Tagung zum NSU - Geringes Forschungsinteresse am NSU

Erstveröffentlicht: 
23.10.2016

Die Forschung zum NSU steht fünf Jahre nach Selbstenttarnung der Terroristen noch am Anfang. Auf einer Tagung in Frankfurt werden Behörden und Politik dafür kritisiert.

 

Geld und Interesse: An beidem mangelt es an Universitäten bisher, kritisierte der Göttinger Professor Samuel Salzborn am Samstag in Frankfurt: Ein Großteil seiner Kollegen interessiere sich nicht für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rechtsterrorismus oder dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), sagte der Politikwissenschaftler. An der Frankfurter Fachhochschule kamen am Wochenende mehr als 200 Menschen zusammen, auf die das nicht zutrifft – darunter viel Studierende: Eine Tagung widmete sich der Frage, wo die akademische Forschung bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes, seiner gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen steht – fünf Jahre nachdem das Terrornetzwerk öffentlich bekannt wurde.

 

Auch aufgrund mangelnder Finanzierung gelänge es bisher nicht das Thema NSU samt Forschung zur extremen Rechten und Rassismus ausreichend an den Hochschulen zu verankern, war auf der Konferenz immer wieder hören. Salzborn kritisierte etwa, dass Mittel für den Verfassungsschutz aufgestockt und nicht in Forschung investiert wurden. Der Inlandsgeheimdienst entziehe sich der Kontrolle und müsse abgeschafft werden, sagt er.

 

Es sind – auch das machte die Tagung deutlich – viele wissenschaftliche Disziplinen gefragt: Wie ist der Stand in der Rechtswissenschaft?, diskutierte eine Arbeitsgruppe. Was haben Sozialpsychologie oder Geschlechterforschung beizutragen? Was die Perspektiven derjenigen, die von rechter Gewalt betroffen sind? Und wieso kommen sie so selten zu Wort – auch in der Wissenschaft? Immer wieder wird kontrovers um die richtigen Methoden und Blickwinkel gestritten.

 

Desinteresse beobachtet Salzborn indes nicht nur in seiner Disziplin: Die überwiegende Mehrheit der Bürger habe es schlicht nicht interessiert, „wenn ihre Mitbürger von Rechtsterroristen ermordet werden“. Die Mordserie des NSU habe nicht zu einer Form „selbstkritischer Hinterfragung“ rassistischer Denkmuster in der Mehrheitsgesellschaft geführt. Das zeigten immer wieder Umfragen und nicht zuletzt Wahlentscheidungen. 

 

Kaum Konsequenzen gezogen


Eine umfassende Selbstreflektion lassen auch die Medien bisher vermissen: Bevor der NSU 2011 einer großen Öffentlichkeit bekannt wurde, hätten Journalisten meist unkritisch die Sichtweise der Ermittler referiert und die Familien der Mordopfer in die Nähe Organisierter Kriminalität gerückt, referierte die Tübinger Professorin für Medienwissenschaft, Tanja Thomas. Fehler würden vielfach nur auf sprachlicher Ebene anerkannt, etwa hinsichtlich der Verwendung des Begriffs „Döner-Morde“. Das „Medienversagen“ müsse aber auch Folgen für die journalistische Ausbildung haben, zudem bildeten Redaktionen in ihrer Zusammensetzung die gesellschaftliche Vielfalt nicht ab.

 

Über mangelnde Konsequenzen in Politik und Gesellschaft war am Freitagabend bereits im Rahmen einer öffentlichen Podiumsdiskussion debattiert worden. Die Familie des 2000 ermordeten Enver Simsek sei enttäuscht, sagte ihre Anwältin Seda Basay-Yildiz. Sie hätten kein Verständnis dafür, dass in einem Rechtsstaat bestimmte Akten nicht herausgegeben würden und die versprochene Aufklärung behindert werde: „Die Kanzlerin hat ein Versprechen gegeben, fünf Jahre danach müssen wir sagen, es ist nicht eingelöst worden.“ Die thüringische Landtagsabgeordnete Katharina König (Die Linke) kritisierte, dass die meisten Untersuchungsausschüsse zum NSU mehr „parlamentarisches und politisches Feigenblatt“ seien als ein Beitrag zur Aufklärung.

 

Der hessische Ausschuss, in dem es seit Beginn immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Regierungsparteien und Opposition kommt, sei „freundlich formuliert ein schlechter Scherz“. König warnte vor dem terroristischen Potenzial derzeit aktiver Neonazi-Gruppen. Die späte Entscheidung des Verfassungsschutzes, sich mit den „Reichsbürgern“ zu befassen, zeige, dass der Geheimdienst niemanden schütze.