Wer hat Angst vor der Schnipselmaschine?

Erstveröffentlicht: 
12.11.2015
In der Stasi-Unterlagen-Behörde lagern 16 000 Säcke mit geschredderten Stasi-Akten. Ein neuartiger Automat könnte sie wieder zusammensetzen, aber die Politik blockiert seit Monaten das zugesagte Geld. Warum nur? Von Jörg Köpke

 

Berlin. Bertram Nickolay steht in Berlin-Charlottenburg in einer kreisrunden Halle. Das Herzstück des Fraunhofer-Instituts misst im Durchmesser fast 100 Meter und ist vier Stockwerke hoch. Von diesem Institut aus traten schon Erfindungen wie das MP3-Format zum Komprimieren von Musikdateien ihren Siegeszug an. Nickolay, Abteilungsleiter für Sicherheitstechnik, ist überzeugt, ähnlich Revolutionäres zeigen zu können.

 

Aus einem schmalen, grauen Pappkarton holt ein Mitarbeiter Papierschnipsel unterschiedlicher Größe, Farbe und Beschriftung, legt sie in Plastikhüllen und schiebt diese in einen Scanner. Die Software ordnet die Fetzen nach ihrer Beschaffenheit, prüft danach bis auf den Pixel genau Risskanten sowie Farbe, Textur, Linierung und Schriftbild. Nach wenigen Sekunden sind ganze Seiten am Bildschirm virtuell zusammengesetzt. Alles ist lesbar. Selbst der Stasi-Stempel mit dem Vermerk „Streng geheim“ ist klar zu erkennen.

 

Die „Stasischnipselmaschine“ macht Unmögliches möglich: Aus 600 Millionen Teilchen geschredderter Stasi-Akten könnte sich bald ein völlig neues Bild vom Geheimdienst der DDR ergeben. Wenn die Politik es nicht verhinderte.

 

Eigentlich hat der Bundestag bereits vor einem Jahr den Weg für weitere zwei Millionen Euro frei gemacht, damit die Fraunhofer-Experten mithilfe ihres Automaten endlich in großem Stil die Hinterlassenschaften der Stasi zusammensetzen können. Für Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, ist die Sache damit erledigt: „Der Bundestag hat weitere Millionen bewilligt. Dafür bin ich sehr dankbar.“

 

Der Haken ist bloß: Die Millionen fließen nicht. Seit Januar 2014 konnte aus Geldmangel kein Schnipsel mehr eingescannt werden. Wenn der Haushaltsausschuss des Bundestages an diesem Donnerstag die Auszahlung verweigert, ist das Projekt am Ende. „Mächtige Leute wollen offenbar nicht, dass wir weiterarbeiten“, sagt Nickolay. Aber wer sind diese Leute?

 

Panik brach aus im Herbst 1989. Vier Jahrzehnte lang hatte das Ministerium für Staatssicherheit die Bürger der DDR bespitzelt und seine eigenen Verbrechen akribisch dokumentiert. Nun galt es, Hunderttausende heikler Akten vor dem Zugriff der Nachwelt zu schützen. Der DDR-Geheimdienst verbrannte und schredderte bergeweise Papier. Mehr als zwei Monate stieg über der Stasi-Zentrale an der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg schwarzer Rauch auf. Irgendwann liefen auch die letzten Reißwölfe in Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen heiß. Stasi-Chef Erich Mielke ordnete an, per Hand weiter zu zerreißen. Nach dem Mauerfall am 9. November wurden so aus 45 Millionen Seiten 600 Millionen unlesbare Schnipsel in 16 000 Papiersäcken.

 

Bevor die „vorvernichteten“ Unterlagen verbrannt werden konnten, stürmten wütende DDR-Bürger den Stasi-Block an der Normannenstraße. Seit jenem 15. Januar 1990 wartet das Stasi-Puzzle darauf, wieder zusammengesetzt zu werden.

 

Der Saarländer Nickolay hatte vor fast 20 Jahren die Idee zu dem Projekt. Ein guter Freund, DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, starb mit nur 48 Jahren an Leukämie. Viele glauben, die Stasi habe ihn gezielt radioaktiv verstrahlt. Nickolay hat die Suche nach der Wahrheit seitdem nicht mehr losgelassen. Im Dezember 2013 gewann sein Team für den „ePuzzler“ den begehrten europäischen EARTO-Innovationspreis. Spätestens da musste dem letzten Zweifler einleuchten, dass eines der größten Rätsel der jüngeren deutschen Geschichte kurz vor seiner Auflösung steht. Inzwischen wurden 702 584 Schnipsel aus 23 Säcken eingescannt und 45 514 Blätter aus zwölf Säcken rekonstruiert. Weitere 6600 Seiten stehen unmittelbar vor der Fertigstellung. Doch nun geht es nicht mehr weiter.

 

Wie verfahren die Lage ist, zeigt ein Schreiben von Finanzstaatssekretär Jens Spahn (CDU) an seinen Berliner Parteikollegen Swen Schulz vom 11. September. Spahn zitiert darin Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU). Demnach seien die 2 Millionen Euro nicht geflossen, weil „das Projekt momentan nicht ausfinanziert ist“. Insgesamt seien eigentlich 6 Millionen Euro nötig. Nickolay nennt das „völligen Quatsch“. Erstens habe er nicht mehr Geld verlangt. Und zweitens könne das Fraunhofer-Institut auch mit zwei Millionen Euro starten.

 

Dass es Widerstände gibt, ist nicht neu. Bereits in den Neunzigerjahren hatte sich der heutige Bundespräsident Joachim Gauck, damals Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, quergelegt. Gauck wollte die Akten mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern sichten, wandelte sogar deren befristete Verträge in Festanstellungen um. Viele der früheren Spitzel arbeiten deshalb noch heute für die Behörde. Sie dürfen bis heute mitbestimmen, wer wann was lesen darf. 2011 musste der oberste Personalrat gehen, weil er als inoffizieller Mitarbeiter (IM) enttarnt worden war.

 

Vielleicht liegt es auch an diesen Verquickungen, dass sich in den ersten Säcken, die Nickolay aus der früheren Stasi-Bezirksverwaltung Magdeburg bekam, Müll, Speisepläne und Kaffeezettel befanden – und sonst nichts. Erst mit Eingreifen einiger Bundestagsabgeordneter kamen Unterlagen „mit begründeter Aussicht auf relevante Inhalte“ beim Fraunhofer-Institut an.

 

Dass DDR-Geheimdienstler kein Interesse daran haben, Licht ins Dunkel ihrer früheren Arbeit zu bringen, dürfte niemanden ernsthaft verwundern. Immerhin beinhalten die Säcke Informationen aus den Hauptabteilungen VI und XX. Die Spitzel überwachten so sensible Bereiche wie die Blockparteien, die NVA, das Dopingprogramm der DDR, die Opposition, die Kirchen sowie SED-Feinde im Westen. Nicht minder delikat war die Arbeit der Abteilung III. Sie war für die „Kontrolle und Überwachung von Funknetzen und Nachrichtenverbindungen der Nato-Staaten“ zuständig und ließ im „Operationsgebiet“ Bundesrepublik eine halbe Million Telefonanschlüsse abhören, darunter auch die des Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU). Kohl gab 2007 in seinen „Erinnerungen 1990 bis 1994“ zu Protokoll, er hätte es besser gefunden, alle Stasi-Unterlagen unter Verschluss zu halten oder zu vernichten. „Ich fürchtete, der ganze Unrat, der da hochkommen würde, könnte das Klima in Deutschland vergiften.“

 

Liegt der Schlüssel für den zähen Geldfluss also vielleicht sogar beim Kanzler der Deutschen Einheit? „Einige mächtige Personen in Ost und West haben es nicht so gern, dass bestimmte Dinge an die Öffentlichkeit gelangen“, sagt die Düsseldorferin Beatrix Philipp, von 1994 bis 2013 Bundestagsabgeordnete der CDU und glühendste Befürworterin des Fraunhofer-Projekts. Mit Widerstand aus der Linkspartei habe sie gerechnet. Dass aber auch Kollegen aus der Union vehement blockieren, überrascht die 70-Jährige. Sie sei in ihrer langen politischen Arbeit „noch nie so belogen worden wie beim Thema virtuelle Rekonstruktion“. Viele Parteifreunde, zuletzt im Forschungsministerium, hätten ihr versprochen, die nötigen Gelder freizugeben. Philipp: „Beim letzten Mal hieß es, man habe die Zahlungsanweisung vergessen. Vergessen! An Zufälle mag ich nicht mehr glauben.“

 

Ein Zufall war es sicherlich auch nicht, dass Mielkes Apparat zwischen 1977 und 1990 das dunkle Finanzgebaren von CDU und CSU ausforschen ließ. Kohls Schatzmeister Uwe Lüthje beschaffte zwischen 1971 und 1988 diverse dubiose Millionen für seine Partei. Er war fast durchgängig Zielperson der DDR-Staatssicherheit.

 

Auch bei der SPD hält sich das Interesse an Aufklärung in Grenzen. Spitzengenossen pflegten enge Kontakte zu SED-Funktionären. Wolfgang Thierse (SPD), Beiratsmitglied der Stasi-Behörde, äußert sich nicht. Und die Grünen? Offenbar hat die Stasi die „Chaostruppe im Westen“ seit Ende der Siebzigerjahre wie zuvor schon einige andere „fortschrittliche linke Kräfte der BRD“ massiv unterstützt. Alles nur Zufall?

 

Fest steht: Im vergangenen Juli hat sich sogar der sonst eher zurückhaltende Bundesrechnungshof eingeschaltet. Er prüft mutmaßlich zweifelhaftes Finanzgebaren – nicht jedoch das der Unionsparteien oder das der Grünen, sondern das des Fraunhofer-Instituts. Dessen Experten arbeiteten angeblich zu langsam – und seien zu teuer.