BERLIN. Es sind verrückte Zeiten, die die Politiker im Bundestag erleben. In der CSU und in der CDU sehnen sich nicht nur Innenexperten und konservative Bedenkenträger wehmütig nach dem Sozialdemokraten Otto Schily, der als Bundesinnenminister „für Recht und Ordnung“ gesorgt habe, selbst mit der umstrittenen These „Das Boot ist voll“.
Die obersten Bedenkenträger von CSU und CDU haben nun offenbar eine Gefolgsgenossin im Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik der eigenen Kanzlerin gefunden – bei den Linken. Die Flüchtlingspolitik habe in Deutschland zu einem „völligen Staatsversagen“ geführt, „auf sozialem Gebiet ebenso wie auf dem der inneren Sicherheit“. Das sei „wirklich unverantwortlich“. So formuliert es Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Bei der CSU-Führungsklausur in Kreuth hieß es vor einer guten Woche, würde Angela Merkels Linie der ungebremsten Willkommenskultur nicht gestoppt, gehe Deutschland „vor die Hunde“. Mit dem Verantwortlichen für diese Einschätzung aus der CSU sitzt die Regierungschefin regelmäßig in Entscheidungsrunden zusammen. Deutschland „würde zerreißen“, sollte es erneut eine Million neuer Flüchtlinge geben, sagt nun Sahra Wagenknecht.
CSU-Chef Horst Seehofer hat für Deutschland eine Obergrenze für Flüchtlinge von „bis zu 200 000“ festgelegt. Sie dürfte Ende Februar, Anfang März erreicht sein. Und dann? Bei dieser Frage schweigen nicht nur die führenden Unionspolitiker, sondern auch die Sozialdemokraten.
„Natürlich gibt es Kapazitätsgrenzen, wer das leugnet, ist doch weltfremd“, sagt Sahra Wagenknecht. Ihre eigenen Leute hadern mit ihr, weil sie ein wenig leichtfertig das Menschenrecht auf Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge mit dem Begriff eines „Gastrechts“ beschrieb, das man verlieren könne, wenn man sich, wie jüngst Silvester in Köln, nicht an ein verträgliches Regelwerk halte. Wo die Obergrenzen zur Aufnahme von Flüchtlingen liegen, hänge aber auch von der Politik ab, betont Wagenknecht. „Sie wären höher mit einer sozial gerechten Politik, einer höheren Reichenbesteuerung und mehr sozialem Wohnungsbau, aber auch dann gäbe es welche.“ Die Bundesregierung müsse zudem endlich mehr tun, um Fluchtursachen zu beseitigen. „Dazu gehört, den Krieg in Syrien nicht weiter zu eskalieren und den Bürgerkrieg möglichst schnell zumindest in den Teilen Syriens zu beenden, wo der IS noch nicht ist. Dann könnten Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Das muss doch das Ziel sein“, meint Wagenknecht. „17 Milliarden Euro zusätzlich haben allein die Bundesländer jetzt für die Kosten der Integration eingestellt. Mit 5 bis 10 Milliarden an direkter Hilfe für die Flüchtlingslager in der Region wäre dort vielen Millionen Menschen geholfen.“
In diesem Zusammenhang kritisierte die Linken-Politikerin erneut scharf die der Türkei versprochene Finanzhilfe. „Die 3 Milliarden Euro, die die EU an den Autokraten und IS-Unterstützer Erdogan überweisen will, sollte man sich sparen.“ Auch bei der CSU-Klausur in Kreuth und bei der CDU-Spitzenrunde in Mainz am vergangenen Wochenende hatte es beträchtliche Kritik an der Flüchtlingspolitik der Türkei gegeben. Der CSU gelingt gleichwohl auch die Abgrenzung. Der Generalsekretär der Christsozialen, Andreas Scheuer, löste gestern Empörung mit einem neuen Vorschlag in der Flüchtlingspolitik aus. Scheuer will Flüchtlinge, die eine Straftat begangen haben, auch ohne Prozess abschieben. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) konterte: „Wer verdächtige Flüchtlinge ohne Prozess abschieben will, hat offensichtlich nicht verstanden, dass wir in einem Rechtsstaat leben.“
Aus Bayern kam gestern ein medienwirksames Signal gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Der Landshuter Landrat Peter Dreier (Freie Wähler) schickte einen Bus mit 31 Flüchtlingen auf die Reise zum Kanzleramt nach Berlin. Damit wolle er „ein Zeichen setzen, dass es so wie bisher in der Flüchtlingspolitik nicht weitergehen kann und darf“, sagte der Landrat aus Niederbayern.
Flüchtlingsausweis kommt: Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag am Donnerstag die Einführung eines Flüchtlingsausweises beschlossen. Linke und Grüne enthielten sich. Mit dem Ausweis sollen Probleme bei der Registrierung von Asylbewerbern gelöst und der Datenaustausch der Behörden verbessert werden. Bis zum Sommer soll der neue Ausweis flächendeckend eingeführt sein. Von jedem Flüchtling wird dann ein Datensatz angelegt, auf den alle zuständigen Stellen zugreifen können. Gespeichert werden sollen unter anderem Fingerabdrücke und Herkunftsland, aber auch Angaben über Ausbildung und Qualifikation.