Finanzminister Wolfgang Schäuble über Mut in der Flüchtlingskrise, Teilung in der Einheit und die Macht der Gier in der VW-Affäre
Herr Schäuble, als Finanzminister sind Sie derzeit beliebter als der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin. Läuft da irgendwas schief?
Geben Sie nichts auf solche Umfragen! Als persönlich Betroffener sollte
man bei derartigen Meinungsumfragen nur dann nachdenklich werden, wenn
die Zahlen negativ sind. Aber es ist ja nicht schlecht, wenn die Bürger
das Gefühl haben, es läuft in der Finanzpolitik ganz ordentlich.
Manche suchen vielleicht nur Halt bei Altbekannten, weil die Zeiten recht unruhig sind.
Kontinuität ist schon sehr wichtig. Das stimmt. Das spricht ja auch für Angela Merkel.
Hat der Finanzminister noch Geld in der Kasse, um eine Steuerreform anzugehen?
Steuerreform heißt nicht unbedingt, weniger Steuereinnahmen, sondern
Veränderung des Steuersystems. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
sind für Steuermaßnahmen ausgesprochen ungünstig. Alle 16 Länder sind
der Auffassung, dass sie keinerlei Steuerregelungen zustimmen werden,
die ihre eigenen Steuereinnahmen reduzieren. Umgekehrt hat die Große
Koalition jede Maßnahme ausgeschlossen, die als Steuererhöhung gewertet
werden kann. Es macht also keinen Sinn, in dieser Legislaturperiode an
eine große Steuerreform zu denken. Wir haben genug anderes zu tun.
Wir feiern zum 25. Mal den Tag der Deutschen Einheit. Sind wir mit der Wiedervereinigung fertig?
Mit der Vollendung der staatlichen Einheit sind wir weitgehend fertig.
Mit der Überwindung der Wunden, die die Teilung geschlagen hat, werden
wir niemals fertig sein, solange noch Zeitzeugen leben.
Sie waren und sind ein maßgeblicher Manager der Einheit. Gab es rückblickend einen großen Fehler im Handeln?
Ich habe ihn ehrlich gesagt nie gefunden. Mit dem Fall der Mauer
erwarteten die Menschen in der DDR ein Leben wie in Westdeutschland. Das
war aber eine Sicht von außen. So einfach ist die Anpassung der
Verhältnisse, die Angleichung bei Löhnen, Sozialleistungen, Rente,
nicht.
Wann wird aus dem Solidaritätszuschlag für den Aufbau Ost ein
Solidaritätszuschlag für die Integration der Flüchtlinge? Wenn die
"schwarze Null" in Gefahr ist?
Die größte Aufgabe der Politik ist jetzt die Bewältigung der
Flüchtlingsfrage. Das hat absolute Priorität. Wir wollen das
hinbekommen, wenn möglich ohne neue Schulden. Die schwarze Null ist doch
kein Fetisch. Der Solidaritätszuschlag war bezogen auf die gemeinsame
Verantwortung aller Deutschen, die Lasten der Teilung zu überwinden.
Wenn uns die Steuereinnahmen eines Tages für die Bewältigung unserer
Aufgaben aus welchen Gründen auch immer nicht reichen sollten, müssten
wir neu überlegen. Aber es gibt überhaupt keinen Grund, jetzt über
Steuererhöhungen nachzudenken.
Wie viele Flüchtlinge will und kann sich die Bundesrepublik leisten?
Wir werden jedenfalls so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie wir müssen.
Das ist Angela Merkels Botschaft: Kommt alle her zu uns?
Jeder weiß, dass wir die Not und das Elend der Erdbevölkerung nicht
dadurch lösen, dass alle nach Europa kommen. Deswegen hat Thomas de
Maizière recht mit seiner Feststellung: Wir sind bemüht, die Probleme zu
lösen, aber wir können nicht alle aufnehmen. Natürlich spricht es sich
herum, dass die Flüchtlinge bei uns gut behandelt werden. Aber damit ist
die Illusion verbunden, es könnten jetzt alle, die ein besseres Leben
suchen, nach Europa kommen. Deswegen klagen manche in Europa, wir seien
schuld, weil wir diesen Eindruck produziert hätten.
Haben wir das nicht?
Sie sollten wissen, dass wir mit den Bildern aus dem Münchener
Hauptbahnhof auch die Ehre Europas gerettet haben. Sonst wäre Europa nur
mit Stacheldraht und behelmten Polizisten in Abwehrhaltung aufgetreten.
Jetzt müssen wir daran gehen, in Kooperation mit den Nachbarregionen
den Zugang zu Europa zu begrenzen und die Außengrenzen Europas
verlässlich zu sichern. Hier müssen wir schnell und notfalls unorthodox
handeln. Es zählen rasche Ergebnisse. In einer solchen Situation ist die
Außenpolitik besonders gefordert.
Wieso grummelt es in der CDU so stark angesichts von Angela Merkels
Signal der offenen Arme für Flüchtlinge? Viele fühlen sich mit ihren
Sorgen alleingelassen.
Ach was. Erst machten die Medien ihre Geschichten über die SPD, weil die
sich fragte, ob eine Gegenkandidatur zu Angela Merkel überhaupt noch
Sinn macht. Und jetzt werden eben die Kritiker in der Union zur
Abwechslung mal wieder medial gepusht. Wir wissen, dass viele Menschen
sich fragen, schaffen wir das? Darauf gibt es keine schnelle Antwort.
Manches von heute erinnert mich an die Zeit vor 25 Jahren. Damals
standen wir vor der Aufgabe, quasi über Nacht 17 Millionen Menschen auf
einen Schlag auf den Standard der alten Bundesrepublik zu bringen.
Damals wie heute kann sich die Politik nicht auf die Haltung
zurückziehen, "um Gottes willen, das geht alles gar nicht". Die Menschen
müssen ermutigt werden.
Haben Sie als Finanzminister nach dem Flüchtlings-Kraftakt noch
genügend Milliarden in der Kasse, um mit den Ländern beim neuen
Bund-Länder-Finanzausgleich einig zu werden?
Bund, Länder und Gemeinden haben sich darauf verständigt, die
Belastungen wegen der Flüchtlinge angemessen zu teilen. Die geltenden
Regeln für den Finanzausgleich laufen Ende 2019 aus. Es wäre besser, die
Anschlussregelung in dieser und nicht erst in der nächsten
Legislaturperiode zu machen. Der Solidaritätszuschlag wird ab 2020 über
zehn Jahre hinweg jährlich um 0,5 Prozent abgeschmolzen. Der Bund hat
überzeugende Vorschläge für die Neuregelung der Finanzbeziehungen
gemacht. Die Länder haben bis heute keine gemeinsame Position. Erst wenn
diese vorliegt, kann es weitergehen. Aber die Einigung mit den Ländern
kann nicht so funktionieren, dass die Länder alle Wünsche addieren und
der Bund alles übernimmt. Der Betrag, um den es am Ende gehen wird, ist
aber bei Weitem nicht zweistellig, das ist jetzt schon klar.
Gehört zum denkbaren Modell auch eine Übertragung von weiteren Umsatzsteuerpunkten an die Länder?
Das ist eine technische Frage der Umsetzung. Das ist nicht das Problem.
Die Einigung zwischen den Ländern ist das eigentliche Problem. Wenn sie
nicht zustande kommt, wird der Bund sich im Rahmen seiner
gesamtstaatlichen Verantwortung auf das Notwendige beschränken. Die
Probleme der großen Zahlerländer gehören nicht dazu. Sie müssen dann
selbst eine Lösung suchen.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Nachrichten vom Betrug mit Abgaswerten bei VW verfolgen?
Es ist wiederum die Erfahrung, wie wir sie schon bei den Finanzmärkten
gemacht haben. Der globale Wettbewerb ist, wenn man auf dem Weltmarkt
erfolgreich sein will, unglaublich brutal. Alle wollen die Größten sein.
Spielt Gier auch eine Rolle?
Auch das. Nicht nur unter den Banken. Es ist auch die Gier nach Ruhm,
nach Anerkennung. Man steht fassungslos davor und sieht doch immer
wieder, wie das endet.
Gefährdet der Betrug bei VW den Standort Deutschland?
Nein. Wir werden auch aus dieser Krise stärker herauskommen. Wir lernen
aus Krisen. VW wird am Ende nicht mehr das sein, was es war. Da wird
sich strukturell viel ändern. Der Staat sollte aber nicht glauben, er
könnte alles besser machen als die Wirtschaft.
Interview: Udo Röbel und Dieter Wonka
Wolfgang Schäuble (73) hat als Innenminister der Bundesrepublik 1990 die Verhandlungen mit der DDR zum Einigungsvertrag geführt. Eine Woche nach der Wiedervereinigung wurde der Christdemokrat bei einem Attentat schwer verletzt. Der heutige Finanzminister ist der dienstälteste Bundestagsabgeordnete in der Geschichte der Bundesrepublik.