Berlin. Vor rund vier Wochen hat das für die Geheimdienste zuständige Kanzleramt ein brisantes Informationspaket erhalten. Auf gut 900 Seiten waren Kommunikationsdaten, beispielsweise Suchbegriffe, Telefonnummern, Mail- und IP-Adressen, aufgelistet. Alles hoch geheime Daten. Nicht alles könne möglicherweise mit dem geltenden Auftrag für den deutschen Auslandsgeheimdienst BND in Übereinstimmung sein, wurde seinerzeit eingeräumt. Das ergibt sich aus Informationen von Beteiligten, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland, dem auch diese Zeitung angehört, vorliegen.
Seit zwei Wochen haben die Bundestagsexperten Armin Schuster, CDU, Uli Grötsch, SPD, und Hans-Christian Ströbele, Grüne, in der Geheimschutzstelle des Bundestages das Dokument studieren können. Offenbar hat der Bundesnachrichtendienst auch Spionage unter Freunden betrieben. Betroffen seien unter anderem der deutsche Top-Diplomat Hansjörg Haber, Frankreichs Außenminister Laurent Fabius, zivile Nichtregierungsorganisationen wie Care, Oxfam, das Komitee vom Internationalen Roten Kreuz, aber auch Institutionen vom Vatikan bis zu den USA.
Es könnte sein, dass der BND „ähnlich verfahren ist, wie die in der Kritik stehende National Security Agency (NSA) der USA“, sagt ein mit der Sache eng vertrauter Experte. Diese Praxis habe jahrelang vorgeherrscht. Unklar ist, wann die Praxis tatsächlich gestoppt worden ist. Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2013 erklärt, ausspähen unter Freunden, „das geht gar nicht“.
Kurz zuvor war bekannt geworden, dass die NSA – teilweise mithilfe von partnerschaftlichen BND-Informationen und unter Zuhilfenahme umfangreicher Selektoren – auch in Deutschland sehr aktiv gewesen sei. Selbst das Kanzlerinnen-Handy soll abgeschöpft worden sein.
Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, genieße dennoch „das Vertrauen“ der Bundesregierung, sagte gestern im Auftrag der Kanzlerin die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Wirtz. Das Kanzleramt wolle im engen Kontakt mit dem BND die Vorwürfe aufklären. Sicherheitshalber ergänzte die Sprecherin: „Im Auftragsprofil des BND ist die politische Ausspähung von Partnerstaaten nicht vorgesehen.“
Dieses hoch geheime Tätigkeitsprofil für den BND wird von der jeweiligen Bundesregierung festgelegt. Ausgeschlossen ist aber nach gesetzlicher Grundlage unter anderem, dass der BND deutsche Staatsbürger auf deutschem Staatsgebiet ausforscht. „Niemand im Auswärtigen Amt würde erwarten, vom BND abgehört zu werden“, versicherte der Sprecher des Außenministeriums, Martin Schäfer. Aber deutsche Diplomaten wüssten natürlich, dass sich andere für ihre Tätigkeit interessierten, und träfen entsprechende Vorkehrungen.
Von „sehr, sehr ernsthaften Vorwürfen“ einer umstrittenen BND-Abhörpraxis spricht der stellvertretende Vorsitzende des Parlamentarischen Gremiums zur Kontrolle der Geheimdienste, der CDU-Bundestagsabgeordnete Clemens Binninger. Gegenüber dem RND betonte er zugleich die Dringlichkeit einer Reform des entsprechenden Paragrafen des BND-Gesetzes. „Wir wollen Regierung und Institutionen klar schützen.“ Das Kontrollgremium diskutierte die Vorgänge gestern Abend in geheimer Runde. Binninger verweist auf die Pläne in der Koalition, die Regelungen zum Schutz europäischer Institutionen und Adressen im Rahmen einer BND-Gesetzesreform zu verbessern. Die aktuell diskutierten Vorwürfe würden von den parlamentarisch zuständigen Gremien bereits seit vier Wochen untersucht. „Wir prüfen die Vorwürfe parlamentarisch intensiv, dafür brauchen wir keinen Untersuchungsausschuss.“ Der Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz erklärte, notfalls werde es zur vollen Aufklärung dennoch einen Untersuchungsausschuss geben, falls man in den bestehenden Gremien nicht weiterkäme. Von Notz stellte zudem den Verbleib von BND-Präsident Gerhard Schindler auf seinem Posten infrage. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour sagte, die jüngste Affäre stelle „eine Blamage für Deutschland“ bei seinem Standing in der Europäischen Union dar.