Zeit der Notlösungen: Wie Freiburg die Flüchtlingskrise in den 90ern bewältigte

Flüchtlinge aus Albanien treffen 1991 am Freiburger Hauptbahnhof ein. Die Menschen unterzubringen wurde immer schwieriger – aber gelang. Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg
Erstveröffentlicht: 
30.08.2015

Schon einmal haben Gemeinden in Baden-Württemberg eine enorme Zahl von Flüchtlingen bewältigt. Ein Blick ins Freiburg Anfang der 90er Jahre.

 

Von Jens Kitzler

 

Im Februar 1991 gaben die Vertreter der Stadt keine weitere Warnmeldung mehr ab, sondern verkündeten das Ende. "Wir haben die Grenzen unserer Möglichkeiten erreicht", erklärte Sozialbürgermeister Hansjörg Seeh den Journalisten – jetzt, ab sofort, habe Freiburg keine weitere Unterbringungsmöglichkeit mehr für Asylbewerber und Aussiedler.

 

Dass der Höhepunkt der Ankunftswelle von Asylsuchenden zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht war, konnte man nicht wissen und auch nicht, was die Stadt Freiburg noch alles auf die Beine stellen würde, um die Leute eben doch unterzubringen. Sicher war nur, dass das Land ständig die Quoten erhöhte, wie viele Flüchtlinge die Kommunen unterzubringen hatten.

"Wir kaufen, bauen und mieten alles, was uns angeboten wird", hatte Sozialdezernent Seeh noch ein paar Wochen zuvor erklärt – ein Satz, den man im Jahr 2015 genauso auch von Freiburgs Oberbürgermeister Dieter Salomon hören konnte. Anfang der 90er-Jahre waren die städtischen Wohnungen mit Flüchtlingen belegt und auch Sammelunterkünfte wie beispielsweise die gerade frisch entstandene in der Bissierstraße. Nun waren Notlösungen gefragt. In St.Georgen baute man eine Behelfssiedlung, in zwei Mischgebieten der Innenstadt stapelte man Wohncontainer. Flüchtlinge wurden in Hotelzimmern untergebracht, in Sporthallen, in einem ehemaligen Krankenhaus im Stadtteil Herdern und in einer frei gewordenen Kneipe im Stühlinger.

70 Albaner isoliert im Hotel Burggraf auf dem Schauinsland – das hat nicht funktioniert

Die Stadtverwaltung kaufte Wohnungen und – nach Eilentscheidung von Oberbürgermeister Rolf Böhme – auch mal eine ganze Pension. Manches Experiment scheiterte: Zum Beispiel jenes, 70 Albaner auf 1200 Meter Höhe im ehemaligen Hotel Burggraf auf dem Schauinsland unterzubringen. Dort völlig isoliert vom Rest der Welt zusammenzuhocken, ging nicht lange reibungslos vonstatten.

Und alle diese Maßnahmen hatten immer nur kurz geholfen. Jedes Mal, wenn Freiburg sein Minus an Unterbringungsplätzen – verglichen mit den Forderungen des Landes – auf etwa 200 abgebaut hatte, war aus Stuttgart ein Brief mit einer wieder nach oben korrigierten Quote gekommen. Im Oktober 1991 sollte Freiburg statt bisher 900 nun 1100 Flüchtlinge aufnehmen, im Februar bereits winkte die nächste Erhöhung, Mitte 1992 sollte die Quote bei über 2000 liegen. "Die Stadt arbeitet den Ereignissen nur noch hinterher", resümierte die Badische Zeitung schon im Frühjahr 1991, und zwei vom Reporter besuchte vierköpfige Familien, die im Aufenthaltsraum des Herderner Hedwigskrankenhauses auf Wolldecken schliefen, beklagten sich: "So kann man nicht leben."

Ende der 80er-Jahre hatte die Weltpolitik den deutschen Kommunen einiges zu tun gegeben. Der Zerfall der Sowjetunion und der DDR sorgten dafür, dass die Wohnheimplätze auch in Freiburg schon mit Aussiedlern und DDR-Flüchtlingen gut belegt waren, als der Jugoslawienkrieg gerade erst am Horizont auftauchte. Im Jahr 1988 wurde erstmals die Grenze von 100000 Asylanträgen in Deutschland überschritten, erst 2001 sollte die Zahl wieder unter diese Marke sinken.

Der Höhepunkt war 1992 erreicht, im Juli jenen Jahres lebten 1640 Asylbewerber in Freiburg und weiterhin hechelte man immer neuen Unterbringungsquoten hinterher. Fast 500 mehr müsse man in Kürze aufnehmen, hieß es vom Land. Dazu kamen rund 200 sogenannte De-facto-Flüchtlinge, die zwar keinen Anerkennungsstatus hatten, aber geduldet waren. Rund 30 von ihnen kamen jeden Monat in Freiburg an. Und auch die Aussiedler wurden nicht weniger. "Die Grenzen sind erreicht", verkündete das Rathaus wieder einmal.

"Das kleine Dorf der Asylbewerber" am Flugplatz

Dass niemand unter freiem Himmel nächtigen musste, lag daran, dass man im Spätherbst 1991 begonnen hatte, im damaligen Niemandsland zwischen Flugplatz und Industriegebiet Nord die Notunterkunft St. Christoph auszubauen – ein Ensemble aus ehemaligen Kasernengebäuden der Franzosen und blitzschnell aufgebauten Fertighäusern. Das Areal lag dort, wo heute die Hallen der neuen Messe stehen. "Dass wir das Gelände bekommen haben, war großes Glück", sagt der damalige Sozialdezernent Hansjörg Seeh heute. Auf bis zu 1200 Menschen war die Unterkunft ausgelegt. Irgendwer im Rathaus hatte sich tatsächlich die Bezeichnung "Das kleine Dorf der Asylbewerber" dafür ausgedacht. Nicht wenige Kritiker fanden den Begriff "Ghetto" wesentlich passender.

Aber anders hatte sich die Stadt nicht mehr zu helfen gewusst. Insgesamt 430000 Menschen baten im Jahr 1992 um Asyl in Deutschland – ein Rekord für lange Zeit, heute aber ist er pulverisiert. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prognostizierte vergangene Woche rund 800000 Flüchtlinge für dieses Jahr. In Freiburg leben derzeit 1770 Asylbewerber, für morgen sind neue Schätzungen angesagt – die Zahlen werden wohl nach oben gehen. Und kommendes Wochenende ziehen 500 Menschen in die neue Aufnahmestelle an der Polizeiakademie ein.

Die Geschwindigkeit ist heute eine andere als Anfang der 90er-Jahre. "Es war damals insgesamt etwas besser planbar", sagt Hansjörg Seeh. "Eben nicht so, dass von heute auf morgen wieder unverhofft neue Leute auftauchten, die man unterbringen muss." Ein Vergleich mit dieser Zeit lässt sich also nur bedingt anstellen. Doch die Entwicklung von einst hinterlässt zumindest Hinweise. "Man kann beispielsweise sagen, schaut her, es hat sich damals sehr schnell alles wieder normalisiert", sagt Seeh. Tatsächlich: Als nach 1992 die Bewerberzahlen allmählich zu sinken begannen, waren die Wohnheime zwar weiterhin voll. Doch aus den öffentlichen Debatten verschwand das Thema nach und nach, aus Flüchtlingsunterbringung war Alltag geworden – auch, weil kaum ein Bürger tatsächliche Einschränkungen zu erleiden gehabt hatte.

"Das Boot ist voll"-Rhetorik im Freiburger Gemeinderat – und Brandanschläge auf Unterkünfte

Aber natürlich hatte nicht nur Harmonie geherrscht. Auch in Freiburg wurde die Asyldebatte zunehmend schärfer geführt. Der CDU-Landtagsabgeordnete Ludger Reddemann verlangte, Wirtschaftsflüchtlinge schon bei der Einreise von echten Asylbedürfigten zu trennen. "Es ist humaner, die nicht Asylberechtigten erst gar nicht hereinzulassen, als später abzuschieben". CDU-Stadtrat Hans-Michael Ramminger bemühte die "Das Boot ist voll"-Floskel und erntete Kritik vom Grünen-Stadtrat Dieter Salomon: "Das ist das Niveau bierseliger Stammtischrunden."

Auf Demonstrationen kritisierten Asylinitiativen die Lagerhaltung und die Abschiebepraxis des Landes. "Baden-Württemberg hat in den 80er-Jahren als erstes Bundesland angefangen, Bewerber in Lagern unterzubringen und auf eine Strategie der Abschreckung zu setzen", sagt Walter Schlecht vom "Freiburger Forum Aktiv gegen Ausgrenzung". "Diese Strategien fanden sich auch in Freiburg wieder". Enge, schlechtes Essen und das auferlegte Arbeitsverbot ließen Bewohner der May-Bellinghausen-Sporthalle in den Hungerstreik treten. Das neue Asylbewerberleistungsgesetz schrieb Sachleistungen anstatt Geld vor – plötzlich fanden sich die Flüchtlinge ohne einen Pfennig, dafür mit einer Kiste mit Lauch, Kartoffeln und Milch darin wieder – in einer Welt, die ausschließlich über den Geldkreislauf funktioniert. Nach Protesten kehrte Freiburg diesem System auf eigene Faust den Rücken.

Ganz friedlich blieb es nicht. Auf die Unterkunft in der Stadtstraße und das Wohnheim in der Bissierstraße wurden Brandanschläge verübt – ohne dramatische Folgen, die Täter aber fand man nicht. Dem gegenüber stand eine Welle der Hilfsbereitschaft seitens der Bevölkerung, die Kleiderspenden, Benefizkonzerte und gemeinsame Weihnachtsfeiern organisierte. "Freiburg hatte insgesamt ein positives Klima", sagt Ex-Sozialbürgermeister Seeh. "Die Stimmung wurde immer nur dann schlecht, wenn wir irgendwo eine Versammlung abhielten, weil dort etwas gebaut werden sollte – das hat sich, bis heute nicht geändert."