"Wenn es zum Äußersten kommt, ist es besser, eine Fluchtoption zu haben"

Erstveröffentlicht: 
13.04.2015

Die Parlamentswahlen am 7. Juni könnten Erdogans Machtansprüche dämpfen Am 7. Juni finden in der Türkei die Parlamentswahlen statt. Seit Anfang April stehen die Kandidatenlisten der Parteien. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wirbt offen für ein Präsidialsystem, in dem das Parlament nur eine untergeordnete Rolle spielen soll. Um das zu realisieren muss er die Verfassung ändern und braucht dafür mit seiner regierenden AKP die absolute Mehrheit. Doch die steht auf der Kippe. Es könnte eine Richtungswahl werden…

 

In Istanbul herrscht dieser Tage eine seltsame Atmosphäre. Eine gedrückte Stimmung, geprägt von einer unterschwelligen Spannung. Die zahllosen Touristen, die am Osterwochenende durch die Stadt flanieren und die Souvenirläden plündern, bekommen davon wenig mit. Oder gar nichts. Sie lassen sich treiben vom exotischen Flair der Bosporusmetropole. Im Zweifelsfall bemerken sie die radikalen Veränderungen nicht, die das Stadtbild zunehmend prägen. Die Gentrifizierung. Den Ausverkauf. Die Zerstörung der letzten Naturflächen. All das ist vielleicht auch zu weit weg von der Altstadthalbinsel mit Hagia Sophia, Blauer Moschee, Bazar und Hotels. Istanbul ist riesig. 18 Millionen Einwohner. Und das touristische Zentrum wird mehr und mehr zum Disneyland für betuchte Ausländer.

 

Am Rande des Taksim-Platzes liegt einsam und fast menschenleer der Gezi-Park unter einem trüb-grauen Himmel. Vereinzelte Fußgänger verirren sich hierher, auf einer Bank sitzt eine alte Dame und krault einen streunenden Hund. Wenn man das so sieht, kommt man kaum mehr auf die Idee, dass genau hier im Sommer 2013 der größte Volksaufstand stattgefunden hat, den die Türkei in den letzten Jahrzehnten erlebte. Alle Spuren sind getilgt.

 

Am Aufgang zum Park steht eine Handvoll Polizisten. Sie passen auf, dass es nicht zu größeren Menschenansammlungen kommt. Alle paar Wochen kommt es noch zu spontanen kleinen Demos, zuletzt in Erinnerung an Berkin Elvan, der im Gezi-Sommer eine Gasgranate an den Kopf bekam und nach neun Monaten im Koma starb. Er wurde 15 Jahre alt. Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, hatte den Jungen einen "Terroristen" genannt, während die Eltern um sein Leben bangten.

 

Ein prominenter türkischer Künstler, der darum bittet, dass sein Name nicht genannt wird, erzählt, wie er sich im deutschen Konsulat derzeit um eine Aufenthaltsgenehmigung bemüht. Er war schon oft in Deutschland. Um seine Arbeit zu präsentieren, Vorträge zu halten. Doch es sei schwierig. Die deutschen Behörden stellen sich quer, werfen ihm Steine in den Weg. "Vor denen muss man sich komplett ausziehen", sagt er. Will er denn auswandern, die Türkei dauerhaft verlassen? "Eigentlich nicht. Das hier ist meine Heimat. Ich sorge bloß vor." Wofür? Die Lage, sagt er nachdenklich, werde schlimmer und schlimmer. Immer mehr Repressionen, immer tiefere Eingriffe ins Leben der Menschen.

 

"Erdogan kann nicht mehr zurück. Er wird sich um jeden Preis an der Macht halten." Und wenn es wieder zu einem Aufstand kommt, wie vor zwei Jahren? "Dann wird er es auf einen Bürgerkrieg ankommen lassen. Schon damals ist es ihm gelungen, einen Keil zwischen die Menschen zu treiben, seine Anhänger gegen die Demonstranten aufzuhetzen. Er wird nicht nachgeben. Wenn es zum Äußersten kommt, ist es besser, eine Fluchtoption zu haben."

 

Viele reden hier so, in der Gegend um Taksim und Cihangir, im Szeneviertel, wo sich Künstler, Studenten, die junge gebildete Mittelschicht tummeln. Die meisten von ihnen waren im Sommer 2013 dabei, aber kaum einer spricht mehr groß drüber. Viele sind enttäuscht, andere haben Angst. Wieder andere flüchten sich in Galgenhumor. "Ein zweites Gezi wird es nicht geben, nicht jetzt, wo das neue Sicherheitsgesetz in Kraft ist", sagt ein junger Mann, der an der Bosporus-Universität studiert.

 

In der "Neuen Türkei" Erdogans ist für unterschiedliche Meinungen und Lebensmodelle kein Platz mehr

 

Erdogan hat Anfang April seine Unterschrift unter das umstrittene Paket gesetzt, das die AKP gegen den erbitterten Widerstand der Opposition durchs Parlament gepeitscht hat. Es macht die Türkei de facto zu einem Polizeistaat. Nach offizieller Lesart soll es die Sicherheit der Bevölkerung erhöhen, sie vor gewaltbereiten Extremisten besser schützen. Tatsächlich ist es ein Freibrief für eine Polizei, der Präsident Erdogan kürzlich seine "volle Unterstützung" zusicherte. Bei Demonstrationen dürfen die Polizisten nun scharfe Munition einsetzen. Sie dürfen durchsuchen und verhaften, wen sie wollen. Ein Richter muss erst 48 Stunden später eingeschaltet werden. Wer sich vermummt, gilt als Terrorist. AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu regte in den ersten Apriltagen an, nicht genehmigte Demonstrationen und Kundgebungen gänzlich zu unterbinden.

 

Noch vor wenigen Jahren, vor Gezi, fanden auf der zum Taksim-Platz führenden Einkaufsmeile Istiklal fast täglich Demos unterschiedlichster politischer und gesellschaftlicher Gruppen des gesamten Spektrums statt. Manchen nannten sie verächtlich die "Märsche der Unzufriedenen". Tatsächlich waren sie Ausdruck einer erblühenden Pluralität und Polyphonie. Damit ist es lange vorbei.

 

In der "Neuen Türkei" ("Yeni Türkiye"), die Erdogan propagiert, ist für unterschiedliche Meinungen und Lebensmodelle kein Platz mehr. Tatsächlich ist "Yeni Türkiye" keine neue, sondern eine alte Türkei – eine ganz alte. Der Staatspräsident lässt keine Gelegenheit vergehen, sich mit osmanischem Kitsch zu umgeben, auf Plakaten schmissen sich seine Kandidaten unlängst in altertümliche Kostüme, ein Wahlkampf-Song, der den Präsidenten einmal mehr als Heilsbringer preist, erinnert nicht zufällig an osmanische Volksmusik; nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten kniete er, ganz wie die osmanischen Sultane, in der Moschee von Eyüp nieder. An den Schulen wird fortan wieder Osmanisch gelehrt. Atatürks Republik und alles, wofür sie steht, ist ihm ein Dorn im Auge. Dabei lässt er es sich nicht nehmen, auf Atatürks Yacht über den Bosporus zu schippern und Empfänge zu geben – aber eben nicht in der Tradition des Republikgründers, sondern in dessen Vereinnahmung und Überwindung.

 

Bis zum Republikjubiläum im Jahr 2023 will er dem Land endgültig seinen Stempel aufdrücken. Sein gigantischer Präsidentenpalast mit 1001 Zimmern und seine private Residenz stehen bei Ankara im Atatürk-Wald, der dafür großteils abgeholzt wurde. Im Oktober soll die dritte Brücke über den Bosporus fertiggestellt sein – sie ist nach Sultan Selim I. benannt, genannt Selim der Grausame, der seine halbe Verwandtschaft niedermetzeln und Aleviten und Schiiten verfolgen und töten ließ: ein blutrünstiger Despot. Die größte Moschee und der größte Flughafen der Welt sollen bis 2023 fertiggestellt sein, und auf der europäischen Seite soll ein zweiter Bosporus gegraben werden. Naturschützer und Wissenschaftler warnen davor, dass das gesamte Ökosystem Istanbuls zusammenbrechen könnte.

 

Das Armenviertel Tarlabasi, das an den Taksim-Platz grenzt, soll dem Erdboden gleichgemacht und durch eine Retortenstadt mit Malls und Luxuswohnungen ersetzt werden. Doch zur Zeit ruhen die Bauarbeiten, während man versucht, Wohnungen zu verkaufen, die noch längst nicht gebaut sind. Offenbar fehlt den Investoren das Geld für ihre irrwitzigen Pläne. Die Gentrifizierung schreitet dennoch rasend schnell voran, die Wohnungs- und Grundstückspreise in der Innenstadt explodieren, die Armen und längst auch Teile der Mittelschicht werden in die Trabantenstädte und seelenlosen Wohntürme verdrängt, die von der AKP nahestehenden Baukonsortien in den letzten Jahren an den Rändern Istanbuls aus dem Nichts gestampft wurden.

 

Dabei werden die Armen und Ausgestoßenen keineswegs aus dem Stadtbild verbannt, im Gegenteil. Ihren Platz haben die Millionen syrischen Flüchtlinge eingenommen, die die Türkei aufgenommen hat und die sie nun ihrem Schicksal überlässt. Sie sind omnipräsent, auch in den besseren Gegenden. Auf den Straßen betteln kleine Kinder und Alte in Lumpen um ein paar Kurus oder etwas zu Essen. Wer kräftig und arbeitsfähig ist, lässt sich für einen jämmerlichen Lohn ausbeuten. Es sind Menschen, die alles verloren haben, vielen von ihnen sieht man an, dass sie jegliche Hoffnung auf eine bessere Perspektive aufgegeben haben. Zwar gibt es zivile Hilfsprojekte, die meist von engagierten Bürgern getragen werden, doch aufgrund der schieren Menge an armen Menschen sind sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch das ist "Yeni Türkiye".

 

"Yeni Türkiye" ist auch ein Land, in dem der Staatspräsident keinen Widerspruch duldet – weder aus der Bevölkerung noch aus den Medien noch aus den eigenen Reihen. Fast täglich wird irgendjemand wegen vermeintlicher Beleidigung des Staatschefs vor Gericht gezerrt – zuletzt sogar der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu. Es geht um Einschüchterung und darum, Kritiker zur Not mit Geld- und Gefängnisstrafen mundtot zu machen. Auch Journalisten werden reihenweise angeklagt oder auf Weisung von oben gefeuert, wenn sie nicht auf Linie sind. Regelmäßig erhalten Zeitungen und Fernsehsender neue Maulkörbe – wer dennoch über die Tabuthemen, darunter auch der Korruptionsskandal, berichtet, muss mit harten Strafen rechnen.

 

Als vor zwei Wochen Aktivisten der linksradikalen DHKP-C den Istanbuler Justizpalast stürmten und einen Staatsanwalt als Geisel nahmen (die Attentäter und der Staatsanwalt kamen bei der Stürmung des Gebäudes ums Leben), wurde umgehend eine Mediensperre verhängt. In der Folge wurden die Websites von 166 Zeitungen, Blogs und anderen Medien, sowie die sozialen Netzwerke Facebook, Twitter und YouTube kurzzeitig gesperrt.

 

Zu den Tabuthemen zählen auch die zwei mit Waffen und Ausrüstung beladenen Trucks des Geheimdienstes MIT, die im Frühjahr 2014 die Grenze zu Syrien überquerten, offenbar um dort Extremisten mutmaßlich des Islamischen Staates (IS) mit Nachschub zu versorgen. Die Soldaten, die die Trucks stoppten, wurden inzwischen verhaftet, der Staatsanwalt, der die Untersuchung einleitete, in die anatolische Pampa strafversetzt.

 

Sämtliche Fäden der Macht sollen künftig in Erdogans Händen liegen

 

Mitten in dieser Entwicklung finden am 7. Juni die Parlamentswahlen statt. Erdogans erklärtes Ziel ist es, nach den Wahlen die Verfassung zu ändern und das parlamentarische durch ein Präsidialsystem zu ersetzen. Sämtliche Fäden der Macht sollen künftig in seinen Händen liegen. Große Teile der AKP halten sich bislang mit Zustimmung zurück. Wer jetzt selbst noch Einfluss hat, bangt um seine Position. Niemand lässt sich gerne entmachten.

 

Erdogans Wunsch einer Partei, die geschlossen hinter ihm steht, erfüllt sich bislang nicht. Zuletzt übte Regierungssprecher Bülent Arinc Kritik an den Plänen – und das obwohl Arinc bislang eher wie ein braver Parteisoldat wirkte. Daraufhin griff ihn Ankaras Bürgermeister Melih Gökcek frontal an und bezichtigte Arinc, Teil des "tiefen Staates" zu sein und die Regierung unterwandert zu haben. Arinc konterte, Gökcek gehöre zur Gülen-Sekte. Das grenzte an Kabarett – man hätte drüber lachen können, wenn es nicht so ernst wäre. Derweil sprach Ministerpräsident Davutoglu Erdogan nach einigem Zögern seine Unterstützung für ein Präsidialsystem aus.

 

Aber nicht nur innerhalb der AKP rumort es, wenn es um dieses Thema geht. Laut Hürriyet spielt es für den mächtigen türkischen Unternehmerverband TÜSIYAD keine große Rolle, ob die Türkei ein parlamentarisches oder ein präsidiales System haben – wichtiger sei, dass rechtsstaatliche Grundlagen sichergestellt seien. Ein Zeichen, dass die türkische Wirtschaft nicht bereit ist, den repressiv-autoritären Kurs weiter mitzutragen.

 

Die wesentliche Frage ist aber, ob es überhaupt so weit kommt. Denn für eine Verfassungsänderung benötigt die AKP eine absolute Mehrheit – und die ist derzeit, zwei Monate vor der Wahl, mehr als fraglich. Jüngeren Umfragen zufolge liegt die Zustimmung für die AKP nur noch bei knapp unter 40%, die Oppositionsparteien haben hingegen zugelegt. Die kemalistische CHP könnte 25 bis 30% holen, die rechtsnationalistische MHP rangiert je nach Zahlenquelle zwischen 12 und 18%. Die kurdische HDP profitiert zwar davon, dass ihr Vorsitzender Selahettin Demirtas ein Sympathieträger ist, ob sie den Sprung über die 10%-Hürde schafft, ist derzeit aber noch fraglich.

 

Ein Problem ist auch, dass den Wählern kaum Alternativen bleiben, denn realpolitisch haben weder die Kemalisten noch die Nationalisten der AKP viel entgegenzusetzen – sie definieren sich seit Jahren in erster Linie über ihre Ablehnung der Regierungspartei, haben aber selbst keine tragfähigen Konzepte oder frische Ideen vorzuweisen.

 

Dass die AKP die meisten Stimmen erhalten wird, gilt daher einmal mehr als sicher. Doch wenn sie in den nächsten Wochen nicht mächtig aufholt, stehen die Chancen gut, dass sie die absolute Mehrheit verfehlt – und damit wäre nicht nur die Verfassungsänderung dahin. Erdogans Image vom starken Mann, der auf "sein" Volk zählen kann, wäre ebenfalls dahin – oder zumindest stark angekratzt.

 

Es wird eine Richtungswahl sein, die zeigt, ob die Türkei "Yeni" sein oder doch lieber an pluralistisch-zivilgesellschaftlichen Werten festhalten will.

 

Gerrit Wustmann 13.04.2015