NSU-Ausschuss deckt auf: Vorsätzliche Aktenvernichtungen beim Bundesverfassungsschutz

Erstveröffentlicht: 
01.10.2016

Bundesanwaltschaft weiß Bescheid und unternimmt nichts

 

Die Aktenvernichtungen im Bundesamt für Verfassungsschutz nach dem Auffliegen des NSU-Trios im November 2011 geschahen vorsätzlich und nicht wie bisher kolportiert aus Versehen. Für diese Feststellung präsentierte der Untersuchungsausschuss des Bundestages bei seiner letzten Sitzung am Freitag Belege. Die Bundesanwaltschaft kennt den Sachverhalt seit mindestens zwei Jahren und unternahm nichts.

 

Nach der Vernichtung von Beweismaterial im Falle des NSU-Tatverdächtigen Jan Botho Werner, veranlasst durch die oberste Ermittlungsbehörde selbst, rückt damit der nächste Fall von Spurenverwischung durch Sicherheitsbehörden in den Fokus. Es sind Vorgänge, die Jahre zurückliegen und die belegen, wie sehr die Aufklärung des Mordkomplexes durch Behörden behindert wird. Der NSU-Skandal endet nicht 2011, sondern fand danach unter anderen Vorzeichen seine Fortsetzung und reicht bis in die Gegenwart.

 

Am 4. November 2011 wurde das NSU-Trio bekannt. Am 11. November veranlasste ein Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln die Löschung von Akten zu mindestens sieben Quellen im rechtsextremen Thüringer Heimatschutz (THS), in dem sich auch die NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bewegt hatten.

 

Die Aktenvernichtung sei der damaligen chaotischen Ermittlungssituation geschuldet gewesen, so die offizielle Version, wie sie auch dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages noch 2012 und 2013 erzählt worden war. Jetzt erfährt man: Der Bundestag wurde getäuscht, die Aktenvernichtung geschah aus Vorsatz, um die Verantwortung des Amtes, die drei Untergetauchten nicht gefasst zu haben, zu verschleiern.

 

Verfassungsschutz wollte Öffentlichkeit täuschen

 

Der jetzige Bundestagsausschuss Nummer zwei präsentierte dafür einen einschlägigen Beleg. Danach wurde der für die Datenlöschung verantwortliche Referatsleiter im BfV mit Decknamen "Lothar Lingen" am 24.Oktober 2014 durch den Vertreter der Bundesanwaltschaft, Jochen Weingarten, zu dem Sachverhalt vernommen und folgendermaßen zitiert:

 

Am 10. November 2011 sei klar gewesen, dass sich die Öffentlichkeit für die Quellen des Verfassungsschutzes in der rechtsextremen Szene in Thüringen interessieren werde. Und dass die Frage auftauchen werde, warum der Verfassungsschutz trotz seiner etwa zehn Quellen nicht über den Rechtsterrorismus des NSU informiert gewesen sei. Wenn aber die Anzahl der Quellen nicht bekannt würde, wird der BfV-Mann weiter zitiert, tauche vielleicht auch die Frage nicht auf, warum das BfV nichts wusste. Deshalb habe er entschieden, die Akten vernichten zu lassen. Das müsse er "ehrlicherweise" sagen.

 

Eine "vorsätzliche Aktenvernichtung" sehen darin mehrere Ausschussmitglieder. Petra Pau, Linke, betonte, dass mehr als ein halbes Dutzend V-Leute im Auftrag des BfV im THS unterwegs und zum Teil "eng am untergetauchten Trio dran" gewesen sei. Die Abgeordnete, die auch Mitglied im ersten U-Ausschuss von 2012 bis 2013 gewesen ist, kritisierte, dass dem Gremium die Aktenvernichtung damals falsch dargestellt wurde, nämlich mit einer "Situation der Überforderung des Herrn Lingen".

 

Für Irene Mihalic, Obfrau der Bündnisgrünen, kommt die Erklärung des Beamten in jener Vernehmung von 2014 "einem Geständnis gleich". Er habe zugegeben, Akten vernichtet zu haben, um Schaden vom BfV abzuwenden. "Aus eigener Motivation? Im Auftrag? Oder hat es sich um eine koordinierte Aktion im BfV gehandelt, um dessen Rolle zu verschleiern?", so Mihalic später gegenüber Presse und Öffentlichkeit im Rahmen der Statements der Obleute.