AVALANCHE - Anarchistische Korrespondenz Nr. 8 auf Deutsch

Titelseite: AVALANCHE - Anarchistische Korrespondenz Nr. 8 auf Deutsch

Es sind mehr als zwei Jahre vergangen seitdem das Projekt Avalanche gestartet wurde. Es war ein Versuch, ein internationales Instrument der Korrespondenz unter AnarchistInnen zu schaffen, die sich im weiten Feld des Konflikts wieder finden, einen Ort wo die Erfahrung des Kampfes einen Weg findet um die Grenzen zu überqueren. Viele Grenzen, nicht nur jene, die vom Staat geschaffen sind. Die Avalanche ist in Rucksäcken gereist, wurde von Hand zu Hand weitergegeben, und sprang so von einer Region zur nächsten, wobei sie zu einem internationalen, informellen Raum des Austausches und der Diskussion beitrug.

 

 

Und wie immer ist es dieses informelle Magma, aus dem neue Projekte das Licht der Welt erblicken, dass die Koordinierung zwischen Kämpfen versucht werden kann, immer ihrer Basis einer autonomen und informellen anarchistischen Bewegung treubleibend, die auf unmittelbaren Angriff, permanente Konfliktualität gegen alle Autoritäten und der Selbstorganisierung der Kämpfe drängt. In diesem Sinne ist jeder Versuch zu quantifizieren, jeder Versuch die Informalität zu messen unfruchtbar und kann nur die Anwerber zukünftiger Parteien interssieren.

 

Viele Dinge können gesagt werden über die Mängel und Fehler dieser generellen Perspektive; viele Dinge könnten gesagt werden über die Fehler und Lücken im Projekt Avalanche. Nach Diskussionen unter GefährtInnen, die in der ein oder anderen Weise an der Avalanche beteiligt sind, bleiben wir diesem Experiment treu. Durch ein paar Änderungen, die wir weiter in diesem Brief beschreiben werden, wollen wir uns den Zielen, die wir uns am Beginn dieser Reise selbst gesetzt haben, weiter annähern.

 

Zuerst wird das Editieren der Avalanche reorganisiert. Im Geiste eines wirklich grenzenlosen Instruments der Korrespondenz werden die Ausgaben der Avalanche zukünftig abwechselnd von verschiedenen Gruppen von GefährtInnen editiert werden. Sie werden für die Aussendung der Aufforderung zu Beiträgen Sorge tragen, die Texte editieren, das Editorial schreiben und so weiter.


Der Erscheinungsrhythmus, der die letzten zwei Jahre nicht gegeben war – die Avalanche kam immer dann raus wenn alle angekündigten Beiträge da waren uns sie eben fertig war – wird fixiert auf eine Ausgabe alle drei Monate. Der jeweilige Veröffentlichungstermin wird im vorhinein angekündigt sein.

 

Auf inhaltlicher Ebene wird die Avalanche ihrer anfänglichen Konzeption treu bleiben: Ein Instrument für die Korrespondenz zu sein. Das heißt, dass die Avalanche bestehen wird aus:

  • Texten, die für die Avalanche geschrieben werden (Reflexionen über Kampferfahrungen, kritische Annäherungen an alte und neue Projekte, Korrespondenz über die generelle soziale Situation, Reflektionen über die kommenden Konflikte, Vorschläge mit internationaler Reichweite,…)
  • Texten, die von GefährtInnen an die Avalanche geschickt werden (diese Texte können bereits in anarchistischen Publikationen veröffentlicht worden sein), jedoch mit einer (kurzen oder längeren) einleitenden Bemerkung versehen um den Text für das Korrespondenzprojekt zu kontextualisieren.
  • Interviews, die realisiert werden durch GefährtInnen, die an der Avalanche teilhaben (eine Weise zu Kommunizieren, die bei Zeiten mehr mit den Bedürfnissen und Möglichkeiten korrespondieren könnte als andere Wege).
  • Texte und Kommuniqués, die die Repression und eingesperrte GefährtInnen betreffen (eine Auswahl, die niemals vollständig sein kann und die von der jeweiligen Redaktionsgruppe getroffen werden wird), die naheliegenderweise schon anderweitig publiziert wurden.
  • Korrespondenz, Kommentare und Debatten über Probleme, Kämpfe, Reflexionen, die in den vorherigen Ausgaben der Avalanche aufgeworfen wurden (Briefe, die zu einer bestimmten Analyse beitragen, ein anderer Ansatz zu einer Kampfsituation, eine Kritik zu einer Analyse,… ). Die Verantwortung für das Abdrucken oder nicht Abdrucken eines Textes wird von der jeweiligen Redaktionsgruppe getragen werden.

Um es klar zu machen, diese Entscheidungen bedeuten, dass nicht länger Texte veröffentlicht werden, die nicht für die Avalache geschrieben oder uns zugesandt wurden. GefährtInnen, die wollen das ein bereits publizierter Text in der Avalanche abgedruckt wird müssen Sorge dafür tragen, dass ein Einleitungstext zu diesem geschrieben wird.

 

Die nächste Ausgabe der Avalanche wird im Dezember 2016 veröffentlicht werden. Die Deadline für Beiträge ist der 1. Dezember 2016. Beiträge können an correspondance@riseup.net gesendet werden.

 


 

Editorial:

 

Etwas orientierungslos finden wir uns mit einer widersprüchlichen und vieldeutigen Situation konfrontiert. Wenn man versucht die Welt, die einen umgibt zu beobachten, die Evolution der Beziehungen von Ausbeutung und Herrschaft in der gegenwärtigen Zeit zu analysieren, kann man nicht anders als anzuerkennen, dass viele „Gewissheiten“ auf den Kopf gestellt werden. Der Sozialstaat, der für Jahrzehnte das favorisierte Modell des Kapitals war um Profit zu generieren und gleichzeitig sicherzustellen, dass der soziale Frieden gewahrt bleibt, befindet sich in vollständiger Zersetzung. Migrationsbewegungen haben solche Ausmaße angenommen, dass in weniger als einem Jahr in manchen europäischen Ländern eine ganze neue Schicht an Proletarierinnen zur Bevölkerung hinzugekommen ist. Der Krieg, der immer präsent war – da die Herrschaft immer Krieg führt gegen die Ausgeschlossenen und Unterdrückten – kam zurück, um sich in einer noch brutaleren Weise zu behaupten: Jihadistische Anschläge in den europäischen Metropolen, eine zunehmende Militarisierung in den Straßen der Hauptstädte, eine repressive Aufrüstung, die keinen Schritt mehr zurück machen wird. Und während jede dazu aufgerufen wird auf die eine oder andere Weise daran teilzunehmen, durchläuft die Restrukturierung Phasen der Instablität und Verwundbarkeit, die Herausforderungen werden auf ganz andere Dimensionen gehoben.

 

Zur selben Zeit, während sich die Bedingungen für die Konfrontation verändern, haben sich bestimmte Horizonte keinen Zentimeter bewegt. Der große Schritt nach vorne der technologischen Entwicklung der Herrschaft scheint kaum auf Schwierigkeiten zu stoßen. Die Programme des Aufbaus und der Restrukturierung der großen unentbehrlichen Infrastruktur für die Produktion, den Konsum, die Kontrolle, den Krieg und die Entfremdung sind ehrgeizig: Neue Hochspannungsleitungen; Ausweitung des Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge und des Flugtransports; Schaltkästen und immer mächtigere Antennen um den kontinuierlichen Fluss der Daten und der Kommunikation zu erlauben; Ausbeutung neuer Energiequellen durch das Fracking; das Bauen neuer Pipelines für Gas und Öl; neuer Atomkraftwerke, Windparks, Solarpanelparks, Wasserkraftstaudämme,… Und, auf der anderen Seite weitet das Kapital den Rahmen der Ausbeutung aus, wobei es alte Widersprüche überwindet und neue erschafft. Die Forschungsprogramme für Nanotechnologie zum Beispiel intervenieren auf der Ebene des einzelnen Atoms, um Materialien zu manipulieren; in den Biotechnologischen Laboren ist die synthetische Biologie dabei die gemeine Auffassung des Organischen und des Lebenden komplett zu verändern; immer schnellere Computer erlauben Forschungsprogramme, die enorme Kapazitäten für die Berechnung benötigen (und deren Resultate fürchterliche Werkzeuge für die Aufrechterhaltung der Ordnung sein werden) für Erforschung der Genetik, DNA, der Vermessung des menschlichen Gehirns, die Analyse menschlichen Verhaltens in der realen Welt (durch Daten, die generiert werden durch die Informations- und Kommunikationstechnologien).

 

Konfrontiert mit dieser widersprüchlichen und vieldeutigen Situation, zwischen Modifizierung und Kontinuität, trifft die Orientierungslosigkeit nicht nur die Ausgebeuteten und die Ausgeschlossenen (die weiter in die Verwirrung absinken, jeden Referenzpunkt verlierend, der nicht von der Herrschaft geschaffen wurde, dem apokalyptischen religiösen Sektierertum anhängend), es trifft auch die Anarchistinnen. In diesem freigesetzten Sturm, mit peitschenden Blitzen und einer wild gewordenen See, was könnte da unser Kompass sein um weiter zu navigieren, um in der Offensive zu bleiben und weiterhin die Initiative zu ergreifen? Die Geschichtsbücher über die großen Arbeiterinnenkämpfe und ihre anarchistische Komponente? Die manchmal erstaunlichen Abenteuer autonomer Gruppen vor dreißig Jahren, die in einem Kontext der Restrukturierung, der komplett anders als der unsrige war, gewirkt haben? Ein bisschen unbefriedigend, nicht wahr? Aber trotzdem, diese Erfahrungen enthalten ein Element, das uns das Material liefern kann, mit dem wir unseren Kompass bauen. Die anarchistischen Ideen, die Identifikation jeder Macht als die Feindin, die es zu zerstören gilt, immer und überall, die aufständische Methodologie, zusammengefasst als Selbstorganisierung, permanente Konfliktualität und Angriff. Das ist ein Element und wir sollten es verteidigen, vertiefen und hochhalten: In offener Feindschaft verbleibend mit dem Bestehenden, seinen Verteidigerinnen und seinen falschen Kritikerinnen wie den neuen Leninistinnen, den Anhängerinnen der Allianzen und politischen Kompositionen und den Taktikerinnen des Possibilismus und der quantitativen Logik.

 

Die Ideen alleine reichen jedoch nicht aus. Der Wille zu kämpfen, die Courage, den Horror dieser Welt zu konfrontieren, die Entscheidung anzugreifen sind genauso wichtig. Dennoch reicht auch das nicht aus. Etwas anderes ist notwendig, man braucht ein Projekt, eine Orientierungshilfe, die all diese Elemente des anarchistischen Handelns zusammen bringt: die Ideen, die Analysen, die Methodologie, den Willen und die Perspektive. Diese Projektualität ist unser Kompass. Er ist nicht „lokal“, nicht verknüpft zu einem einzigen Kampf oder einer einzigen Intervention, er präsentiert sich in all unseren Entscheidungen, all unserer Recherche, all unseren Diskussionen. Jedoch kann man nicht darauf hoffen, dass Projektualität alle Probleme löst, die auftreten mögen, alle Hindernisse vorhersieht mit denen man sich herumschlagen muss, man kann von einer Projektualität keine Garantien erwarten. Nein, Projektualität kann uns keine Gewissheiten anbieten, sie begleitet uns nur auf dem Weg. Die Gewissheit anzukommen ist nicht Teil von ihr.

 

Viele Gefährtinnen weichen vor solchen Reflexionen zurück, oder sie weichen zurück indem sie sich die falschen Fragen stellen wenn sie sich mit der Notwendigkeit einer Projektualität konfrontieren. Welche Form unsere Projektualität auch annehmen kann, in jedem gegebenen Moment (einem spezifischen Kampf, einer Intervention in einem sozialen Aufruhr, einem autonomen Pfad der verstreuten Attacke, … ), sollte es uns nicht abschrecken, dass diese Formen in sich selbst nicht die gesamte Komplexität der Dinge abdecken können. Jede Entscheidung bringt uns dazu Erfahrungen zu machen, bestimmte Aspekte zu vertiefen, von unseren Fehlern zu lernen, und dann von Neuem zu starten, jedoch mit etwas mehr in unserem Rucksack. Ja, zu einem bestimmten Moment sollte man sich trauen, sich für einen bestimmten Weg zu entscheiden, einen bestimmten Weg, auch wenn man im Hinterkopf hat, dass dieser Weg nicht alles umfasst. In anderen Worten, man sollte sich trauen in einem bestimmten Moment der quantitativen Akkumulation der Analysen, Fähigkeiten, Kontakte,…. ein Ende zu setzen. „Die Bücher schließen“ (offensichtlich nicht um mit dem Denken aufzuhören), sondern um die Aktion möglich zu machen. Das ist der Moment wenn die Qualität ihren Auftritt hat. Lasst uns uns nicht vor der Qualität zurückschrecken. Runieren wir sie nicht mit zu viel Geschwätz, mit zu viel mentaler Masturbation: Qualität ist das Leben, wir müssen sie umarmen, nicht zurückweisen.

 

Diese aufständische Projektualität, ist sie fähig den Feind zu identifizieren? Ist sie fähig hinter die Fassade der Herrschaft zu blicken? Produktion, Arbeit, Reproduktion, Kontrolle, Krieg: All das hängt von dem guten Funktionieren dessen ab, was die Macht als „kritische Infrastruktur“ bezeichnet: Energie, Transport und Kommunikation. Die Herrschaft von morgen, die Ketten von morgen werden in den Laboratorien der Nanotechnologie, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie geschmiedet. Die aufständische Projektualität kann sich deshalb nicht darauf beschränken, sich nur in einer Weise zu artikulieren, es ist die Methodologie und die Perspektive, die all die Interventionen zusammenwebt. Hier nimmt die Projektualität die Form eines spezifischen Kampfes an, gegen den Bau einer Hochspannungsleitung oder einer Tagebau-Mine, dort drückt sie sich durch die Verbreitung von Sabotagen gegen kleine technologische und energieversorgende Strukturen aus, die über das Territorium verstreut sind, und anderswo materialisiert sie sich in der Zerstörung der Laboratorien der Macht.

 

Der zweite Aspekt dieser Projektualität ist es, darauf vorbereitet zu sein, in die Ausbrüche der Wut zu intervenieren, die nicht aufhören an den Mauern zu entstehen, welche die Eingeschlossenen und die Ausgeschlossenen trennen. Um in diesen Moment der Wut zu intervenieren, mag ein gewisser organisatorischer Vorschlag vonnöten sein, gerichtet an die Anarchistinnen als auch an andere Rebellinnen. Die informelle Organisation, die kleinen Gruppen, basierend auf Affinität und orientiert in Richtung Attacke, die Koordination unter ihnen und ein gewisses Teilen von Wissen, Informationen und Mitteln. Es wäre möglich, dass diese Form informeller Organisation zu Momenten der sozialen Explosion, wie während spezifischer Kämpfe, Teil eines Vorschlags der Selbstorganisierung sein könnte, der an die Ausgebeuteten gerichtet ist. Sogar wenn so ein Vorschlag wahrscheinlich mehr Potential als Effekt hätte, fördert er die Verbreitung der anarchistischen Methodologie und die Bewaffung der Ausgeschlossenen um den Feind zu konfrontieren.

 

Das ist heute die Herausforderung für alle Anarchistinnen, welche die aufständische Perspektive teilen: Beizutragen um diese Projektualität klarzustellen, sie zu artikulieren, ihr Leben einzuauchen und sie vorzuschlagen. Die Alternative besteht möglicherweise darin, sich selbst von den Wellen des Sturmes davontragen zu lassen um an der steinigen Küste zerschmettert zu werden. Der Feind ewartet nichts weniger.

 

Anarchistinnen aus der Umgebung des Rio Douro und der Senne.

 


 

Inhalt:

 

Frankreich - Frühling in Frankreich

Mexiko - Die Reproduzierbarkeit, die Propagierung des Angriffs gegen die Herrschaft und einige zusätzliche Punkte

Deutschland - Das Feuer in die Städte!

Schweiz - Die Welt der Autorität zerlegen

 


 

Für Kontakt oder Anfrage nach gedruckten Ausgaben schreibt an: avalanche-de@riseup.net

avalanche.noblogs.org