei an einem Tisch. Da sei man solidarisch und rede einander nicht rein: Man selbst bedränge niemanden, dass Flugblätterverteilen sinnlos sei. Aber auch die anderen hätten kein Problem mit Gewalt. Maximal werde verhandelt, dass eine Schülerdemo keinen schwarzen Block vertrage und aus der Nazi-Massenblockade heraus keine Straftaten passieren dürften - dann doch bitte im weiträumigen Umfeld. Über die wechselnden Bündnispartner sagt Herbst: "Wir hatten da fast noch nie Probleme."

 

In der dünnbesetzten Mehrzweckhalle einer nahe gelegenen Grundschule unterdessen geht es um Friedenserziehung, mehr Geld für Jugendarbeit und Existenzängste, die Aggressionen schüren. Und um Tausende, die am 1. Mai wie Zuschauer bei einem Theaterstück das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Autonomen verfolgen. "Wir müssen wissen, worin die klammheimliche Freude derjenigen gründet, die dastehen und gucken. Aber wir wissen gar nicht, wie wir mit denen ins Gespräch kommen können", sagt Stephan Voß, Geschäftsstellenleiter der "Landeskommission Berlin gegen Gewalt" durchaus selbstkritisch. "Wir haben da keine Tradition. Es war nur hoffähig, sich mit rechter Gewalt zu beschäftigen; linke Gewalt war kein Thema." Staatssekretär Härtel warnt vor einer Gleichsetzung von linker und rechter Gewalt. Beide hätten unterschiedliche Ursachen, erforderten andere Konzepte und dürften in der Präventionsarbeit nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber immer wieder fordert er die gesellschaftliche Ächtung auch politisch motivierter Gewalt von links: "Wir brauchen diese Diskussion."

 

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.04.2010, Nr. 16 / Seite 51