Angeblich 3.000 Leute gingen gestern gegen einige hundert Legida-Anhänger auf die Straße. Das dürfte allerdings schwer zu zählen sein, weil sich der Protest auf viele Stellen verteilte und die geplante Legida-Strecke wegen erfolgreicher Blockaden verkürzt wurde. Ein paar Anekdoten von verschiedenen Ecken.
Schildbürger
An der Hainspitze ist es ruhig. Bürgermeister, Ministerin und Abgeordnete haben gesprochen, Hunderte Menschen kamen von der Nikolaikirche rüber, ihr Protest war eher verhalten, auch die Mikros reichten nicht weit. Legida ist losgelaufen. An der runden Ecke vorbei, wo sich jetzt alle zum lauten Protest versammelt haben. »Leipzig zeigt Courage«, lautet das Motto, das viele in die Höhe halten. Danach ist Schluss. Ein Mensch sagt durchs Mikrofon: »Die Veranstaltung ist jetzt beendet. Schilder abgeben, bitte.« An anderer Stelle geht es jetzt erst los.
Sport bei 30 Grad
Von der Legida-Bühne schallen Verschwörungstheorien und islamfeindlicher Unsinn zum Naturkundemuseum herüber. Zum Glück haben der Kollege und ich keine Zeit, dem Geschwafel länger zuzuhören. Wir sind spät dran und niemand kann uns sagen, welche Route die Ausländerfeinde heute nun genau laufen wollen. Also kundschaften wir die Lage mit unseren Fahrrädern aus. In der schwülheißen Spätsommerluft sprinten wir durch Seitenstraßen zum Waldplatz, von da aus weiter durch Elster- und Thomasius- bis zur Gottschedstraße. Erfreut stellen wir fest: Die ursprünglich genehmigte Legida-Route wurde massiv verkürzt, überall sind zahlreiche Gegendemonstranten zu Fuß oder zu Rad unterwegs. Als sich die Asylfeinde endlich in Bewegung setzen, begleiten wir sie lautstark von Einmündung zu Einmündung. Nach mehreren weiteren raschen Ortswechseln kommen wir wieder vor dem Naturkundemuseum an, wo Legida mal wieder niedergepfiffen und -gebrüllt wird. Der Schweiß läuft mir in Bächen über das Gesicht, meine Kleidung klebt an meiner Haut. Aber das fühlt sich gut an: An diesem Abend hat der Protest den Legidisten die Tour gehörig vermasselt. Dafür macht man doch gerne auch bei tropischem Klima Sport.
Twitterverwirrungen
Als Legida losläuft, weiß keiner recht, wohin. Auf Twitter fallen immer wieder Straßennamen, wo es Blockaden gibt. Keiner kennt die Route. Es gibt viele Vermutungen und viele Verirrte auf allen Wegen. Und man fragt sich, was genau es heißt, wenn »eine Straße dicht ist«, »zu« oder »frei«. Blockade oder Polizeiabsperrung? Jemand twittert, dass ihn der Heli nervt. Der Hashtag #nolegida trendet in den Charts (noch vor »Sommertag«).
Lutz
Lutz Bachmann hat eine Panne.
Die Mauer
Als die Legidisten bei ihrem »Spaziergang« wieder am Naturkundemuseum vorbeilaufen, werden sie lauthals mit Pfeifen und »Nationalismus – raus aus den Köpfen«-Rufen begrüßt. Danach wollen die Gegendemonstranten weiter zur Straßenbahnhaltestelle, wo andere Gegendemonstranten auch schon ihren Protest in Hörweite kundtun. Doch plötzlich stehen da Polizisten und lassen niemanden mehr durch. Die, die es rennend versuchen, werden teilweise rabiat aufgehalten. Szenen wie auf der Flucht. Leute von der Straßenbahnhaltestelle kommen jetzt dazu. Die Polizisten trennen – ohne erkennbaren Grund – Gegendemonstranten von Gegendemonstranten, die jetzt von beiden Seiten wütend alle das gleiche brüllen: »Wo, wo, wo wart ihr in Heidenau?« Durchs Mikro sagt die Stimme der Veranstaltungsanmelderin, sie habe keine Ahnung, wieso der Zugang jetzt zu sei. »Ich übernehme hier keine Verantwortung mehr.« Kurz darauf zieht sich die Polizei zurück. Die Mauer ist weg. Alle konzentrieren sich wieder gemeinsam darauf, zu rufen: »Refugees are welcome here.«
»Ich war da – wo wart ihr?«
Aus hunderten Kehlen erschallt auch am Bahnhof der Ruf »Wo, wo, wo wart ihr in Heidenau?« – angelehnt an den auch schon 23 Jahre alten Slogan »Wo wart ihr in Rostock?«. Ein offensichtlich verärgerter und in seiner persönlichen Empörung – weil Betroffenheit – gewiss ernst zu nehmender Polizist schnauft den Rufern entgegen: »Ich war da, wo wart ihr denn?« Worauf es neben Lachen auch eine kurze Diskussion ums staatliche Gewaltmonopol und adäquate Einsatzkräftezahlen gibt.
Falsche Seite
Bei Legida auf der Bühne gehört diesmal auch ein Kameruner namens Ferdinand zu den Rednern. Als sicheres Zeichen dafür, dass die Legidisten ja nun wirklich keine Nazis sein können. »wenn wir nazis wären hätten wir ferdinand gar nicht akzeptiert weil er eine andere hautfarbe hat, da kann mann mal sehen wie doof die linken sind«, kann man auf der Legida-Faecebook-Seite lesen. Als die Legida-Demo beendet ist, läuft Ferdinand mit den anderen Legida-Anhängern Richtung Bahnhof. Begleitet und angeschrien von Tausenden Legida.Gegnern. Unter ihnen auch eine dunkelhäutige Brasilianerin. Sie brüllt: »Du bist auf der falschen Seite!« Er winkt nur kurz und geht weiter. Sie kann es nicht fassen, sie ruft weiter. »Komm rüber zu uns. Du bist dumm, du bist so dumm, wenn du bei denen mitläufst.« Er bleibt auf der falschen Seite.
Entschlossenheit und Überforderung
Kein Einhorn nirgends. Kein Konfetti, keine Superhelden. Nach Ironie steht den meisten Protestierenden nicht der Sinn, klare Parolen geben den Ton an und insgesamt zeigt die Menge ein Bild größerer Entschlossenheit als bei früheren Legida-Protesten. Das kulminiert gen Ende in einer Art Triumphzug von mehr als tausend Leuten zum Bahnhof. Legida hat sich gerade aufgelöst, die Polizei beginnt, die Deutsch-Demonstranten zum Bahnhof zu eskortieren, da schwappen die Gegenprotestierenden wie ein Meer wellenartig in Massen über den Ring und verdeutlichen Legida optisch – vielleicht zum ersten Mal –, was für ein armseliges Häufchen sie auch in quantitativer Hinsicht sind. So kommt wieder eine Leipziger Anti-Nazi-Spezialität zum Vorschein, die jahrzehntebewährt ist: Auch den Abzug noch verhindern, eine Veranstaltung für Nazis und Polizei so aufwendig wie möglich zu machen. Auf dass sie es sich beim nächsten Mal merken – bzw. die Polizei den Zeitaufwand für den Abzug beim nächsten Mal mit einberechnet. (Man denke an die Worch-Aufmärsche.) Die Cops sind beim Geschehen am Bahnhof planlos, können keinen Rückzug der Legida-Leute komplett gesichert ermöglichen. Gegendemonstranten laufen in den Bahnhof, bevor die Portale durch Polizisten versperrt werden. Auf der Ostseite hinter dem Busparkplatz führt die Überforderung – ich höre eine Gruppe Polizisten in eine Richtung rennen und sagen »Mal schauen, was ob wir da benötigt werden.« – zu unnötigen Übergriffen durch die Polizei. Ohne ersichtlichen Grund treibt sie Menschen ohne vorherige Aufforderung von der Straße, zerrt einige in die Gewahrsamnahme.
Volk in Panik
Bei ihrer Mini-Minimi-Demo gibt sich das Legida-Völkchen noch recht fröhlich und winkte mit mitunter auch ohne Stinkefinger-Zeigen. Natürlich gibt es auch die auf dicke Hose machenden Macker, die nach Hooligan-Art Gegendemonstranten an sich heranwinken und als feige beschimpfen – wahrscheinlich träufelte ihnen die Wahrheit erst später ins Hirn, dass die Polizei sie genau davor beschützte. Auf dem Rückweg nach ihrer Veranstaltung zum Bahnhof sieht man dann doch einige, zwar weiterhin von der Polizei geschützte, aber sich sichtbar unwohl fühlende Legidas. Einige begeben sich auch sogleich mit panisch verzerrten Gesichtern in den Laufschritt. Das ist in der Dimension neu.
Alleingelassen unter Barbaren
Am krassesten empfand ich einen Umstand: Nachdem Legida abgezogen ist und nur Gegendemonstranten unterwegs sind, steht ein als Legida-Sympathisant bekannter Rollstuhlfahrer ganz allein auf dem Straßenbahn-Steig 1 vorm Hauptbahnhof. Mit seinem massigen Elektrorollstuhl hat er schon öfter vor dem Fronttransparent von Legida mitfahrend demonstriert. Seine zwei hinter dem Rücken am Rollstuhl angebrachten Transparente sind notdürftig mit blauen Müllbeuteln kaschiert. So viel Zeit hatten seine Kameraden oder Mit-Volker noch, bevor sie ihn allein ließen. Die Legida-Leute werden nicht müde, alle Gegendemonstranten als kindermordende Bürgerschläger hinzustellen. Wie können sie dann einen der ihren, noch dazu mit Beeinträchtigung, so im Stich lassen? So viel zum Thema »Volksgemeinschaft«. Übrigens ist ihm natürlich nichts geschehen. Es diskutierte lediglich ein Anti-Legida-Demonstrant mit ihm.
CLEMENS HAUG, TOBIAS PRÜWER, JULIANE STREICH