Das Murren über Merkel wird lauter

Erstveröffentlicht: 
27.10.2015
In der CDU wächst wegen der Flüchtlinge die Unruhe – doch schon bei Wehrpflicht und Atomkraft folgte die Partei am Ende der Chefin

Von Jörg Köpke

 

Berlin. Gelber Putz, grüne Fensterläden, braune Sprossenfenster: Im Erdgeschoss des Gründerzeithauses an der Großen Hamburger Straße in Berlin begrüßt seit mehr als 100 Jahren ein kleines Café seine Gäste. „Zwei Weltkriege, Inflation, die DDR, die Wende – alles haben wir in Familienbesitz überlebt“, preist Inhaberin Sandra Bayram die Widerstandsfähigkeit ihrer kleinen Wohlfühloase. Selbst der Name ist Programm und passt wie zufällig auch noch zur Flüchtlingskrise: „You’re welcome“ – „Du bist willkommen“.

 

Wenn Dieter Schulze diese Worte liest, wird ihm mulmig. Seit 2007 organisiert der 76-jährige CDU-Politiker aus dem Bezirk Mitte im „You’re welcome“ den „Kommunalpolitischen Abendschoppen“. Früher assoziierte er den Willkommensgruß über der Eingangstür mit deutscher Küche und Bier vom Fass. Inzwischen liegt ihm die von seiner Kanzlerin und Parteivorsitzenden Angela Merkel propagierte Willkommenskultur schwer im Magen.

 

Bislang beherrschten seinen „Abendschoppen“ Themen wie der Bezirkshaushalt oder die Jugendverkehrsschule Moabit. Doch Schulze weiß: „Die Flüchtlingsfrage wird auch heute wieder alles überlagern.“ Fast zwei Stunden lang wird hitzig debattiert und diskutiert. „Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass im Winter einer der Flüchtlinge auf offener Straße mitten in Berlin erfriert“, sagt einer der etwa 20 Anwesenden. Ein anderer erregt sich: „Mutti Merkel ist die Regie aus der Hand geglitten. Das werden wir bei der nächsten Wahl zu spüren bekommen.“ Ein älterer Herr hält dagegen: „Verdammt noch mal: Wir sind reich genug. Wir müssen das regeln. In der Bibel steht: Unser täglich Brot gib uns heute – und nicht nur: mein Brot.“ Und über allem schwebt ein berühmter Satz der Kanzlerin, ausgesprochen am 4. September: „Wir schaffen das.“

 

Schaffen wir das? In Berlins Mitte, wo an der zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende jeden Tag Tausende neue Flüchtlinge ankommen, ist man sich da längst nicht mehr so sicher. „Der Flüchtlingszustrom spaltet derzeit die Union“, sagt Schulze nachdenklich. Seit Wochen registriert er in seinem Bezirksverband Austritte – und ganz genau so viele Eintritte. Die Begründung lautet in beiden Fällen: Merkels Flüchtlingspolitik. Die einen sind entsetzt, die anderen begeistert.

 

Im Konrad-Adenauer-Haus, der Bundesgeschäftsstelle der CDU, sitzt im fünften Stock CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Auf seinem Schreibtisch türmen sich Briefe und ausgedruckte E-Mails zur Flüchtlingspolitik. Sie spiegeln die Gemütslage der CDU wider. Eine Frau aus Duisburg schreibt: „Wegen der Flüchtlingspolitik werde ich die CDU, die ich über Jahrzehnte gewählt habe, bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr wählen können.“ Ein „Bürgerlicher, seit 37 Jahren CDU wählender Normalbürger“ aus Pulheim kündigt seinen Austritt an. Ein Mann aus Kaltenkirchen kreidet der CDU-Chefin an, „eine Facebook-Party kontinentalen Ausmaßes“ angezettelt zu haben. Tauber sieht das alles gelassen. Er spricht von „aktuellen Herausforderungen“, die die Menschen bewegen. „Das merken wir als Volkspartei natürlich.“

 

Tatsächlich bilden die notorischen Nörgler und die Merkel-Müden auch nur einen Teil der Realität ab. Den anderen Teil beschreibt ein Vorfall, der sich am 19. September, am Tag der Ortsverbände des CDU-Landesverbands Schleswig-Holstein, in Henstedt-Ulzburg zutrug. Mitten in der Veranstaltung greift ein 82-Jähriger nach dem Mikrofon: „Ich war nie in der CDU. Ich wollte mich nie vor den Karren einer Partei spannen lassen. Doch von der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, von ihrer Menschlichkeit, Weitsicht und christlichen Wärme bin ich begeistert. Ich trete deshalb noch heute in die CDU ein.“

 

Auch im „You’re welcome“ bekennt ein aus Bremen zugezogener Mann, er habe wegen Merkels Flüchtlingspolitik vor drei Wochen ein CDU-Parteibuch beantragt. Es gehe ihm um „christliche Verantwortung“.

 

Allen Unkenrufen zum Trotz zeigen die innerparteilichen Umfragewerte: Merkel ist nach wie vor unumstritten. Laut jüngster Forsa-Erhebung sind bundesweit 82 Prozent der CDU-Mitglieder mit ihrer Arbeit als Parteivorsitzende zufrieden – 86 Prozent sogar mit ihr als Regierungschefin. In der Flüchtlingspolitik stehen 57 Prozent zu der weltoffenen, hilfsbereiten Haltung der Pastorentochter aus der Uckermark. Ihre Zustimmungswerte in den eigenen Reihen liegen damit weit über denen von Horst Seehofer. Laut Forsa stimmen nur 33 Prozent der Unionsmitglieder dem harten, Grenzen abriegelnden Kurs des CSU-Chefs zu.

 

Merkel hat der Union seit Beginn ihrer Kanzlerschaft einiges abverlangt und die Partei Schritt für Schritt weiter in die Mitte, ja sogar in die linke Mitte gerückt. Die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, aus der Atomkraft steigt Deutschland aus. In beiden Fällen murrte anfangs die Union, in beiden Fällen aber setzte Merkel sich letztlich durch. Nun also die Flüchtlinge. Geht die Parteichefin, der man nachsagt, die Dinge stets vom Ende her zu denken, diesmal zu weit? Riskiert sie gar ihre Kanzlerschaft?

 

„Nichts von alledem“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. Ein Shitstorm von 500 Mails sei zwar eindrucksvoll, hinterlasse Spuren und könne den einen oder anderen CDU-Politiker nachdenklich machen. Insgesamt jedoch stünden die lauten Kritiker in keinem Verhältnis zu der großen schweigenden Mehrheit der immerhin noch fast 460 000 CDU-Mitglieder. Güllner: „Ich glaube, Merkel hat wieder einmal den Nerv der Zeit getroffen. Sie ist gut beraten, bei ihrem Kurs zu bleiben.“

 

Dass das nicht einfach ist, zeigen Brandbriefe besorgter CDU-Landräte aus allen Ecken der Republik. Wegen eines dieser Schreiben telefonierte die Kanzlerin am vergangenen Wochenende sogar persönlich 15 Minuten lang mit dem Verwaltungschef des Hochsauerlandkreises, Karl Schneider (CDU), der sich bitterlich beschwerte. „Ich habe ihr deutlich gemacht, dass das ,Wir schaffen das‘ aus der Welt gehört. Wir erwarten jetzt wirksame Regelungen, die den Zuzug begrenzen.“

 

Doch gegen solche Kritiker formiert sich immer mehr Widerstand. Inzwischen haben rund 800 Christdemokraten einen „offenen Brief“ an die Kanzlerin unterschieben und sie in Schutz genommen. „Wir brauchen keine neuen Mauern, sondern mehr Gerechtigkeit und Solidarität“, heißt es in der Pro-Merkel-Initiative. Die Kanzlerin solle bei ihrer Position bleiben, auch wenn ihr „aus politisch-taktischen Gründen“ geraten werde, „einen radikalen Kurswechsel vorzunehmen und Deutschland zu einem Bollwerk gegen Flüchtlinge zu machen“.

 

Auch im Berliner Café „You’re welcome“ setzt sich im Laufe der Diskussion die Fraktion der Merkel-Befürworter durch. Nachdem die erste Welle der Kritik abgeebbt ist, ergreift das Moabiter Parteimitglied Axel Jürs das Wort. „Warum sollten wir bei der nächsten Wahl nicht auch die muslimischen Zuwanderer ansprechen, ob sie bei uns mitmachen wollen? Wer glaubt und feste Werte hat, ist bei uns gut aufgehoben – unabhängig von der Religion.“

 

Viele nicken. Und der Abend im „You’re welcome“ geht langsam zu Ende.