DNA von NSU-Terrorist Böhnhardt soll jahrelang am Zollstock geklebt haben und so an den Fundort des Mordopfers Peggy gelangt sein. Die Glaubwürdigkeit der Sicherheitsbehörden ist endgültig beschädigt.
Es ist ein GAU für die Ermittlungsbehörden, der größte anzunehmende Unfall mit womöglich schweren Spätfolgen. Nach dem spektakulären Fund von Uwe Böhnhardts DNA in der Nähe der Leiche von Peggy K. gelangte aus Sicherheitskreisen plötzlich die Vermutung an die Öffentlichkeit, dass womöglich doch keine direkte Verbindung zwischen dem NSU-Rechtsterroristen und der ermordeten Neunjährigen besteht. Ein Beweis für diese Theorie steht allerdings noch aus. Doch das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Ermittler sind endgültig beschädigt – und das nicht nur in Thüringen.
Zuerst streute der Südwestrundfunk die offenbar aus Sicherheitskreisen lancierte Information, dass das an einem Stofffetzen entdeckte Genmaterial womöglich nur eine sogenannte Verunreinigung gewesen sein könnte. Einige Stunden später sprachen dann das Polizeipräsidium Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bayreuth unter dem Druck der öffentlichen Spekulationen vorsichtig von einer „möglichen Kontamination“.
Es hätten sich „mögliche Anhaltspunkte“ dafür ergeben, dass die mit der Spurensicherung in beiden Fällen befasste Tatortgruppe der Polizei in Thüringen „teilweise identisches Spurensicherungsgerät“ verwendet habe. Doch um die Annahme zu belegen oder widerlegen, seien zunächst „weitere umfassende und zeitaufwendige Ermittlungen“ nötig.
Ein Zollstock soll schuld sein
Die Nachricht fand interessanterweise ausgerechnet am Tag, nachdem Beate Zschäpe beim NSU-Prozess in München eine Aussage in Sachen Peggy angekündigt hatte, den Weg an die Öffentlichkeit. Angeblich ist ein Metermaß schuld an dem Schlamassel, ein Zollstock, mit dem an Tatorten Entfernungen beispielsweise zwischen Fundstücken gemessen und auf Fotos dokumentiert werden. Das Messgerät wurde angeblich sowohl beim Auffinden von Uwe Böhnhardts Leiche benutzt als auch kürzlich am Fundort von Peggys sterblichen Überresten.
Der jahrelang untergetauchte Böhnhardt war im November 2011 im thüringischen Eisenach in einem Wohnwagen gestorben, nachdem er und sein Freund Uwe Mundlos von der Polizei aufgespürt worden waren. Peggys Skelett war im Juli 2016 knapp 150 Kilometer südwestlich davon in einem Wald entdeckt worden, der ebenfalls in Thüringen liegt. Daher war dasselbe Spurensicherungsteam des Landeskriminalamtes (LKA) Thüringen im Einsatz. Weil jeweils derselbe Messstab benutzt wurde, könnte von diesem eine Hautzelle von Böhnhardt auf den Stoff in der Nähe von Peggy geraten sein, so die These.
Diese Erklärung wirft indes sofort wieder viele neue Fragen auf: Werden Instrumente, die an hoch sensiblen Tatorten im Einsatz sind, nie gereinigt? Und selbst wenn: Immerhin lagen zwischen dem Fund von Böhnhardts Leiche und der Entdeckung von Peggys Überresten fast fünf Jahre. Wie soll eine empfindliche Körperzelle noch in einem derart gutem Zustand sein, dass ein Labor sie eindeutig zuordnen kann? Denn auch nach der neuen Theorie wird nicht angezweifelt, dass auf dem Stoff ganz in der Nähe von Peggy tatsächlich der genetische Fingerabdruck von Uwe Böhnhardt gefunden wurde. Nur darüber, wann und wie er dorthin gelangt sein soll, wird nun neu spekuliert.
Unabhängige Stelle soll untersuchen
Völlig offen ist überdies ein anderer Aspekt: Wenn das Metermaß tatsächlich über all die Jahre Uwe Böhnhardts DNA trug, wieso ist dessen Genspur bisher an keinem anderen Tatort zu einem Fall, in den das LKA involviert ist, aufgetaucht? Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bayreuth in Sachen DNA-Spur sind auf jeden Fall noch lange nicht abgeschlossen.
Unklar ist, ob der fragliche Zollstock des Thüringer LKA inzwischen als Asservat beim Bundeskriminalamt (BKA) oder bei einer anderen Behörde eingelagert und auf Genspuren untersucht worden ist. Das Thüringer LKA – zuständig für die verantwortliche Tatortgruppe – wollte gegenüber der „Welt“ keinen Kommentar abgeben.
Sollten sich deutliche Spuren Böhnhardts an dem Instrument finden, würde sich der publik gewordene Verdacht erhärten. Ob es jedoch solche Spuren an dem Asservat gibt, ist völlig offen. Das Polizeipräsidium Oberfranken lässt in der Formulierung seiner Pressemitteilung auf jeden Fall erhebliche Zweifel durchblicken.
Um aber weitere Pannen zu verhindern, soll das „eingesetzte Spurensicherungsgerät“ nun noch einmal von einer unabhängigen Stelle untersucht werden. Außerdem würden Zeugen vernommen, um den genauen Weg der Spur, deren Sicherung und Bearbeitung in Thüringen und Bayern lückenlos zu überprüfen.
Warum hat das BKA ermittelt?
Die Ermittlungen im Fall Peggy leiten die bayerischen Behörden. Die These, dass die Tatortgruppe Thüringen und ein verunreinigter Zollstock hinter der Spur stecken könnten, basiert aber offenbar auf der Ermittlungsarbeit des Bundeskriminalamtes. Das hat sich anscheinend des Falles angenommen und soll Tatortfotos verglichen haben.
Dabei sollen die Ermittler darauf gestoßen sein, dass am Fundort der beiden Leichen ein ähnlicher Zollstock benutzt worden ist. Ob und warum das BKA den Auftrag bekam, eine mögliche Verunreinigung des Asservats zu untersuchen, ist unklar. Und vor allem stellt sich die Frage, warum die offenkundig noch nicht bestätigte These an die Presse durchgestochen wurde.
Wie sich die bayerischen Behörden und Politik nach dem DNA-Fund neben Peggys Leiche verhalten haben, war ohnehin Anlass für Verstimmungen in Thüringer Justizkreisen. Dazu zählte auch eine öffentliche Mutmaßung des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU). Er hatte unmittelbar, nachdem die böhnhardtsche Spur publik geworden war, über eine denkbare Verunreinigung des Asservats spekuliert.
Kehrtwende schadet der Justiz
Wurde dem LKA Thüringen nur leichtfertig schlampige Arbeit vorgeworfen oder lässt sich die neue These mit Fakten belegen? Bis zur Klärung dieser zentralen Frage wird es noch einige Zeit dauern. Offen ist auch, ob und wie die Tatortgruppe des LKA Thüringen befragt worden ist und wie gründlich die Spur in der sehr kurzen Zeit von wem bearbeitet wurde.
Diese neue Kehrtwende schadet dem ohnehin angeschlagenen Ansehen und der Glaubwürdigkeit von Sicherheitsbehörden aber in jedem Fall schwer, und das beileibe nicht nur in Thüringen. Probleme könnte sogar die Justiz bekommen. Denn Verteidiger und Angeklagte könnten die Frage aufwerfen, wieso in ihrem Fall ein Beweismittel hundertprozentig verlässlich sein sollte, wenn tatsächlich in derart hochkarätigen Fällen geschlampt wird.
Zum Teil werden hohe Haftstrafen auf Grundlage einer DNA-Spur ausgesprochen. Würde die Verbindung des NSU-Terroristen mit dem Fall Peggy tatsächlich auf einen Fehler der Tatortgruppe zurückgehen, dann hätte das in Thüringen schwere Konsequenzen. Gerichtsurteile, die auf DNA-Spuren basieren, würden zumindest anfechtbar.
Der DNA-Fund hat auch dazu geführt, dass in mehreren Bundesländern seither ungeklärte Fälle von Kindstötungen oder -entführungen neu untersucht werden. In Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen prüfen Ermittler mögliche Verbindungen zum rechtsextremistischen NSU.