Einige der Nebenklagevertreter bringen neue Beweisanträge im NSU-Prozess ein: Sie glauben, dass Verfassungsschützer einen V-Mann gezielt ins Umfeld der Rechtsterroristen gespielt hatten.
Als im Januar 1998 drei Neonazis, gerade Anfang 20, aus ihrer Heimatstadt Jena flüchteten, wurden sie zunächst nur von einer Polizeibehörde gesucht. Die drei Jenaer Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe hatten Bombenattrappen in der Stadt verteilt, zudem in einer Garage Rohrbomben gebastelt.
Mit einigen Wochen Verzögerung wurden die drei mit immer größerem Aufwand gesucht, am Ende waren 14 verschiedene Behörden in die Suche involviert. Man schickte Flugzeuge, Observationscrews, dazu wurden V-Männer befragt, Telefone abgehört, mutmaßliche Unterstützer beschattet.
Der Aufwand lohnte sich. Spätestens im April 1998 wusste etwa der Thüringer Verfassungsschutz, dass die Flüchtigen in Chemnitz untergekommen waren. Im Sommer kam man der kleinen radikalisierten Gruppe noch näher – ein V-Mann einer Verfassungsschutzbehörde bewegte sich im direkten Umfeld der drei Untergetauchten.
Danach jedoch geriet die Suche aus der Bahn – die Verfassungsschützer nutzten ihre Zugänge nicht, um die drei von der Polizei verhaften zu lassen. Die Thüringer Neonazis konnten so als Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in den nächsten Jahren Banken ausrauben, Bomben legen, neun Migranten und eine Polizistin erschießen.
Warum scheiterte die Suche nach den drei Jenaer Nazis?
Seit sich der NSU im November 2011 gleichsam selbst enttarnt hat, stellt sich jedoch unverändert die Frage: Warum scheiterte die Suche nach den drei Jenaer Nazis, obwohl die Behörden ihnen bereits so nahe gekommen waren? Dieser Punkt spielt immer wieder auch eine zentrale Rolle im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Dort sind auch etliche Anwälte vertreten, die versuchen, die Interessen der Hinterbliebenen und Opfer des NSU-Terrors zu wahren.
Einige dieser Nebenklagevertreter gehen nun in mehreren Beweisanträgen, die der "Welt" vorliegen, zunächst einen Schritt zurück. Sie fragen: Wieso kam man dem Trio überhaupt so nah? Also: War es etwa reiner Zufall, dass ein V-Mann sich schon 1998 im direkten Umfeld des Trios bewegte? Die Nebenklageanwälte, darunter Seda Basay-Yildiz und Björn Elberling, vertreten in ihrem Antrag eine klare Auffassung und kritisieren staatliche Behörden vehement: Die Verfassungsschützer hatten nicht einfach nur Glück. Man habe im Gegenteil den V-Mann gezielt in das Umfeld des Trios gespielt.
Allerdings nicht, so die These, weil man die drei auffliegen lassen wollte. Vielmehr hatte man das Ziel, "die drei Untergetauchten und ihre Unterstützer zu überwachen, um Informationen über die Organisation von Neonazis im Untergrund, die angewandte Art und Weise der Waffen- und Geldbeschaffung zu erhalten".
Durch diese Überwachung seien auch konkrete Informationen über die Gründung einer terroristischen Vereinigung durch "mindestens die drei Untergetauchten" bekannt geworden. Aber "eine Weitergabe des Wissens und Festnahme der drei" hätte "nicht im Interesse der Verfassungsschutzbehörden gelegen" – deshalb seien die notwendigen Schritte unterblieben, das Trio zu stoppen. Man habe sogar die Strafverfolgungsbehörden "in einer Art und Weise gesteuert", "die eine Festnahme der drei verhindert" habe.
Verschleierten staatliche Akteure bewusst die Wahrheit?
Einige der Nebenklageanwälte haben für den Antrag nochmals die vorliegenden Akten und Zeugenaussagen ausgewertet. Für sie steht außer Frage, dass staatliche Akteure bewusst die Wahrheit verschleiert haben – auch, aber nicht nur, als es um den Fall des V-Manns ging, der den Terroristen in spe so nah kam. Bei dem Mann handelt es sich um den Berliner Skinhead Carsten Szczepanski, Deckname Piatto, geführt vom Landesamt für Verfassungsschutz Brandenburg.
Das Amt hatte in Sachen flüchtige Neonazis das perfekte Timing: Genau im Sommer 1998 intensivierte Piatto seine Kontakte zu einigen der damals wichtigsten Unterstützer von Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos. Der V-Mann konnte bald berichten, dass ein führender sächsischer Neonazi – Jan Werner, Spitzname "der Lange" – den dreien helfe.
Werner war damals in intensivem Kontakt mit Piatto. In einer SMS fragte Werner den V-Mann: "Was ist mit dem Bums?" Offenbar erhoffte er sich von dem V-Mann Waffen. Die Anwälte zitieren nun einen Vermerk aus dem Brandenburger Innenministerium, in dem Piattos Meldung über Werners Waffenwünsche erläutert wird: "Werner hat nicht gesagt, dass er bereits Waffen beschafft oder geordert hat, sondern hat mehr den Eindruck vermittelt, dass er jemanden suche, der Waffen beschaffen kann."
Die Anwälte fragen sich, woher das Innenministerium so detailliert über die Informationen Piattos Bescheid wusste. Sie vermuten, dass bei Weitem nicht alle Meldungen des V-Mannes zu dem Thema komplett vorliegen.
Ein Problem, das auch die Nebenkläger abermals in ihrem Antrag herausstellen: Die Akten sind offenbar unvollständig. So fehlen ausgerechnet die Kurznachrichten und Telefonate, die Jan Werner nach der SMS mit dem Inhalt "Was ist mit dem Bums?" verschickt und geführt hat. Die Originalakte hatte einst das Thüringer Landeskriminalamt angelegt, als es auf der Suche nach dem Trio war.
Der Verfassungsschutz vernichtete Akten
Im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wurden sogar Akten vernichtet, in denen es um abgehörte Telefonate Werners ging, die genau in dem Zeitraum geführt wurden, als er sich um Waffen für das Trio bemühte. So schreiben die Anwälte: "Unter anderem wurden die Anlageordner zu der vom BfV bezeichneten Anordnung 774 – also der G10-[Abhörmaßnahme] gegen Werner – am 5. Dezember 2011 vernichtet."
Die Vertreter der verschiedenen Verfassungsschutzbehörden behaupten jedoch bis heute, dass die fraglichen Akten zufällig zur Vernichtung freigegeben worden seien. Es sei nichts vertuscht worden, man halte auch keine Informationen über die Suche nach dem Trio zurück, alles liege auf dem Tisch.
Viele Nebenklageanwälte sehen das nach über drei Jahren NSU-Prozess anders. Aus den Akten seien systematisch Informationen herausgehalten worden, man habe zudem die Abläufe schon 1998 verschleiert, Erkenntnisse zu spät oder gar nicht aktenkundig gemacht. Auch sei nicht verständlich, warum die Behörden bis Anfang 1999 einen großen Aufwand betrieben, die drei zu jagen, und dann, ganz plötzlich, das Interesse an ihnen verloren haben wollen.
Einige der Nebenklageanwälte glauben, dass vor allem Verfassungsschützer das Gericht in München angelogen und Erinnerungslücken vorgeschoben haben. Sie wollen daher den V-Mann-Führer von Piatto abermals als Zeugen hören und in diesem Zusammenhang alle relevanten Akten des Bundeslandes Brandenburg zu dem Thema einsehen.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hatte ähnliche Anträge bislang abgeschmettert. Erst jüngst hatte er den Antrag einiger Nebenkläger abgelehnt, den V-Mann Primus als Zeugen zu hören, obwohl er Uwe Mundlos und Beate Zschäpe beschäftigt haben soll. Selbst wenn das stimmen würde, hätte das keinen Einfluss auf die Schuld oder Unschuld der Angeklagten, so der Richter.
Die Nebenklageanwälte halten dem entgegen, dass auch die Auseinandersetzung mit den V-Männern wichtig für die "Schuld- und Straffrage" sei, auch eine mögliche "staatliche Mitverantwortung" an den Taten sei verfahrensrelevant.
Die Nebenkläger machen in ihrem Antrag daher klar, dass für sie das Oberlandesgericht in München unter Umständen nicht die letzte Instanz sein wird. In ihren Anträgen deuten sie eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, sollte die Rolle des Staates nicht abschließend geklärt werden. Sie zitieren ein Urteil gegen den Staat Türkei – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte 1998 geurteilt, dass der Staat die Pflicht hat, bei Mordfällen effektiv zu ermitteln, auch und gerade wenn staatliche Informanten involviert waren.