Erfurt. NSU-Prozess: Fast 21 Jahre nach dem Tod eines neunjährigen Jungen wird weiter in dem Fall ermittelt. Es gibt Verbindungen zu einem späteren NSU-Mitglied. Die Tragödie, deren Ende bis heute ungeklärt ist, beginnt im Juni vor 21 Jahren. Und sie beginnt mit einer Uhr, die angeblich in einer Jenaer Grundschule gestohlen wird. Ein Schüler aus der 3. Klasse meldet den Verlust. Bernd Beckmann, sein Mitschüler soll der Dieb sein - was dieser vehement abstreitet.
Die Lehrerin spricht mit der Mutter, die zwar ihren Sohn verteidigt, aber lieber doch die 20 Mark zahlt, die die Uhr angeblich wert war. Damit, so hofft sie, ist die Angelegenheit erledigt.
Doch den Jungen scheinen die Vorwürfe zu quälen. Er vergisst seine Hausaufgaben, folgt dem Unterricht nicht.
Etwa drei Wochen nach dem Vorfall mit der Uhr, am 6. Juli 1993, kommt Bernd nach der Schule nicht nach Hause in die Wohnung in der Lutherstraße. Stattdessen findet die Mutter den Ranzen vor der Wohnungstür - und schickt die ältere Schwester los, nach ihm zu suchen. Doch vergeblich.
Im Bus nach Lobeda
Am Abend beginnen die Eltern mit der Suche, gegen 22 Uhr melden sie ihren Sohn bei der Polizei als vermisst.
Etwa zur selben Zeit sitzt Bernd im Bus ins Neubaugebiet Lobeda, dort wohnen seine Großeltern. Ein älteres Ehepaar spricht ihn an, fragt, warum er alleine unterwegs sei. In dem Gespräch, das sich entwickelt, erzählt Bernd auch von seinen Problemen in der Schule.
Alle drei steigen am Kulturhaus in Lobeda aus, Bernd geht in die Richtung des Blocks seiner Großeltern. Was er nicht ahnt: Sie sind verreist.
Das, was danach geschieht, wird nie aufgeklärt. Fest steht: Zwölf Tage später finden spielende Kinder nahe der Wohnung die Leiche des Jungen - am Ufer der Saale, in Büschen versteckt, südlich einer Gärtnerei.
Nach fast zwei Wochen hochsommerlicher Hitze ist die Leiche stark verwest. Bei der Obduktion finden sich jedoch Anzeichen dafür, dass der oder die Täter Bernd sexuell missbrauchten und erwürgten.
Er wurde neun Jahre alt.
Hinweise auf den Mörder finden sich keine. Immerhin, wenige Meter vom Fundort entfernt liegt ein weißer Außenbordmotor. Es ist dieser Motor, der eine Verbindung zu Enrico T. herstellt - und von ihm zu dem späteren, mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt.
Denn der Motor der Marke Johnson gehört zu einem Boot. Und das Boot gehört Enrico T.
Der junge Mann, damals gerade 18, ist wenige Jahre zuvor von der Rosa-Luxemburg-Schule ohne Abschluss abgegangen. Zu seinen Mitschülern gehörten dort Uwe Böhnhardt und Ralf Wohlleben. Mit ihnen gemeinsam zieht er um die Neubaublocks. Mit Böhnhardt, der zwei Jahre jünger ist, unternimmt er auch Diebeszüge.
Mindestens einmal, so berichtet es Enrico T. später, versteckt er seine Beute in einem alten Brückenpfeiler, der mitten aus der Saale ragt. Zu ihm kann er nur mit seinem Boot gelangen: einem "Ruderdingi Midi 1", außen grün und innen grau.
Doch als das Flusswasser besonders niedrig steht, versucht angeblich Böhnhardt, das Diebesgut zu entwenden. Man habe sich im Streit getrennt, sagt Enrico T., der so im Jahr 1993 zu einem Verdächtigen wird.
Allerdings wird er offiziell nur als Zeuge befragt. Denn den Ermittlern gelingt es nicht, ihm eine Verbindung zur Tat nachzuweisen. Das Boot, behauptet er, sei eine Woche vor dem Mord gestohlen worden. Irgendjemand anderes müsse den Motor am Saaleufer abgelegt haben.
Die Polizei lässt nichts unversucht. Bis hinunter nach Halle werden alle Anlegestellen kontrolliert und die Anglervereine befragt. Taucher durchsuchten die Saale. Um den Wasserspiegel des Flusses abzusenken, wird eigens die Hohenwarte-Talsperre aufgestaut.
Doch vergeblich. Das Boot bleibt verschwunden. Der Mörder wird nie gefasst.
Fast zwei Jahrzehnte später, im April 2012, wird plötzlich das tote Kind wieder thematisiert - und zwar von Enrico T. selbst, in einer Vernehmung des Bundeskriminalamtes.
Inzwischen ist sein alter Kumpel Uwe Böhnhardt tot, und der NSU, der "Nationalsozialistische Untergrund", ist aufgeflogen. Auch Enrico T. soll in die Taten der Terrorzelle verwickelt sein. Die Ermittler glauben, dass er dabei half, der Terrorzelle die Ceska-Pistole zu besorgen, mit der neun der zehn Morde begangen wurden, die dem NSU zugerechnet werden.
Die mutmaßliche Beschaffungskette ist ziemlich kompliziert. Ein Schweizer Zwischenhändler soll die Waffe nebst Schalldämpfer an Enrico T. verkauft haben. Der gab sie dann angeblich einem Freund, der sie wiederum in den Jenaer Szeneladen "Madley" brachte. Dort will sie dann der Jenaer Neonazi Carsten S. im Auftrag von Ralf Wohlleben gekauft haben. Beide sind deshalb beim NSU-Prozess in München wegen Beihilfe zu Mord angeklagt.
Enrico T., der inzwischen eine Ausbildung zum Lokführer absolviert hat, streitet in seiner Vernehmung im April 2012 alles ab. Er sei unschuldig, beteuert er, mit rechtem oder gar rechtsextremistischem Gedankengut habe er nichts zu tun. Ganz am Ende des Verhörs, als die Vernehmer keine Fragen mehr haben, möchte er aber selbst noch "etwas ergänzen"- und zwar im Mordfall Beckmann.
Dem anderen etwas "in die Schuhe schieben"
Seine Geschichte geht so: Nachdem er, T., ja nun vom NSU gehört habe, vermute er, dass Böhnhardt etwas mit dem toten Kind zu tun hatte. Schließlich habe "der Uwe" ja gewusst, wo sein Boot lag. Es könne also sein, dass Böhnhardt ihm, seinem alten Kumpan, "etwas in die Schuhe schieben" wollte.
Auf den ersten Blick scheint sich manches zusammenzufügen. Anfang jenes Jahres wird Böhnhardt wegen mehrerer Diebstähle und Körperverletzung zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Im Juni, kurz vor dem Mord, kommt er frei. T. wiederum versucht noch im selben Jahr, mit einem gestohlenen Radlader die Front einer Bankfiliale einzufahren.
Böhnhardt und T. sind also im Jahr 1993 trotz ihres jungen Alters schlicht Kriminelle. Doch wären sie imstande, einen neunjährigen Jungen zu töten? Was wäre das Motiv?
Ein früherer Neonazi aus Jena, der auch während der NSU-Ermittlungen aussagt, teilt zwar mit, dass T. angeblich "auf kleine Kinder" stehe. Allerdings ist gerade die rechtsextremistische Szene für besonders schmutzige Gerüchte bekannt.
Die gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" ermittelnde Generalbundesanwaltschaft sieht jedenfalls keinen Anlass, selbst Untersuchungen in der Mordsache Beckmann aufzunehmen - was sogar bei den sonst so kritischen Nebenklagevertretern auf Verständnis stößt. Schließlich, heißt es, könne ja Karlsruhe nicht davon ausgehen, dass der "Nationalsozialistische Untergrund" schon damals, mit einem gerade 15-jährigen Uwe Böhnhardt, seinen Anfang nahm.
Die Geraer Staatsanwaltschaft hat dennoch neue Ermittlungen aufgenommen. So lautet jedenfalls eine gestrige Agenturmeldung. Die Behörde rollte gemeinsam mit dem BKA den Fall neu auf, berichtete die Deutsche Presseagentur (dpa) - wobei sich der Verdacht gegen T. richte. Es gebe verbesserte Möglichkeiten, Spuren auszuwerten".
Wohin das zielt, schien klar zu sein. Anfang der 1990er-Jahre steckte die DNA-Analyse noch in ihren Anfängen, erst ab 1997 ist der sogenannte genetische Fingerabdruck als Beweismittel zugelassen.
Doch nur eine Routinemaßnahme?
Zumal: Asservate, die ausgewertet werden könnten, dürfte es immer noch ausreichend geben. Neben der Kleidung des Opfers sind da die vielen Dinge, die von der Polizei an der Saale gefunden wurden. Ein 100 mal 100 Meter großes Areal suchten die Beamten 1993 akribisch ab. Ob nun alte Taschentücher, Dosen, Flaschen oder Fahrscheine - alles wurde aufgehoben.
Jedoch, auf Nachfrage relativiert die Staatsanwaltschaft die Meldung. Es werde zwar ermittelt, bestätigt Sprecher Jens Wörmann. Allerdings handele es sich dabei um eine "Routinemaßnahme", so wie sie bei allen ungelösten Kapitalverbrechen in regelmäßigen Abständen üblich sei. Mord verjähre nicht.
Mit der Aussage von Enrico T. aus dem Jahr 2012 habe dieser Schritt nur bedingt zu tun, sagt der Staatsanwalt. Der Mann gelte auch nicht als Verdächtiger. "Wir ermitteln nach wie vor gegen Unbekannt."
Dies ist, so merkwürdig das klingen mag, für das Oberlandesgericht München eine gute Nachricht. Denn Enrico T. ist wegen seiner möglichen Rolle bei der Waffenbeschaffung Zeuge im NSU-Prozess - und zwar einer, der nicht reden will.
Im März dieses Jahres hat er seinen ersten Auftritt in München, wo neben Beate Zschäpe auch seinem alten Schulkameraden Wohlleben der Prozess gemacht wird. Nur stockend teilt er sein Alter (38), seinen Beruf (Lokführer) und seine Adresse (eine Wohnung in der Jenaer Innenstadt) mit.
Der Zeuge möchte "gar nichts" sagen
Danach beginnt ein juristisches Gefecht zwischen der Verteidigung von Ralf Wohlleben und dem Gericht, in das sich auch Nebenklagevertreter und Ankläger einmischen. Länger als eine Stunde streiten man darum, ob der Zeuge einen juristischen Beistand benötige, um zu erkennen, an welcher Stelle er sich womöglich selbst belaste.
Am Ende fühlt sich Enrico T. ermutigt - so wie es wohl die Absicht der Verteidigung war. Er sehe sich hier als Beschuldigter und nicht als Zeuge, sagt er. Die Polizei habe ihn wie einen Verbrecher behandelt. Er möchte deshalb "gar nichts" sagen. Daraufhin wird die Vernehmung unterbrochen.
Der Lokführer T. aus Jena ist das nächste Mal für den 2. Juli vor das Oberlandesgericht in München vorgeladen. Er darf, falls er überhaupt erscheint, seinen Anwalt als Zeugenbeistand mitbringen, der schon des Öfteren Neonazis vertreten hat.
Vielleicht fragt ihn ja der Vorsitzende Richter danach, wie das war, damals in Jena, in jenem Sommer vor 21 Jahren.