Seit vielen Monaten tritt der Münchener NSU-Prozess auf der Stelle. Auch nach den medial geradezu hysterisch gehypten und dann so dreisten und banalen Aussagen der beiden Hauptangeklagten kurz vor dem Jahresende 2015, nach über 60 unverschämt auftretenden Zeug_innen aus der deutschen Nazi-Szene und ständigen Ausfällen von Prozesstagen bleibt es auch nach über 250 Prozesstagen schwierig, das Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) München einzuschätzen, mit dem Geschehen außerhalb des Gerichtssaals in Beziehung zu setzen und ein Ende mit einem Urteil abzusehen.
Bizarre Ungleichzeitigkeiten des Innen und Außen des Prozesses charakterisieren die aktuelle Entwicklung: beantwortet jedoch sind die allerwenigsten Fragen vom Beginn des Prozesses, geklärt kaum eine der zahllosen, haarsträubenden Ungereimtheiten, die die Diskussion bestimmen. Gesellschaftliche und politische Konsequenzen spielen im Alltag vor Gericht und in den (unterdessen ELF) Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen so gut wie keine Rolle. Im Gegenteil, die Zuspitzung „Dem Inlandsgeheimdienst konnte nichts besseres passieren als der NSU“ ist so gültig wie am ersten Tag nach dem Aufliegen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).
Wir erinnern uns: Am 4. November 2011 ging in Eisenach ein Wohnmobil in Flammen auf. Darin wurden zwei Leichen gefunden, die offensichtlich vorher gewaltsam zu Tode kamen. Stunden später explodierte in der Zwickauer Frühlingsstraße eine Wohnung und brannte aus. In den folgenden Tagen rollte eine Lawine von ungeheuerlichen Erkenntnissen durchs Land: die beiden toten Männer in dem Wohnwagen waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die Wohnung in Brand setzte in Zwickau Beate Zschäpe, die sich vier Tage nach Eisenach den Behörden stellte. Die drei sollen der Kern einer neonazistischen Terrorbande mit dem Namen NSU gewesen sein und nach ihrem Untertauchen während der Jahre 1998 und 2011 neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin ermordet und ihren Kollegen lebensgefährlich verletzt, mindestens drei Sprengstoffanschläge, einer davon mit einer verheerenden Nagelbombe in Köln mit vielen Verletzten, verübt und (mindestens) 15 Raubüberfälle begangen haben.
Hinter dem Agieren des terroristischen NSU und seines wohl Hunderte
Personen umfassenden Unterstützer_innen-Netzwerks öffnete sich das
Panorama des wohl größten Geheimdienstskandals der Geschichte der BRD
und eines unvorstellbaren behördlichen Rassismus‘ in den
Mordermittlungen. Gegen die Familien und das soziale Umfeld der Opfer
und die Ermordeten selbst wurde über Jahre mit kruden Vorwürfen und
rassistischen Anschuldigungen ermittelt. Für die betroffenen Familien
eine bis zu einem Jahrzehnt währende Demütigung, ohne dass je auch nur
ansatzweise Spuren ins Nazi-Milieu verfolgt worden wären. Wie weit
staatliche Verstrickung in das Geschehen gegangen ist, ist bis heute
nicht im Geringsten geklärt, im Gegenteil: ein beispielloser
Vertuschungs- und Obstruktionsskandal der unter Verdacht stehenden
Behörden (Polizei, Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“,
Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischer Abschirmdienst (MAD) usw.)
überschattet selbst die Aufklärungsbemühungen Parlamentarischer
Untersuchungsausschüsse (im Bundestag I + II, in den Landesparlamenten
von Thüringen I + II, Sachsen I + II, Hessen, Baden-Württemberg,
Nordrhein-Westfalen, Bayern und ganz neu Brandenburg) und des
NSU-Prozesses vor dem Oberlandesgericht in München (seit 6.5.2013). Da
werden Informationen vorenthalten und manipuliert, Akten geschreddert
oder zurückgehalten und eine Aufklärung des Komplexes der
Nazi-Informant_innen (sog. V-Leute) hintertrieben. Viele ungeklärte
Fragen und haarsträubende Ungereimtheiten sind nach wie vor offen.
Welche nationalen Netzwerke mit dem und internationalen Verbindungen zum
NSU nachweisbar sind, ebenso.
Aber auch eine kritische und linke Öffentlichkeit hat von dem
mörderischen Agieren des NSU keine Notiz genommen und sich von den
Medien, die die Polizeiversionen ungeprüft und auflagensteigernd
skandalisiert übernahmen, den Bären der kriminellen Machenschaften im
„Ausländermilieu“ aufbinden lassen: niemand hat gegen die Etikettierung
der grausamen Hinrichtungen als „Döner-Morde“ je lautstark protestiert
oder auch nur Zweifel angemeldet. Auch nachdem in Dortmund und Kassel,
nach der Ermordung des Kioskbesitzers Mehmet Kubaşık und des jungen
Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat am 4. bzw. 6. April 2006, tausende
Menschen migrantischen Hintergrunds unter dem Motto „Kein 10. Opfer“
demonstrierten, wachte die Öffentlichkeit – mit den rassistischen
Erklärungen offenbar einverstanden – nicht auf.
Immernoch verhalten und erst langsam artikuliert sich ein Aufschrei, der
all das nicht mehr zu akzeptieren bereit ist und beginnt, eine
öffentliche Diskussion der Skandale, des behördlichen und
gesellschaftlichen Rassismus und der enormen Gefahren für das
Gemeinwesen, die von den unkontrollierbaren (Inlands-)Geheimdiensten
ausgehen, zu erzwingen. Zu dieser Diskussion soll der Vortrag von
Friedrich Burschel beitragen.
Friedrich Burschel ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Er ist akkreditierter Korrespondent des nicht-kommerziellen Lokalsenders Radio Lotte Weimar im NSU-Prozess und Mitarbeiter des Internetprojektes NSU-Watch (nsu-watch.info). Seine Audio- und Printbeiträge zum Prozess und zum NSU sind auf dem Antifra-Blog oder auf der RLS-Homepage zu finden.