Wenn jemand sein eigenes Gewissen über das Bürgerliche Gesetzbuch stellt, sich an einer politischen Aktion beteiligt, die gegen geltendes Recht verstößt, dann fällt gerne der Begriff "ziviler Ungehorsam". Hier in Mitteldeutschland waren jüngst einige solcher Fälle zu beobachten: Sei es bei Sitzblockaden, die genehmigte Demonstrationen verhindern sollten, beim Verhindern von legalen Abschiebungen und sogar bei der Randale Linksautonomer in Leipzig. In der Politik haben diese Fälle eine Kontroverse ausgelöst.
Enrico Stange weiß genau, dass Sitzblockaden, die genehmigte Demonstrationen verhindern sollen, ein verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht beschneiden. Doch der sächsische Landtagsabgeordnete der Linken ist stolz auf die Sitzblockaden, an denen er teilgenommen hat. Mit ihnen sollten Neonazi-Aufmärsche in Leipzig verhindert werden: "Solche Sitzblockaden sind Ausdruck einer demokratischen Reife und einer zutiefst demokratischen Grundüberzeugung. Es stünde dem Staat und dem Freistaat Sachsen gut zu Gesicht, wesentlich toleranter auch mit solchen Formen des Protests umzugehen."
"Eine begrenzte Regelübertretung"
Aktionen dieser Art haben für Stange mit Zivilcourage zu tun und gehen hinein in den Bereich des zivilen Ungehorsams. "Ziviler Ungehorsam hat natürlich auch Grenzen, logisch. Es ist eine begrenzte Regelübertretung", beschreibt der Abgeordnete. "Wenn beispielsweise die Politik sich noch nicht ganz klar ist, welche Antwort sie auf diese oder jene Herausforderung geben will, aber jetzt gehandelt werden muss! Beispielsweise beim Kirchenasyl, bei Demonstrationen, wenn man sich als Zivilgesellschaft gegen menschenverachtende, gegen rassistische Positionen zur Wehr zu setzen versucht." Stange verweist auf Bodo Ramelow, den heutigen Ministerpräsidenten von Thüringen. Der stand zwischenzeitlich wegen seiner Teilnahme an einer Neonazi-Blockade 2010 in Dresden vor Gericht. Das Verfahren wurde vor gut zwei Monaten eingestellt.
Begriff zur Kaschierung rechtswidrigen Verhaltens?
Stanges Kollege von der CDU, der innenpolitischer Sprecher im Dresdner
Landtag, Christian Hartmann, beurteilt solche Fälle ganz anders: "Ich
nehme zumindest wahr, dass unter dem Duktus 'ziviler Ungehorsam' mit
einem sich daraus definierenden angeblichen Recht rechtswidriges
Verhalten offensichtlich zunehmend gesellschaftsfähig gemacht wird."
Hartmann findet das problematisch und fordert einen gesellschaftlichen
Diskurs, gerade über die Beteiligung seiner eigenen Zunft: "Ich glaube,
dass vor allen Dingen Politiker sehr vorsichtig dabei sein sollten, das
für sich in Anspruch zu nehmen. Ich kann als Gesetzgeber, als
Legislative, als Repräsentant dieser Demokratie, nicht in Anspruch
nehmen, dass sich die Gesellschaft, dass sich Menschen an Regeln halten,
wenn ich selber vorlebe, dass es angeblich Gründe gibt, die es
rechtfertigen, gegen diese Rechtsnorm zu verstoßen."
Nicht jede Widerstandshandlung ist ziviler Ungehorsam
Wenn es, wie Hartmann fordert, zu einer breiteren gesellschaftlichen Debatte kommen sollte, dann müsste zunächst der Begriff 'ziviler Ungehorsam' geklärt werden. Der Berliner Politologe Professor Dieter Rucht hat ausgiebig zum Thema geforscht und bestätigt: "Ja, ziviler Ungehorsam ist stärker auf der Tagesordnung. Was aber nicht unbedingt bedeutet, dass die Aktionen stark zunehmen, sondern dass eher die Benennung von Aktionen zunimmt. Das heißt also: Vieles wird als ziviler Ungehorsam bezeichnet, was aber genau genommen die strengen Kriterien nicht erfüllt." Als da wären: gewaltfreier Rechtsbruch, nachdem moderate Möglichkeiten des Protests erfolglos ausgeschöpft wurden. Indem man vorübergehend eine höhere Legitimität beansprucht als das Gesetz. "Davon sollte man also nicht häufig Gebrauch machen. Das gilt im Grunde für extreme Ausnahmesituationen", warnt der Experte. "Da wird der Begriff inflationiert, finde ich, indem man eigentlich nahezu jede Widerstandshandlung gleichsam mit diesem Begriff 'ziviler Ungehorsam' adelt."