Ultras in der Türkei: Zwischen Anpassung und Widerstand

Die Tribünen gehören uns – Ultras-Demonstration in Istanbul

Zögerlicher Anlauf, zaghafter Schuss. Der Ball geht über das Tor. Wer am 26. Februar im Istanbuler Atatürk Olimpiyat Stadı das Elfmeterschießen im Euro-League Spiel zwischen Beşiktaş und Liverpool verfolgt, der ahnt nicht, was in diesem Land tatsächlich vor sich geht. Tosendes Geschrei bricht von sämtlichen Tribünen. Der Fehlversuch des Liverpool-Spielers bedeutet das Weiterkommen für die Kartallar. Es herrscht ausgelassene Stimmung. Tatsächlich tobt rund um die türkischen Kurven ein Krieg zwischen regierungskritischen Fans und Tayyip Erdoǧans AKP.

 

Angefangen hatte alles mit den Gezi-Protesten im Jahr 2013. Nachdem die Fans der Istanbuler Vereine gesehen hatten, wie Sicherheitskräfte auf alles einknüppelten, begannen auch sie Stellung zu beziehen. Insbesondere die Çarşı, Ultras von Beşiktaş waren damals federführend. Sie riefen offiziell zum Widerstand gegen Polizei und Regierungspartei AKP auf. „Tagsüber war es im Camp überwiegend ruhig. Gegen Abend begann sich zumeist die Polizei zu formieren, wollte alles räumen. Bis eben Çarşı anrückte und sie zurückgeschlagen hat“, so die Erinnerungen eines in Deutschland lebenden Mitglieds der ultrAslan von Galatasaray. Auch er nahm damals an den Protesten teil.

 

Die anderen großen Istanbuler Vereine Galatasaray und Fenerbahçe, beziehungsweise deren größte Fangruppen hatten es ihren Mitgliedern freigestellt an Gezi teilzunehmen. Während der Aufstände schlossen die Fans einen Nichtangriffspakt, der später unter dem Namen „Istanbul United“ bekannt werden sollte. Von jetzt an wollten die Anhänger primär gegen die autoritäre Regierung Erdoǧans kämpfen. In einer Stadt wie Istanbul ist das keine Selbstverständlichkeit. Die Fußball-Rivalitäten haben über die Jahre viele Todesopfer gefordert. Kämpfe werden selten ohne Waffen geführt.

 

Gezi und die Folgen

 

Gezi hat innerhalb der türkischen Gesellschaft einen Wandel herbeigeführt. Viele Bürger haben ihren Respekt vor der Polizei verloren. In den Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Ankara haben nahezu alle Einwohner von der massiven und unverhältnismäßigen Polizeigewalt mitbekommen. Zur selben Zeit polarisierte sich die türkische Bevölkerung massiv. Allerdings nicht nur zum Positiven. Erstarkenden progressiven Bewegungen einerseits, steht andererseits eine zunehmende Popularität rechter Kräfte wie der „Bozkurt“ (deutsch: Graue Wölfe) entgegen. Hinzu kommen zahlreiche Anhänger der nach wie vor starken AKP, die ganz nach den Worten Tayyip Erdoǧans, das Gesetz wieder „in die eigene Hand nehmen“ wollen.

 

Selbstredend blieb die AKP in Folge der Proteste auch auf juristischer und parlamentarischer Ebene nicht untätig. Insbesondere den Çarşı soll aktuell der Garaus gemacht werden. Gegen 35 Mitglieder der Gruppe wurde Anklage erhoben. Vorwurf: Putsch-Versuch. Es drohen lebenslange Haftstrafen.

 

Noch scheint kaum absehbar, wie lange sich der Prozess ziehen wird. Am ersten Verhandlungstag im November 2014 wurde lediglich die Anklage verlesen. Die Çarşı-Mitglieder erhielten kurz die Möglichkeit sich zu den Vorwürfen zu äußern. Cem Yakışkan, Angeklagter und prominenter Kopf der Çarşı, entgegnete den Gremien ganz salopp: „Hätte ich einen Putsch starten wollen, dann ja wohl den, dass Beşiktaş Meister wird.“ Yakışkan ging, wie andere Çarşı-Mitglieder auch, in die Offensive. Er berichtet öffentlich via Facebook-Page über seine Eindrücke zum Prozess. Der zweite Verhandlungstag war für Donnerstag, den 2. April angesetzt.

 

Rache in zwei Akten

 

Doch nicht nur die Çarşı sollten ihr Fett wegbekommen. Die türkische Regierung hatte Fußballfans im Allgemeinen als Feindbild ausgemacht. Bereits im Jahr 2011 wurde durch das Gesetz 6222 zur „Verhinderung von Gewalt und Unruhen im Sport“ der Repression Tür und Tor geöffnet. Bis auf gelegentliche Gäste- und Zuschauerverbote nach Ausschreitungen, machten die Behörden jedoch nur selten vom neuen Instrumentarium Gebrauch. Das sollte sich spätestens zur Saison 2014/15 ändern.

 

Die AKP holte zum Rundumschlag aus. Um in der neuen Saison ein Spiel der Süper Lig oder 1. Lig zu besuchen, benötigt man ein sogenanntes „Passolig“. Das Passolig ist eine elektronische Fankarte in Scheckkarten-Format. Um es zu erhalten, müssen Fans sämtliche personenbezogenen Daten abgeben. Unliebsame Fans, im Jargon türkischer Medienpropaganda selbstverständlich böse Hooligans, sollen auf diesem Weg von den Stadien ferngehalten werden. Das Absurde daran: Das Passolig wird der türkischen Bevölkerung sogar noch als Errungenschaft präsentiert.

 

Ein im Frühjahr veröffentlichter Werbespot preist die Vorteile des Produkts an. Denn das Passolig ist viel mehr als eine Fankarte, wie die aus Polen („Karta Kibice“) oder Italien („Tessera del tifoso“) bekannten Pendants. Die türkische Version fungiert gleichzeitig als Kreditkarte, über die sämtlicher Zahlungsverkehr abgewickelt werden kann. Dafür schließt der Stadionbesucher, selbst wenn er nur ein einziges Spiel besucht, einen zehnjährigen Vertrag mit der türkischen Aktifbank ab. Wie es der Zufall so will, wird der Aktifbank, beziehungsweise der darüber stehenden Holding „Çalık Group“, eine Nähe zur AKP nachgesagt. Tayyip Erdoǧans Schwiegersohn Berat Albayrak übernahm mit nur 29 Jahren den Vorsitz der Holding.

 

Geisterspielatmosphäre

 

Zu Beginn der Saison herrschte in vielen Stadien Geisterspielatmosphäre. Viele Fangruppen boykottieren das Passolig. Bei Gençlerbirliği Ankara, unter Beteiligung der linken Fangruppe KaraKızıl, kommen nur noch wenige hundert Zuschauer zu den Spielen. Ähnlich verhält es sich in anderen Städten. Teilweise verweigerten auch die Vereine das Passolig. Die Vorstände von Fenerbahçe beispielsweise versuchten so lange wie möglich, ihren Zuschauern ohne Passolig Einlass zu gewähren. Aber die Stimmung kippt.

 

Insbesondere bei Derbys werden die Leute schwach. Nicht selten trifft man auf Fans, die einem einerseits von ihrer Abneigung gegen das e-Bilet berichten und andererseits unter Schamesröte auf das Passolig in ihren Geldbeuteln zeigen. Die Fußballbegeisterung ist ungebrochen. Eine radikale Verweigerung findet nur noch in wenigen Städten statt.

 

Leider auch, da einige Fangruppen ein eher ambivalentes Verhältnis zum Passolig an den Tag legen. Die ultrAslan von Galatasaray etwa zeigen nach wie vor ihre Zaunbeflaggung bei Heimspielen in der Türk Telekom Arena. Stimmung ist dort also nach wie vor vorhanden. Sicherlich nicht mehr so euphorisch wie zuvor; viele ultrAslan-Mitglieder verweigern sich dem Passolig. Die Zahl derer, die schwach wird und die Fankarte als Normalität hinnimmt, wird jedoch von Spieltag zu Spieltag größer.

 

Basketball, Volleyball und andere Sparten des Vereinslebens lassen sich noch ohne Passolig besuchen. Teils werden die Veranstaltungen von tausenden Fans begleitet. Den Stellenwert des Fußballs besitzen sie dennoch nicht. – Ungefilterte Fußballatmosphäre lässt sich eigentlich nur noch bei europäischen Auftritten der türkischen Vereine erhaschen. Die Uefa erkennt das Passolig zwar an, die Entscheidung über die Verwendung bei Europa- oder Champions-League-Spielen bleibt dagegen der jeweiligen Vereinsführung überlassen. Am 26. Februar spielte Beşiktaş vor 65.000 Zuschauern gegen Liverpool. Es herrschte ausgelassene Stimmung. Um eine Eintrittskarte zu erhalten reichte es im Vorfeld aus, seine Passdaten abzugeben. Kontrolliert wurden sie am Einlass nicht.

 

Im Gerichtssaal

 

Derweil fand nun der zweite Verhandlungstag im Çarşı-Prozess statt. Dieses Mal mit anderem Richter. An jedem Verhandlungstag urteilt ein neuer „Unparteiischer“. Die Sicherheitsvorkehrungen waren immens. Zwei Tage vorher wurde im obersten Gerichtsgebäude in Istanbul der leitende Staatsanwalt im Berkin Elvan-Prozess von politischen Aktivisten als Geisel genommen. Berkin Elvan war ein damals 14-jähriger Junge, der knapp ein Jahr zuvor in Okmeydanı, einem recht armen und politisch linken Viertel Istanbuls, von einer Gaskartusche der Polizei am Kopf getroffen wurde. Berkin erlag seinen Verletzungen. Die Geiselnehmer forderten unter anderem die Bekanntgabe des Namens des Todesschützen. Das Gerichtsgebäude wurde von Sicherheitskräften gestürmt. Alle drei Geiselnehmer sowie der Staatsanwalt kamen um.

 

Vermutlich auch aus diesem Grund hatte Çarşı dieses Mal nicht zu einem Protest vor dem Gerichtsgebäude aufgerufen. Zu groß schien nach den jüngsten Vorfällen die Gefahr, die eigenen Mitglieder der staatlichen Repression auszusetzen. Im Gerichtssaal bot sich jedoch ein erstaunlich positives Bild. Unter anderem ging es um die Frage, ob die Beşiktaş-Fans terroristische Anschläge geplant hätten. Bei Hausdurchsuchungen wurde beispielsweise eine selbstgebaute Plastik-Bong gefunden. Diese wurde als versuchter Bomben-Bau ausgelegt. Der leitende Richter hielt diese und andere Vorwürfe größtenteils für absurd. Insgesamt zogen viele Beobachter nach dem zweiten Prozesstag ein positives Fazit. Allerdings kann das Pendel schnell umschlagen. Beim nächsten Mal wird ein anderer Richter die Sitzung leiten. Dann könnten die Schlussfolgerungen schon wieder anders ausfallen.

 

Der Druck steigt

 

Allgemein ist der türkischen Gesellschaft momentan eine große Skepsis anzumerken. Die neuen Sicherheitsgesetze der AKP schränken das Demonstrationsrecht massiv ein. Schon zuvor war es Normalität, dass Demonstrationen mit lediglich 100 Teilnehmer von Wasserwerfern und gepanzerten Einheiten begleitet wurden. Durch die neue Gesetzgebung reichen jetzt Kleinigkeiten aus, um hinter Gitter zu kommen. Schals können als Vermummungsgegenstand ausgelegt werden, Wasserflaschen als Wurfgeschosse. Der Willkür der staatlichen Organe sind keine Grenzen gesetzt. Viele Aktivisten erwarten zwar, dass sich die Gesetzgebung – ähnlich wie die Twittersperre – vor dem obersten Gerichtshof nicht halten lässt. Bis dahin werden jedoch einige Monate vergehen und die AKP kann in Ruhe Wahlkampf führen. Termin der Abstimmung ist der 7. Juni 2015.

 

Insgesamt macht sich dieser Tage wieder Skepsis in der türkischen Bevölkerung breit. Am 31. März gab es in der Türkei einen der größten Stromausfälle in der Geschichte des Landes. Ab den Morgenstunden harrte das Land ohne Elektrizität aus. Rund zwei Drittel der Türkei waren betroffen. Die Regierung sprach von „Sabotage“, die genaue Ursache ist jedoch bis heute unklar. – Interessanterweise fand zwei Tage später eine wichtige Abstimmung über den Bau eines Atomkraftwerks statt. Viele Kritiker der AKP befürchten einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen. Die Wahl werfe eben ihre Schatten voraus und da könne sich die AKP keine Niederlage leisten.

 

Auch Fenerbahçe sorgte unterdessen wieder für Schlagzeilen. Leider aus traurigem Anlass. Nach dem Auswärtsspiel gegen Rize wurde der Mannschaftsbus auf dem Weg zum Flughafen in Trabzon von Unbekannten attackiert. Mehrere Kugeln durchlöcherten die Frontscheibe des Busses. Medienberichten zu Folge schien Plan der Angreifer gewesen zu sein, den Fahrer zu treffen, damit der Bus anschließend die Brüstung einer Brücke hinunterrauscht. Wie durch ein Wunder blieb die Mannschaft unbeschadet. Lediglich der Fahrer des Busses wurde mit Gesichtsverletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Die exakten Täter sind nach wie vor unbekannt.

 

Wem darf man noch glauben?

 

In Folge wurde der kommende Spieltag für sämtliche Teams der Süper Lig abgesagt. Spätestens jetzt witterten erste Fans einen Komplott. Schon mehrfach hatte sich Fenerbahçe in der Vergangenheit mit unlauteren Mitteln Erfolge gesichert. Aziz Yıldırım etwa, der Präsident von Fenerbahçe, war bereits 2011 wegen Manipulationsvorwürfen vorübergehend in U-Haft gewandert. 2012 wurde er zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis schuldig gesprochen. Im April 2014 bestätigte der oberste Gerichtshof dieses Urteil. Yıldırım ist somit rechtskräftig verurteilt, befindet sich aber dennoch auf freiem Fuß. Da bei seiner Verhandlung der Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt worden sei, wird das Verfahren von neuem aufgerollt.

 

Zugleich wird dem Fener-Präsidenten eine Nähe zu Yıldırım Demirören, dem Präsidenten des türkischen Fußballverbandes TFF nachgesagt. Das Bus-Attentat von Fener – so schrecklich es auch ist – passt für viele türkische Fans deshalb nur allzu gut, in eine Reihe von Vorfällen, die offiziell nie vollständig aufgeklärt wurden. Viele Fans befürchten, dass ihnen wieder einmal etwas vorgegaukelt werden könnte – und dieses Mal auf besonders makabre Weise.

 

Fenerbahçe rangiert momentan nur auf Platz zwei der Tabelle (Stand: 12.4.2015). Galatasaray hat einen Lauf, Fener viele verletzte Spieler. Ein vorübergehendes Aussetzen der gesamten Liga könnte dem Verein aus Kadıköy zu Gute kommen. Auch das Vorgehen der Behörden in Kooperation mit den Medien befeuert solche Verschwörungstheorien. In der Nähe der Autobahn sei ein Gewehr gefunden worden, so erste Aussagen. Wenige Tage später präsentieren Polizei und Medien zwei angebliche Täter. Bereits wenige Stunden darauf stellte sich jedoch heraus, dass die beiden Trabzon-Fans definitiv nicht involviert waren. – Für viele aktive, türkische Fans scheint an der Geschichte etwas faul zu sein. Der Hass der Trabzon-Fans auf Fener mag nach dem manipulierten Meisterschaftsverlust 2011 immens sein; eine solche Tat käme allerdings tatsächlich einer „neuen Dimension der Gewalt“ gleich. Das traut den Trabzon-Anhängern eigentlich niemand zu.

 

Zukunft ohne Passolig?

 

Die türkischen Fans befinden sich so wie die gesamte Gesellschaft in einer turbulenten Phase. Das Vertrauen in Regierung, Exekutive und Medienlandschaft ist vielen völlig abhandengekommen. Kaum eine Meldung wird nicht hinterfragt. Hinter jeder neuen Skandal- oder Schreckensnachricht wird ein Komplott gewittert.

 

Die zusehends weniger werdenden Fans, die sich dem Passolig widersetzen, trösten sich mit Basketball oder Volleyball über die Zeit ohne Stadionbesuch hinweg. In Istanbul entdecken einige von ihnen auch die unterklassigen Vereine in ihren Vierteln neu für sich. Für Spiele in der 2. Lig und 3. Lig benötigen sie kein Passolig. Die Clubs spielen meist vor wenigen hundert Zuschauern in ungezwungener Fußballatmosphäre. Selbst dort reichen jedoch Lappalien aus, dass für darauffolgende Spiele Zuschauerverbote ausgesprochen werden; und selbst in den unteren Ligen wird bereits die Einführung des Passolig diskutiert.

 

Derzeit läuft eine Klage verschiedener Fanorganisationen gegen das Passolig und den türkischen Fußballverband TFF. Die Verhandlung wird im Juni in Ankara stattfinden. Einige Aktivisten machen sich durchaus Hoffnungen auf einen positiven Ausgang. Zugleich verkünden auch die ersten Sponsoren, wie die Nahrungsmittel-Kette Ülker ihren Unmut über das Passolig. Mit leeren Stadien lässt sich eben nur bedingt werben. „Da beißt sich der Kapitalismus in seinen eigenen Schwanz“, brachte es ein Fan von Gençlerbirliği Ankara recht treffend auf den Punkt.

 


 

Von Sergio Zarate / veröffentlicht auf lowerclassmag.com / Mehr unter: geisterspiel.blogsport.de