Anger-Crottendorf. Die Angst vor der Gentrifizierung geht um – auch in Leipzig. In Plagwitz werden in Bestlagen bereits bis zu 4000 Euro Kaufpreis pro Quadratmeter aufgerufen. Jetzt machen die Anwohner in Anger-Crottendorf mobil: Sie könnten die nächsten Leidtragenden im Sog des Immobilienbooms und steigender Mieten sein.
Der Stadtteilladen Zweieck in der Zweinaundorfer Straße 22 ist dabei zu einer Art Zentrum des Widerstands geworden. Dort sitzt Alexander Hüser, Anfang 20, blondes kurzes Haar, vor vollem Haus: Rund 30 Anwohner vom Kleinkind bis zum Rentner sind zur Ausstellungseröffnung „Heute Fabrik verkauft – morgen steigen unsere Mieten“ gekommen. Jeder Platz in dem kleinen Laden ist besetzt. Ihnen will der Student nun erst einmal den sperrigen Begriff Gentrifizierung nahebringen. Und dabei sieht er sich selbst durchaus als Teil des Problems.
Stadtteile mit großem Leerstand und niedrigen Mieten zögen zunächst Studenten und Kreative an, erläutert Hüser. Dann machten Cafés und Ladenprojekte auf – „es setzt ein kultureller Wandel ein und das Viertel wird für Bauträger attraktiv“. Schließlich, und das zeigt der Student nun anhand eines Werbefilms aus Plagwitz, ziehen die Mieten in der Umgebung der luxussanierten Gebäude an. In Plagwitz waren die Globuswerke Auslöser, in Anger-Crottendorf könnte der gleiche Prozess durch den Verkauf der Karl-Krause-Fabrik in Gang kommen.
In der Ausstellung sind historische Bilder, aktuelle Zeichnungen und beeindruckende Fotos der gewaltigen Maschinenfabrik zu sehen, die Gründervater Karl Krause ab 1873 auf den Kohläckern der Dörfer Crottendorf und Anger errichtete. Nach der Enteignung zog der VEB Polygraph ein. Im Jahr 2014 erwarb die Deutsche Gesellschaft für Grundbesitz AG mit Sitz in der Karl-Tauchnitz-Straße das östliche Polygraph-Gelände. Für rund65 Millionen Euro soll das verwaiste Areal nun zu einem modernen Wohnstandort entwickelt werden (die LVZ berichtete). Das alte Fabrikgebäude soll dabei Raum für 100 Loffts bieten. Bereits vor einiger Zeit war die benachbarte ehemalige Fabrikantenvilla von Karl Krause wieder hergerichtet worden. Damals bewertete ein Denkmalschützer der Stadtverwaltung die Sanierung als „eine Chance für das gesamte Viertel“.
Die Studenten und Besucher im Stadtteilladen sehen das ganz anders: Steigende Mieten könnten nun vor allem die Arbeitslosen aus dem Quartier vertreiben. Denn diese müssen sich an die Höchstsätze der ALG-II-Leistungen halten. „Auch das sanierte frühere Klang- und Fernmeldewerk in Stötteritz sieht sehr schön aus, aber ich käme dort nicht unter“, nennt eine Bürgerin ein weiteres Beispiel für diesen Trend.
Schon jetzt liegt die Durchschnittsmiete in Anger-Crottendorf bei Neuvermietung über dem ALG-II-Satz. Das haben die Betreiber des Stadtteilladens, zu denen neben Hüser noch Pit Strub, Valerie Engelhardt und Janne Joost-Krüger zählen, in einer Umfrage herausgefunden. Von der Stadt Leipzig gebe es kaum Informationen und Dokumentationen über den sich rasch wandelnden Markt, beklagt Hüser. Auf der Straße sprechen die Studenten Anwohner an und tragen deren Mietniveau auf einer Karte ein, die im Laden eingesehen werden kann: Grün steht für Mieten unter dem ALG-II-Satz, Rot für Mieten darüber.
Ein buntes Kulturprogramm soll Betroffene im Stadtteilladen Zweieck zusammenbringen. Mehr Informationen aus ähnlichen Sanierungsgebieten und zu den Planungen in der Karl-Krause-Fabrik sollen eingeholt, Politiker im Stadtrat mobilisiert werden. In Berlin wurde der Begriff Gentrifizierung geboren. Dort gehen die Leute gegen Verdrängung und steigende Mieten bereits in Massen auf die Straße.
Berlin könnte auch ein Vorbild für Leipzig sein. Das erhoffen sich die jungen Leute von ihrem Stadtteilladen jedenfalls.
Die Ausstellung in Kooperation mit dem Bürgerverein Anger-Crottendorf läuft noch bis heute. Sie wird ab 19 Uhr mit einem musikalischen Abend beendet. Erneut besteht die Möglichkeit zur Diskussion. Der Stadtteilladen Zweieck befindet sich in der Zweinaundorfer Straße 22.