Die Legida-Bewegung hat sich deutlich abgeschwächt. Eine Auseinandersetzung mit den Ursachen steht aber nach wie vor aus, kritisieren die Organisatoren der Leipziger Dialogforen, die als Folge von Legida entstanden. Die Bürgerrechtler Gesine Oltmanns (50), Uwe Schwabe (53) und Stephan Bickhardt (55) blicken im Interview zurück und nach vorn.
Wie kam es zu den Leipziger Dialogforen?
Gesine Oltmanns: Die Demonstrations-Ankündigung von Legida hat
wachgerüttelt. Das waren Proklamationen, die nur scheinbar am Rande der
Gesellschaft standen. Wir mussten feststellen, dass sie nicht am Rande
stehen, sondern Themen aufnehmen, die in der Bevölkerung brodeln und die
einfach nicht ausgesprochen werden. Die Idee kam aus Dresden von Frank
Richter von der Landeszentrale für politische Bildung. Wir wollten erst
einen Dialog des Zuhörens, dann die Diskussion.
Stephan Bickhardt: Es war ein Impuls: Haben die 89er zu dieser
außerordentlichen Situation etwas zu sagen? Eine rechtsextremistische
Bewegung drohte das Bundesland Sachsen zu überschwemmen. Für mich stand
immer fest, dass es im Kern um die Unterbringung von Asylbewerbern und
deren Zahl geht. Jetzt, wo die Situation abflaut, wo Pegida und Legida
keine politische Speerspitze mehr sind sondern eher die AfD, fühle ich
mich bestätigt. Weil leider Asylunterkünfte Ziel von Angriffen oder
rechtspopulistischen Parolen wurden. Es ging also auch darum, wie der
Freistaat die Unterbringung von Asylbewerbern managt. Und inwieweit die
Bevölkerung "Ja" sagt zum Grundrecht auf Asyl und auch die Vorteile von
Zuzug sieht in einem Land, in dem immer weniger Menschen leben. Es waren
grundsätzliche Demokratie- und Menschenrechtsfragen berührt. Da haben
wir uns als 89er, die sonst nicht immer zu allem etwas sagen, gedacht:
Jetzt wollen wir etwas sagen und etwas machen.
Uwe Schwabe: Wir haben in Dresden erlebt, wie die Leute in eine Ecke
gestellt wurden. Nach dem Motto: Das sind alles Rechtsradikale, mit
denen muss man nicht reden. Auch der Leipziger OBM hat sich ja so
geäußert. Da haben wir gesagt: Das geht nicht; man muss Dialog führen,
die Leute wollen das, die Leute brauchen das, es gibt dieses Angebot
nicht, wir bieten es an. Und eben nicht so, dass vorne ein paar
Politiker im Podium sitzen und die Leute sich was anhören, sondern so,
dass die Leute im Mittelpunkt stehen und Statements abgeben können. Es
entstand der Aufruf "Für ein Europa freier Bürger mit offenen Grenzen"
mit Ankündigung der freien Dialogforen. Wir haben Rolf Sprink angerufen,
der sofort zugesagt hat, die Aula der Volkshochschule (VHS) zur
Verfügung zu stellen. Das war der Beginn.
Mit welcher Stoßrichtung sind Sie in die Veranstaltung gegangen?
Schwabe: Wir wollten in den ersten Foren vor allem erfahren und
verstehen, was die Leute bewegt, zu Legida zu gehen - wo ja klar war,
dass die Organisatoren schon einen deutlichen rechtsnationalen
Hintergrund hatten. Wir haben dann auf Wunsch der Teilnehmer gezielte
thematische Veranstaltungen angeboten - zum Beispiel zum Thema Asyl.
Wie hat sich die Reihe entwickelt?
Schwabe: Die Zahl der Teilnehmer ist nach den ersten beiden
Veranstaltungen mit je 180 Leuten zurückgegangen - und auch die Art der
Diskussion hat sich verändert. Beispiel: Beim Thema Asyl haben sich
Leute nicht mehr zu Wort gemeldet, die gegen die Asylpolitik sind. Da
meinte dann sogar eine Vertreterin des Flüchtlingsrates, dass man nicht
alles rosarot malen könne, dass es nicht nur positive Beispiele gibt, wo
mit Asylbewerbern gekocht wird oder die Flüchtlinge anderweitig gut
integriert sind. Natürlich gibt es auch Probleme - die wurden aber vom
Flüchtlingsrat selbst angesprochen, nicht mehr von den Kritikern der
Asylpolitik.
Warum war das so?
Schwabe: Sie kommen in eine inhaltliche Auseinandersetzung, wenn Sie
sich stärker mit einem Thema befassen. So ist das ja auch in den sieben
anschließenden Seminaren der Volkshochschule passiert. Da können Sie
nicht mehr einfach nur rummotzen. Manche haben sich dort leiser
verhalten oder sind nicht mehr gekommen. Viele haben uns aber auch
gesagt: Ich bin froh, dass ich teilnehmen, meine Probleme einmal
darlegen konnte - und ich muss jetzt nicht mehr zu Legida gehen. Wir
wollten ja auch vermitteln, dass auf diesen Demos inhaltlich nicht viel
stattfindet; da werden nur obstruse Thesen und Verschwörungstheorien
verbreitet.
Bickhardt: Das hat auch zu einer Entzauberung und realistischen
Einschätzung der Bewegung geführt. Die Leute brauchten sich nicht mehr
vor einen rechtsnationalistischen Karren spannen lassen. Viele wollten
das ja nicht, einige haben anfangs gerufen "Wir sind keine Nazis".
Haben Sie sich genug unterstützt gefühlt?
Bickhardt: Letztlich war das Dialogforum der Versuch, dafür zu sorgen,
dass aus der Bürgerschaft substanziell Kritik geäußert werden kann.
Deshalb fand ich es schon enttäuschend, dass die Stadtverwaltung mit
relativ wenig Vertretern dabei war, auch vom Stadtrat hätten es mehr
sein dürfen. Die Parteien haben dann eigene Foren organisiert, auch die
Friedrich-Ebert-Stiftung, Kirchgemeinden haben reihenweise
Veranstaltungen auf die Beine gestellt. Das ist natürlich auch gut: Wir
wollten einen Prozess anstoßen.
Oltmanns: Ich finde es interessant, dass über die Monate die
verschiedenen Institutionen ihre Rolle erkannt haben. Die VHS zum
Beispiel hat im Rahmen der Erwachsenen-Bildung schnell die erwähnten
Seminar-Angebote geschaffen. Der Erich-Zeigner-Haus-Verein mit Frank
Kimmerle und Radio Blau haben öffentlich Hörstolpersteine eingelesen.
Viele Menschen sind sich bewusst geworden, dass sie etwas tun müssen.
Wie blicken Sie auf Ihre Initiative zurück?
Schwabe: Wir haben die Ergebnisse aus den Podien in einem
Positionspapier niedergeschrieben; dort sind herausgearbeitete
gesellschaftliche Defizite aufgeführt sowie Handlungsempfehlungen für
Politik, Medien und Bürger (siehe unten - die Red.). Das ging an den
OBM, Stadtrats-, Landtags- und Bundestagsfraktionen. Geantwortet haben
nur die Linken im Landtag, die das Papier auswerten und Erkenntnisse
daraus ziehen wollen. Ich fand das sehr enttäuschend: Da machen sich
Leute aus der Zivilgesellschaft auf, um ein Problem anzugehen, zu dessen
Lösung sich die Politik nicht in der Lage sieht - und dann wird das
ignoriert. Das Papier hätte eine Grundlage für die weitere
Verfahrensweise sein können. Denn das Problem hat sich nicht erledigt,
auch wenn nur noch 800 Legida-Leute auf die Straße gehen. Mich haben die
letzten Monate sehr an den Gründungsaufruf des Neuen Forums 1989
erinnert: Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist gestört.
Das ist jetzt auch so. Die Kommunikation ist derzeit so dermaßen
gestört, dass man gar nicht genug anbieten kann, um sie zu fördern.
Enttäuscht hat mich auch, dass ich diese starke Bürgergesellschaft in
der Mitte der Gesellschaft, die ja auch von Herrn Jung in manchen Reden
immer wieder hochgehalten wird, in Leipzig nicht erkennen kann. Ich
vermisse in dieser Stadt eine wirkliche konstruktive politische
Auseinandersetzung in der Bürgergesellschaft. Sie findet statt zu
bestimmten Anlässen, wenn die Leute rummotzen und ihren Frust loslassen
können, zum Beispiel zum Freiheits- und Einheitsdenkmal, das zeitweise
die Leserbriefspalten der LVZ gefüllt hat. Aber eine substanzielle
inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Ich bin da auch
ratlos.
Was sind die zentralen Erkenntnisse aus den Dialogforen?
Bickhardt: Erstens - es gibt eine "Krise der politischen Bildung" - und
wir haben dieses Thema mit den Dialogen groß gemacht. Viele Vorbehalte
gegenüber Presse, politischer Klasse und der Flüchtlingspolitik haben
auch etwas mit Unkenntnis zu tun und mit einer Hilflosigkeit - wie soll
ich mich eigentlich äußern? Zweitens - mit den Podien nehmen die Leute
ihr Recht als Bürger wahr, sie mischen sich ein, bringen sich ein. Ich
höre von der Ebert-Stiftung und anderen Anbietern, dass es eine
verstärkte Nutzung von Angeboten der politischen Aufklärung gibt. Der
Theologe Heino Falcke hat gesagt: Es gibt eine Kompetenz der Bürger, die
höher ist als die der Politik - gerade weil die Politik im laufenden
Geschäft gebunden ist. Ich habe diese Kompetenz in einigen Statements
entdeckt. Oft in Beiträgen von nachdenklichen jungen Leuten,
HTWK-Studenten zum Beispiel, die sehr geschickt auf rechtspopulistisch
eingestellte Menschen eingegangen sind.
Oltmanns: Diese Kompetenz der Bürger ist doch das, was wir aus 1989
mitgetragen haben. Ich bedauere deshalb, dass viele Dialogforen nur
halbherzig weitergeführt werden. Die Dialoge der Staatskanzlei zum
Beispiel werden ausgesetzt. Das ganz offene Agieren, der ganz nahe
Dialog mit den Bürgern wird jetzt kontrolliert, in der ganz offenen Form
ist er nicht gewollt. Dabei ist eben unsere Erfahrung: Innerhalb
solcher offenen Veranstaltungen können sich Austausch, Verständigung und
Versöhnung entwickeln. Wir haben erlebt, dass Menschen, die sich in der
Veranstaltung beschimpft haben, später draußen standen und friedlich
miteinander gesprochen haben. Ich bin überzeugt: Die Gesellschaft kommt
an solchen Dialog-Angeboten nicht vorbei.
Was muss passieren?
Bickhardt: Der Staat und die politischen Eliten delegieren bestimmte
Themen - an die Gesellschaft, an Wohlfahrtsverbände. Sie geben Geld,
haben aber am Rücklauf kein Interesse. Das wäre aber wichtig. Und: Dass
Parlamentarier gesellschaftliche Gruppen anhören, ist unterentwickelt.
Diese Gruppen müssen regelmäßig eingeladen werden - in den Stadtrat, in
den Landtag - anstatt zu warten, bis irgendwo eine Krise ausbricht.
Wichtig wäre auch eine Auseinandersetzung mit der Gruppe der
Nichtwähler. Ich habe mehrfach die Einrichtung von Nichtwählen-Foren
angeregt - unter anderem gegenüber Vertretern von politischen
Stiftungen, aber das interessiert niemanden. Man sollte auf diesen Teil
der Bevölkerung zugehen.
Ex-LVB-Sprecher Reinhard Bohse beschreibt im Buch "Akzeptanz in der
Medien- und Protestgesellschaft" den Bürgerbeteiligungsprozess im
Vorfeld des Umbaus der Karli.
Schwabe: Ein richtungsweisendes Beispiel. Da hat man gesagt: Es gibt
ein wichtiges Projekt, und man bezieht die Leute, die es betrifft, von
Anfang an mit ein, anstatt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wenn
ich in Schönefeld ein Asylbewerberheim plane und biete den Bürgern erst
einen Dialog an, wenn schon alles feststeht, fühlen die sich verklapst.
Wie beim Freiheits- und Einheitsdenkmal: Den Leuten ist vorgespielt
worden, dass sie auf den Prozess einwirken können, obwohl das in keiner
Phase möglich war. Man hätte von Anfang an sagen müssen: In diesem Fall
kann es gar keine Beteiligung geben, weil es ganz klare
Ausschreibungsvorschriften gibt. Und weil es bei Kunst sowieso keine
Bürgerbeteiligung geben kann, da jeder eine andere Vorstellung von Kunst
hat. Aber den Verantwortlichen fehlte der Mut dazu. In der Karli war
das anders, da gab es diesen Einfluss.
Wird es noch mal ein Dialogforum geben?
Oltmanns: Wir wollen den Herbstsalon vom letzten Jahr am
Wilhelm-Leuschner-Platz wieder nutzen, auch als offenes Dialogforum der
Stiftung Friedliche Revolution. Vom 25. September bis 11. Oktober zum
Thema "Freiraum 2015 - für Dialog und Demokratie".Interview: Björn Meine