In Sorge um die neue Heimat

Erstveröffentlicht: 
11.02.2016

Woche für Woche protestieren in Deutschland Angehörige einer der grössten Einwanderergruppen – gegen Flüchtlinge. Was treibt die Russlanddeutschen an?

Ein Viertel am Rand der Kleinstadt Lahr bei Freiburg im Breisgau. Wohnblocks aus den 50er- und 60er-Jahren. Optisch erscheint alles normal, gut deutsch. Doch etwas ist anders. Auf der Strasse ist praktisch nur Russisch zu hören. Gut 40'000 Menschen wohnen in Lahr, mindestens 10'000 haben eine Vergangenheit in der ehemaligen Sowjetunion. Das ist der Grund, warum der Ort plötzlich von Journalisten aus der ganzen Bundesrepublik besucht wird. In Deutschland ist das Erstaunen gross über eine Migrantengruppe, die aus der öffentlichen Debatte praktisch verschwunden war.

 

Am Anfang stand die Notlüge einer 13-Jährigen mit russischen Wurzeln aus Berlin, die unglaubliche Wellen geworfen hatte. Nein, Lisa wurde nicht von arabischen Flüchtlingen vergewaltigt. Das Mädchen hatte sich wegen schulischer Probleme 36 Stunden bei einem Bekannten versteckt und den Eltern danach eine erfundene Geschichte aufgetischt. Die verbreitete sich rasend schnell in der russischsprachigen Gemeinschaft Deutschlands. Ein klares Dementi der Polizei bewirkte nichts. Ende Januar begannen die Demonstrationen. Zuerst in Berlin, dann in vielen weiteren Städten inklusive Lahr. Auch am vergangenen Wochenende wurde auf Russisch gegen Flüchtlinge protestiert, in Offenburg, in Bünde, in Schwäbisch-Hall …

 

Es gibt nicht nur den Fall Lisa. Unter Russischsprachigen kursieren unzählige erfundene Horrorgeschichten über Flüchtlinge, sagt Sozialarbeiter Alexander Marker. Etwa jene von der Putzfrau, die im Containerdorf für Vertriebene in Lahr ermordet worden sein soll. Marker ist ein sogenannter Russlanddeutscher. Wie fast alle Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den letzten zwei Jahrzehnten in die Stadt gezogen sind.

 

Der Ruf der Zarin


3 bis 4 Millionen Russischsprachige leben in Deutschland, darunter 2,5 Millionen Russlanddeutsche. Sie sind Nachfahren deutscher Auswanderer, die vor zwei Jahrhunderten Katharina der Grossen ins Zarenreich gefolgt waren. Stalin liess sie aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten in Westrussland nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Auch später wurden sie diskriminiert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stellten viele einen Antrag auf Rückkehr nach Deutschland. Anders als sonst Migranten wurden sie sofort als Deutsche aufgenommen, erhielten alle Bürgerrechte.

 

Mehr als 200'000 Russlanddeutsche pro Jahr kamen in den 90er-Jahren in die Bundesrepublik. In viel geringerem Ausmass hält die Zuwanderung bis heute an. Der damalige Aufwand für die Behörden ist vergleichbar mit der jetzigen Flüchtlingskrise. Denn es waren nicht einfach Deutsche, die an­kamen, sondern Menschen, die in einem völlig anderem Umfeld aufgewachsen sind. «Deutschland war für mich fremd», beschreibt die Kollegin von Sozialarbeiter Marker ihre Ankunft in Lahr. Nur schon das Deutsch sei ganz anders gewesen, als sie es von zu Hause gekannt habe.

 

Die Stadt Lahr, die überdurchschnittlich viele Russlanddeutsche aufgenommen hat, war schon einmal Thema in den grossen deutschen Zeitungen. So berichtete der «Spiegel» 1996 von «chaotischen Zuständen» an den Schulen, «ghettoartigen Siedlungen» und steigender Kriminalität. Marker erinnert sich, dass über Russlanddeutsche ähnliche Gerüchte verbreitet worden sind wie heute über Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Maghreb. Von ihnen leben derzeit etwa 900 in Lahr. «Klein-Kasachstan» nennen dessen Bürger das Viertel rund um den «Kanadaring». Einst lebten hier mehrere Tausend kanadische Soldaten und ihre Familien. Die Auflösung der Basis der kanadischen Armee Anfang der 90er-Jahre ist der Hauptgrund für die vielen Russlanddeutschen in der Stadt. Man hatte gerade freien Wohnraum.

 

Eine «ghettoartige Siedlung» ist der Kanadaring heute nicht. Im Gegenteil: Es wird gebaut, saniert, aufgewertet. Kyrillische Schriftzüge sucht man vergebens. Auch scheint sich in Lahr niemand mehr gross an den vielen Russlanddeutschen zu stören. «Einheimische» erzählen von einem unproblematischen Nebeneinander. Oberbürgermeister Wolfgang G. Müller (SPD), seit beinahe zwei Jahrzehnten im Amt, nennt die Russlanddeutschen «einen glücklichen Umstand für Lahr». Der Abzug der Kana­dier sei ein schwerer Schlag gewesen. Diesen hätten die Zuzüger aus der ehemaligen Sowjetunion nun ausgeglichen. Sie seien anerkannt auf dem Arbeitsmarkt, fleissig, wollten sozial auf­steigen. Die deutsche Migrationsbehörde kommt in einem Bericht zum Schluss: Die Integration ist geglückt. Zu den Verlierern des neuen Deutschlands ge­hören die Russlanddeutschen offensichtlich nicht.

 

Woher kommt dann diese Wut auf Flüchtlinge, die sich auf ihren Demonstrationen entlädt? Ende Januar versammelten sich nur 300 bis 400 von ihnen auf dem Marktplatz von Lahr. Die ört­lichen Russlanddeutschen-Vereine distanzierten sich. Doch im Gespräch mit Russlanddeutschen wird klar, dass die Abneigung gegenüber Flücht­lingen weit verbreitet ist. Der Arbeiter um die 50 vor dem russischen Supermarkt, die gut gekleidete Frau in der Altstadt, die junge Mutter: Alle finden es richtig, dass demonstriert wurde, auch wenn von ihnen niemand selbst dabei war. Man müsse sich vor den Flüchtlingen schützen, sagen sie. Er fürchte sich vor dem Chaos, das sie in der Stadt anrichteten, sagt der Mann vom Supermarkt. Man höre ja immer wieder von Vorfällen. Die sexuellen Übergriffe an Silvester in Köln werden mehrfach erwähnt.

 

Zwar anerkennen alle Gesprächspartner, dass auch ihnen bei ihrer Ankunft in Deutschland vom Staat viel geholfen wurde. Doch mit den heutigen Flüchtlingen wollen sie sich nicht vergleichen lassen. Sie seien Deutsche, hier zu Hause. «Wir ­haben Angst um das, was wir erreicht haben», sagt die Besitzerin des russischen Supermarktes. Elena Romme ist gut vernetzt in der russischsprachigen Gemeinschaft, politisiert für die CDU. «Viele von uns haben in muslimischen Republiken gelebt», sagt Romme. «Wir wurden verfolgt und ange­griffen. Wir kennen die Mentalität der Muslime.»

 

Versammeln sich bei den Demonstrationen der Russlanddeutschen also bloss besorgte Bürger? Migrations­forscher Jannis Panagiotidis zieht den Vergleich zu Demonstrationen von Pegida, an denen seit mehr als einem Jahr Deutsche ohne Migrationshintergrund mit ähnlichen Argumenten gegen Flüchtlinge protestieren. Die Kundgebungen zeigten, sagt der Professor aus Osnabrück, dass es unter Russlanddeutschen Entwicklungen gebe wie in der übrigen deutschen Gesellschaft. Auch das sei paradoxerweise ein Zeichen von Integration.

 

Die angebliche Vergewaltigung in Berlin war erst über die intensive Berichterstattung in den russischen Medien in Deutschland zum Thema ge­worden. Sie zeichnen schon seit Monaten ein Bild von Europa am Rande des Zerfalls – als Folge der Flüchtlingskrise. Von daher rührt die zweite These: dass die Proteste von aussen geschürt wurden, um Deutschland zu destabilisieren.

 

Forscher Panagiotidis bezweifelt das. Der Kreml habe den Fall Lisa sicher für seine Zwecke genutzt. Die Wut sei aber schon da gewesen. Allerdings sind die Verbindungen der Russlanddeutschen in die alte Heimat weiterhin stark. Viele haben dort noch Angehörige. Der Austausch werde gepflegt, der Einfluss der «russischen» Verwandten sei gross, sagt Helmut Küstenmacher. Der Pfarrer unterstützt Russlanddeutsche im bayrischen Ingolstadt. Besuche er eine Familie, laufe oft russisches Fernsehen.

 

Dennoch wurden sowohl Küstenmacher als auch die Sozialarbeiter in Lahr von den Demonstrationen überrascht. Die Russlanddeutschen galten als unpolitisch. In Lahr wurde laut Marker am Vortag plötzlich über die Demonstration gesprochen. Via Nachrichtendienste wie Whatsapp wurde in scharfem Ton zum Protest aufgerufen. Die Wortführer seien Auswärtige gewesen, sagt Oberbürgermeister Müller. In anderen Städten sei das ebenfalls beobachtet worden.

 

Das Kalkül der Rechtsextremen


Wer tatsächlich hinter den Demonstrationen steckt, ist ungeklärt. In Lahrs Nachbarstadt Offenburg war am letzten Wochenende eine bislang unbedeutende rechte Russlanddeutschen-Partei mit dem Namen «Einheit» präsent. Aktiv ist auch der rechtsextreme «Konvent der Sowjetdeutschen» – mit Verbindungen in den Kreml. Er versucht schon seit längerem, in Deutschland politisch Fuss zu fassen. Zudem wurden Vertreter von Rechtsaussenparteien wie der NPD an Demonstrationen ge­sehen. Sie alle lockt das Stimmenpotenzial der traditionell CDU wählenden Russlanddeutschen.

 

Der Eindruck, den diese Auswärtigen bei den Russlanddeutschen in Lahr hinterlassen haben, war jedoch nicht der beste. Die Sozialarbeiter wie auch die Supermarktbesitzerin sagen, viele schämten sich heute für ihre Teilnahme an der Demonstration. Auch weil der unter den Russlanddeutschen beliebte Bürgermeister heftig angefeindet wurde, als er die Menge vor Ort zur Rede stellte. Eine zweite Demonstration hat es in Lahr bislang nicht gegeben. An anderen Orten wird weiterhin protestiert. Der Fall Lisa ist dort kein Thema mehr. Es gibt neue erfundene Untaten von Flüchtlingen, mit denen sich Stimmung machen lässt.