Was ist bloß in Sachsen los?

Erstveröffentlicht: 
12.05.2016
Auf der Suche nach Antworten reisen der Fotograf Thomas Victor und der Autor Raphael Thelen seit vier Wochen quer durch das Bundesland. Ein Gespräch über die Enthemmung im Alltag, die Wut auf der Straße – und darüber, wie Sachsen noch zu retten ist
Interview: Martin Machowecz

 

DIE ZEIT: Herr Thelen, Herr Victor, Sie fahren seit Wochen durch Sachsen, besuchen kleine und große Städte – und haben eine Webseite eingerichtet, auf der Sie von Ihrer Tour berichten. Sie suchen nach der Ursache für das, was hier schiefläuft, für all das Böse. Schon fündig geworden?

 

Thomas Victor: Wir wollen nicht nur das Böse suchen! Unser Ansatz ist eigentlich freundlich gemeint. Ich fühle mich immer unwohl, wenn die Sachsen so hart angegriffen werden. Ich bin Thüringer, stamme aus Jena, habe lange in Berlin gelebt. Ich will nicht alle Sachsen oder Ostdeutschen verurteilen. Wenn man das tut, macht man dieselben Fehler wie die Pegidisten, für die alle Muslime schlecht sind.

 

ZEIT: Was machen Sie stattdessen?

 

Victor: Wir gehen ganz offen einer Frage nach: Was steckt wirklich hinter der Erzählung, dass Sachsen eine Gegend sei, in der besonders viele Leute einen Hang zu Rechtsextremismus oder Rechtspopulismus haben?

 

Raphael Thelen: Die Sache ist, dass uns auf unserer Tour schnell klar wurde: Das Problem ist nicht kleiner, als die Medien es machen – sondern es ist eher größer. Es gibt in Sachsen wirklich ein latentes Problem mit fremdenfeindlichen Einstellungen. Wir haben uns gefragt, ob Sachsen Sündenbock oder Sonderfall ist, und mein Zwischenfazit lautet: Es ist beides.

 

ZEIT: Wie viel wussten Sie vorher über die Gegend?

 

Thelen: Ich stamme aus Bonn und lebe erst seit drei Monaten in Leipzig – und ich bin explizit hierhergezogen, weil Sachsen so oft in den Schlagzeilen ist. In den vergangenen Jahren habe ich aus Krisengebieten berichtet, war im Libanon in Flüchtlingslagern, habe im Irak gearbeitet. Nun wollte ich eigentlich nach Athen. Aber dann sah ich mir Pegida an und dachte: Oh, krass. Ostdeutschland, Sachsen, das ist gerade auch wichtig. Warum in die Ferne fahren, wenn es im eigenen Land so brennt.

 

ZEIT: Wie gehen Sie auf Ihrer Sachsen-Reise vor?

 

Thelen: Wir versuchen, an verschiedenen Orten immer mehrere Tage zu verbringen und möglichst viele Zufallsbegegnungen zu erleben. Nur wenige Gespräche sind vorher verabredet, wir wollen die Leute, mit denen wir reden, nicht nach Gesinnung aussuchen. Aus unseren Besuchen entstehen Texte, Videos, Fotos – die wir auf die Webseite stellen, neuenormalitaet.de. Die heißt so, weil seit den AfD-Erfolgen teils lapidar gesagt wird, Deutschland sei jetzt in der europäischen Normalität angekommen. Rechte Auswüchse würden dazugehören. Damit wollen wir uns nicht abfinden.

 

ZEIT: Welche Orte haben Sie schon gesehen?

 

Victor: Wir waren in Plauen, Hoyerswerda, Aue, Leipzig und Dresden, aber wir sind noch nicht fertig. In Dresden haben wir uns Pegida angeschaut oder auch den Prozess gegen Lutz Bachmann wegen Volksverhetzung. In Hoyerswerda wollten wir sehen, wie es einer Gegend geht, die wirtschaftlichen Niedergang erlebt hat.

 

ZEIT: Was ist Ihnen besonders in Erinnerung?

 

Victor: Schon Aue im Erzgebirge. Eigentlich eine wahnsinnig schöne Gegend. Als wir ein paar Tage dort waren, fand ein rechtsextremistischer "Sternmarsch" statt, kaum jemand störte sich daran. Irgendwann gab es den Punkt, da waren wir so verzweifelt, dass wir auf einen Berg hochfahren mussten – erst mal eine Zigarette rauchen, durchatmen.

 

ZEIT: Wieso das?

 

Thelen: Weil wir erschöpft waren von üblen Geschichten. Eine Weile kannst du professionelle Distanz halten. Irgendwann geht es dir selber schlecht. Wir dachten: Was zum Teufel ist in dieser Stadt los?

 

ZEIT: Was war denn los?

 

Thelen: Im Fußballstadion von Erzgebirge Aue zum Beispiel stand ich neben einem Mann, der mir nach zehn Minuten – als wäre das das Normalste der Welt – erzählte, er würde Ausländer am liebsten lynchen, wenn sie ihm begegneten. Er habe seinem Chef gesagt, dass er niemals mit Migranten zusammenarbeiten werde, der Chef habe das akzeptiert. Ein anderes Mal traf ich einen Lokaljournalisten, der sagte, die Political Correctness heute sei genauso schlimm, wie die Denkverbote in der DDR es gewesen seien, das Wort "Lügenpresse" könne er verstehen. Wir trafen einen Skateboardfahrer, der uns erzählte, dass ihm ein Nazi die glühende Zigarette auf den Hals gedrückt habe – der Vater des Nazis sei Polizist. Anderswo haben Leute mir berichtet, auf Familienfeiern könne man das P-Wort und das F-Wort, also Pegida und Flüchtlinge, nicht mehr verwenden, weil es sofort zur Eskalation komme. Mir geht das alles nahe. Das sind Bürger meines Landes, und ich bin Bürger dieses Landes. Und die reden so was.

 

Victor: In Aue, das war eigentlich der letzte Auslöser unserer Verzweiflung, haben wir eine tapfere Sozialarbeiterin getroffen, die uns schilderte, für wie verseucht sie den ganzen Landstrich hält. Das war dann der Moment, an dem wir mal kurz hoch auf den Berg mussten. Da wurde uns bewusst: Wir reden über ein Ressentiment-Problem der Mitte. 

 

"In manchen Kreisen ist es geradezu chic geworden, bösartige Dinge zu sagen"


 

ZEIT: Es war also irgendwie alles noch schlimmer, als Sie es erwartet hatten?

 

Thelen: Ja, schon. Natürlich sind unsere Erlebnisse nicht repräsentativ, aber wenn der Großteil der Gespräche in dieselbe Richtung läuft, Leute immer wieder grenzwertige Sachen sagen, wirst du irgendwann stutzig. Ich hätte es einfach nicht für möglich gehalten, dass es in diesen Kleinstädten bei vielen Leuten so eine problematische Grundeinstellung gibt. Offenbar lebt dort niemand, der Menschen widerspricht, wenn sie ihre Vorurteile ablassen. In der überwiegenden Zahl unserer Zufallsbegegnungen kamen Ressentiments zum Vorschein. Was man da alles hört: Mit der NPD müsse man doch reden. Der Vermieter unserer Ferienwohnung in Hoyerswerda, dem es gut geht, schimpfte, dass die Flüchtlinge das ganze Geld bekämen und für die Deutschen nichts bleibe.

 

ZEIT: Vielleicht geht es solchen Leuten selbst schlecht, oder sie haben Angst davor, dass es ihnen schlechter gehen könnte.

 

Thelen: Aber wieso? Nehmen Sie wieder die Gegend um Aue: Es gibt dort Mittelstand, der mich an das Schwabenland erinnerte. Eigentlich sind die Leute, mit denen wir gesprochen haben, alle gut situiert gewesen. Ich hätte gedacht, dass soziale Probleme eine große Rolle spielen würden, aber da ist auch noch etwas anderes. Früher gab es ein gesellschaftliches Tabu, das bei vielen wirkte: Wir denken manche Sachen vielleicht, aber wir sagen sie nicht. Jetzt ist dieses Tabu gefallen, und man sagt alles Mögliche überall.

 

ZEIT: Wie erklären Sie sich das?

 

Thelen: Wenn Seehofer das Grundgesetz bis zur letzten Patrone verteidigen will und Pegida-Redner unwidersprochen rassistisch daherreden dürfen, werden Tag für Tag die Grenzen des Sagbaren erweitert.

 

Victor: Ich habe 2002 schon mal in Sachsen gewohnt, da war es viel angenehmer. Jetzt finde ich, hat sich richtig was verändert. In manchen Kreisen ist es geradezu chic geworden, bösartige Dinge zu sagen. Ganz toll zu provozieren.

 

ZEIT: Könnten Sie nicht auch Opfer Ihrer Wahrnehmung geworden sein? Haben Sie vielleicht unbewusst das Finstere gesucht?

 

Thelen: Darüber haben wir natürlich nachgedacht. Aber schauen Sie die Statistiken an. Es gibt in Sachsen die meisten Konzerte von Rechtsextremen, die stärkste NPD, gemessen an der Bevölkerung die meisten Übergriffe auf Asylbewerberheime. Das ist irgendwann kein Zufall mehr. Wir treten auch nicht in die Falle zu sagen: Anderswo ist alles okay. Der krasseste Fall von Rechtsterrorismus im letzten Jahr hat sich in Köln zugetragen, wo Henriette Reker niedergestochen wurde.

 

ZEIT: Können Sie sich Sachsens Zustand nach Ihrer Reise irgendwie erklären?

 

Thelen: Es gibt nur Erklärungsansätze. Ich glaube zum Beispiel, dass die Strukturen der Rechten in Sachsen gefestigter sind als anderswo. Es kann ja sein, dass es in so einem Bundesland ein Grundrauschen gibt. Aber daraus folgt erst einmal nicht viel. Solange es niemanden gibt, der das Heft in die Hand nimmt, sitzen die Leute zu Hause auf der Couch und sagen: Ausländer sind doof. Es braucht jemanden, der sich zum Anführer macht. In Sachsen gibt es eine relevante Menge solcher Anführer. Mal ist es der NPD-Typ. Mal jemand vom örtlichen Pegida-Ableger. Solche Leute ziehen schnell die Dorfgemeinschaft auf ihre Seite. Viele Soziologen vermuten, dass das stolze Sachsentum ein Teil des Problems sein könnte, der Sachsen-Patriotismus.

 

Victor: Ich will nur nicht in die Falle tappen zu sagen: Da gibt es ein sächsisches Gen, das erklärt das Problem, und jeder Sachse ist betroffen.

 

Thelen: Auf einer unserer nächsten Stationen wollen wir uns diesen vermeintlichen Sachsen-Chauvinismus genauer ansehen. Interessant finde ich auch eine Erklärung, die mir eine Lehrerin im Verlauf unserer Reise mitgegeben hat: Die Revolutionserfahrung der Sachsen führe zu einem bestimmten Gefühl von "Zusammen sind wir stark". Das könne eine gute Wirkung haben, äußere sich nun, in diesen Zeiten, aber im Negativen.

 

ZEIT: Sie schreiben, es beeindrucke Sie, dass viele Leute wieder Engagement zeigten. Wenn auch für eine nicht so schöne Sache.

 

Thelen: Ja, eine gewisse Sympathie verspürt man ja sogar für Pegidisten – verstehen Sie mich nicht falsch, aber da sind Leute, die wollen auf der Straße etwas verändern. Und wir wissen alle, dass nicht alles perfekt läuft in unserem Land. Hartz IV, Bankenrettung, TTIP, um nur einige Dinge zu nennen. Es ist bloß schade, dass der Protest diese chauvinistischen und rassistischen Vorzeichen hat.

 

Victor: Einer sagte uns, wo soll ich denn sonst demonstrieren gehen? Pegida sei die einzige Plattform, die Ostdeutschland habe.

 

ZEIT: Gibt Ihnen irgendetwas Hoffnung für Sachsen?

 

Thelen: Wirklich alles Mögliche! Es gibt Bürgerproteste gegen Rechtsextremismus, der Ministerpräsident scheint aufzuwachen und das Problem anzuerkennen. Jetzt muss es weitergehen. Man kann Pegida und die AfD zurückdrängen, wenn sich die andere Seite mal auf die Hinterbeine stellt. Wir wollen noch mal nach Dresden und Freital, aber vor allem würden wir unsere Recherche gerne mit positiven Geschichten beenden. Es gibt ein Willkommensbündnis in Sachsen, das nicht nur Flüchtlingen hilft, sondern auch politische Arbeit macht. So haben sie die Rechten in ihrem Dorf zurückgedrängt. Ich bin mir sicher, Sachsen ist nicht verloren.