Vor einem Jahr brachen in Heidenau tagelange Tumulte vor einer Asylbewerberunterkunft aus. Und heute? Besuch an einem Ort, der immer noch seine Normalität sucht.
Von Alexej Hock
Es ist ruhig geworden in Heidenau. Der Baumarkt ist noch immer von einem Zaun umgeben – jener Baumarkt, auf dessen Vorplatz am 21., 22. und 23. August 2015 fremdenfeindliche Ausschreitungen losbrachen, die Heidenau über Nacht ins Rampenlicht brachten. Damals waren hier gerade Asylbewerber eingezogen. Heute, ein Jahr danach, sind keine mehr da. Die Bewohner wurden bis Ende Juni auf andere Unterkünfte und Wohnungen verteilt. Seitdem dient der einstige Praktiker-Markt als Materiallager des Roten Kreuzes. An der Einfahrt stehen drei Security-Mitarbeiter, gelangweilt. Was ist geblieben nach den drei Tagen im August?
Unweit des Baumarktes sind zwei arabische Graffiti auf den Fußgängerweg gesprüht worden. Nicht von Flüchtlingen, sondern von Deutschen. Auf der Facebook-Seite "Heidenau-Hört zu" wurde eine entsprechende Graffitischablone zum Download angeboten. "Geht nach Hause" soll der Schriftzug übersetzt heißen. Diese und drei weitere Heidenauer Facebook-Seiten mobilisierten an den Krawallabenden die Massen. Auch heute verzeichnen sie noch Tausende Likes. Damals, im Spätsommer 2015, sprachen Politiker von einer "Pogromstimmung" in Heidenau. Heute lassen sich hier keine Massen mehr mobilisieren, stattdessen setzen rechtsextreme Aktivisten auf Einzelaktionen. Im Februar übersprühten sie den Schriftzug "Miteinander", eine Skulptur, die für Toleranz werben soll, in den Reichsfarben. Zuletzt wurden am Bahnhof Leichenumrisse auf den Boden gesprüht. Daneben Zettel mit der Aufschrift "Migration tötet". Die Stadt kommt nicht zur Ruhe.
Henning Homann ist Vizechef der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag. Vor einem Jahr wurde er Augenzeuge der Ausschreitungen. Homann, 36, beschäftigen diese Nächte bis heute, er kann sich noch an kleinste Details erinnern. Am ersten Abend der Ausschreitungen riet ihm der Einsatzleiter, nach Hause zu gehen. Man könne nicht für seine Sicherheit garantieren. Von einer Freundin hatte er an jenem Freitagabend einen Anruf erhalten: Es liege etwas in der Luft in Heidenau. Homann machte sich auf den Weg. Als er im Dunkeln das Geschehen erreichte, fühlte er sich wie zurückgeworfen. "Ich hatte einen Neunziger-Flashback."
Die Entscheidung, Flüchtlinge nach Heidenau zu bringen, fällt im August 2015 in Rekordzeit. Am Montagnachmittag werden Stadt und Landkreis informiert. Am Mittwoch kommt es zu einer ersten Demo gegen die Asylunterkunft, 200 Menschen nehmen teil. Einen Tag später sind es noch mehr. "Wenn es so klappt, wie ich mir das vorstelle, spucken wir dem Staat morgen ordentlich in die Suppe", ruft der Anmelder, ein NPD-Stadtrat aus Heidenau, ins Megafon. Am Freitag schließen sich 1.000 Menschen einer Demo durch das Stadtzentrum an. Im Anschluss strömen die meisten wieder zum Baumarkt, wo die Ereignisse ihren Lauf nehmen.
Fast alle 136 eingesetzten Beamten sind im "Kontakteinsatz". Ihre Aufgabe ist es, die Zufahrtsstraße zu dem Baumarktgelände frei zu halten, denn in den Abendstunden kommen die ersten Flüchtlinge an. Den Polizisten stehen schnell 600 Menschen gegenüber: Familien, Rentner, Radikale. Aus der Menge heraus werden die Polizisten mit Böllern und Flaschen beworfen, 31 Beamte werden verletzt.
Drei Nächte in Folge kommt es zu Ausschreitungen. Während Hooligans und Nazis am ersten Abend Gewaltorgien gegen die Polizei, Flüchtlinge und die Unterkunft unter dem Schutz der großen Menge ausüben können, sind am Folgeabend vor allem linke Demonstranten Zielscheibe des Hasses. Am dritten Abend bekeilen sich rechte und linke Radikale.
Das Bündnis "Heidenau ist bunt", das dem Hass entgegenwirken will, verzeichnete nach den Ausschreitungen einen enormen Zuspruch. Die Helfer, zwei von ihnen arbeiten in Heidenau, schreiben über Facebook, denn sie möchten anonym bleiben. "Die rechte Stimmungsmache bei Facebook ist geblieben. Die Hetze ist die gleiche, nur die Orte variieren jetzt. Es ist zur starken Vernetzung von rechten Kräften aus Freital, Dresden, Pirna und Dippoldiswalde gekommen", berichten sie.
"Ach, da kommt ja das Pack"
Fragt man Heidenauer auf der Straße, tritt bei vielen von ihnen ein anderes Thema in den Vordergrund. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Von den Medien und von Vizekanzler Sigmar Gabriel, der bei seinem Besuch in Heidenau, drei Tage nach den Ausschreitungen, das Wort "Pack" in den Mund nahm. "Dank dem sind die Heidenauer für die ganze Welt die Deppen", empört sich ein Mann. Zu den Ausschreitungen äußert er sich nicht. Ein älterer Herr erzählt, wie Verwandte in Berlin ihn begrüßt hätten: "Ach, da kommt ja das Pack", hätten sie gesagt. Das schmerze. Dabei habe er ein gutes Verhältnis zu Flüchtlingen. Die seien doch viel höflicher als so manche Heidenauer.
Viele in Heidenau sind bis heute auch sauer auf Angela Merkel. Als sie Heidenau nach den Ausschreitungen besuchte, wurde sie beschimpft und ausgebuht, vorbeifahrende Autos hupten. Eine Passantin erlangte unrühmlichen Ruhm, weil sie die Kanzlerin so unflätig beschimpfte, dass das Video davon sich weit verbreitete.
Damals empfing der CDU-Bürgermeister Jürgen Opitz die Bundeskanzlerin und verurteilte scharf jene Heidenauer, die hetzten. Viele außerhalb Heidenaus fanden das wohltuend. Zu Hause bekam er viel Ärger. Vor dem Jahrestag möchte man im Rathaus nicht mehr über die Ausschreitungen sprechen. "Die Lage hat sich wieder beruhigt. Wir wollen nicht, dass das wieder aufgefrischt wird", richtet eine Sprecherin aus. Im November vorigen Jahres erhielt Bürgermeister Jürgen Opitz für seine klare Haltung einen Demokratiepreis. Heute schweigt er.
Die Ermittlungen gegen die Täter von 2015 sind auch ein Jahr später nicht abgeschlossen. Eine Sondereinheit der Generalstaatsanwaltschaft ist mit Heidenau befasst. Insgesamt, teilt deren Sprecher mit, seien 41 Ermittlungsverfahren geführt worden, bis heute habe es schon 22 Anklagen und elf Verurteilungen gegeben. Fünf wegen Beleidigung, zwei wegen Landfriedensbruchs, eine wegen gefährlicher Körperverletzung. Es ist schwierig, Täter zu identifizieren.
Heidenau verarbeitet noch. "Das waren wohl zu viele Flüchtlinge auf einmal", sagt eine Passantin. Ein Mann erzählt, er sei damals auch vor Ort gewesen, um zu schauen. Warum so viele Menschen wie er damals herumstanden und zuschauten? "Da war halt was los."