Vorwurf des Bundesinnenministers - Fragwürdige Zahlen: Das ärztliche Attest als Rettung vor der Abschiebung?

Erstveröffentlicht: 
17.06.2016

Sind Ärzte im Umgang mit Flüchtlingen nicht hart genug? Stellen sie zu früh Atteste aus, die Abschiebungen verhindern? Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat jetzt in einem Zeitungsinterview diese Fragen aufgeworfen. Zitat: "Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden." Eine Zahl über Flüchtlinge, ein Vorwurf an Ärzte und viele Fragen. Was ist dran am Vorwurf des Innenministers?

von André Seifert, MDR Aktuell

 

Eines gleich vorweg: Die Zahl "70 Prozent" hat sich der Bundesinnenminister offenbar ausgedacht. Wie sein Ministerium am Donnerstag auf Nachfrage von MDR AKTUELL einräumte, gibt es keine Statistiken, die zeigen, wie viele Flüchtlinge aufgrund von ärztlichen Attesten nicht abgeschoben werden konnten. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Tobias Plate, bekräftigte aber: "Wir beobachten, dass es immer noch relativ viele ärztliche Atteste gibt, an denen Abschiebungen scheitern können."

 

In der Tat können ärztliche Atteste, die zum Scheitern von Abschiebungen führen, für Behörden oft zu einem Problem werden, das Aufwand und Kosten verursacht. Das bestätigen auch die Ministerien in den Ländern, Ausländerbehörden und Juristen im Gespräch mit MDR AKTUELL. 

 

Behörde kauft Ticket umsonst und muss neuen Arzt besorgen


Ein Beispiel: Nehmen wir an, der Asylantrag von X ist abgelehnt worden. X kommt vom Balkan, seine Aufnahmechancen waren von vornherein recht gering. In seiner Verzweiflung geht X zu einem Psychologen und es gelingt ihm, diesen von einem Psychotrauma zu überzeugen. Er bekommt ein Attest, das er aber nicht bei seiner Ausländerbehörde abgibt, sondern stattdessen daheim aufbewahrt.

 

Erst als einige Wochen später die Behörde vor der Tür steht, um ihn abzuschieben, holt er das Attest aus der Schublade. Die Folge: Wegen Krankheit kann X nicht abgeschoben werden, das Flugticket hat die Behörde umsonst gebucht. Und hinzu kommt: Jetzt muss sich die Behörde um einen neutralen Arzt kümmern, der X erneut untersucht.  

 

Abschiebung trotz Trauma


Das Problem ist dem Bundesinnenministerium seit Langem bekannt. Es gab auch schon einen Versuch, es zu lösen, sagt Sprecher Tobias Plate: "Nun ist es so, dass wir mit dem Asylpaket II, das im März in Kraft getreten ist, auch schon etwas unternommen haben, um die Hürde deutlich höher zu legen für solche ärztlichen Atteste. Wir müssen jetzt mal schauen, ob das Wirkung zeigt - damit die Menschen, die unser Land verlassen müssen, unser Land auch tatsächlich verlassen."

 

Konkret heißt das: Seit März können Flüchtlinge abgeschoben werden, selbst wenn ihnen ein Arzt ein Trauma aufgrund von Gewalterlebnissen bescheinigt – etwa eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung, an der sowohl Syrer als auch Sinti und Roma leiden können. 

 

Experten warnen: Psyche nicht auf die leichte Schulter nehmen


Dr. Heide Gläsmer, Psychologin an der Uni Leipzig, warnt davor, derartige psychische Erkrankungen auf die leichte Schulter zu nehmen und auf Untersuchungen bei Flüchtlingen zu verzichten: "Posttraumatische Belastungsstörungen findet man bei Menschen, die Vergewaltigungen erlebt haben, die gefoltert oder anders langfristig traumatisiert wurden. Wir werden unter den Flüchtlingen sehr viele haben, die schlimme Dinge erlebt haben und ein Risiko für psychische Erkrankungen haben. Das heißt: Der erste Schritt wäre, herauszufinden, ob jemand belastet ist."

 

Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt übrigens, dass jeder zweite in Deutschland ankommende Flüchtling psychisch krank ist. Die meisten haben demnach posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen.