Leipzig. In 182 Verfahren wegen Körperverletzung gegen sächsische
Polizisten kam es in keinem Fall zu einer Verurteilung. Thomas Wüppesahl
ist Bundesvorsitzender des Berufsverbandes „Kritische Polizisten“. Im
Interview mit LVZ-Online sieht er die Ursache unter anderem in der Nähe
von Beamten, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Er fordert unabhängige
und bessere Kontrolle.
LVZ:
In Sachsen gab es 2014 182 Verfahren gegen Polizisten wegen
Körperverletzung. Hat die Polizei ein Problem mit Gewalt aus den eigenen
Reihen?
Thomas Wüppesahl: Eindeutig: Ja.
Und nach unseren Beobachtungen steigt die Zahl der Fälle an. Die Gewalt
nimmt zu. Das liegt vor allem an einem Versagen der Kontrollinstanzen.
Fehlverhalten im Dienst wird nur ausnahmsweise negativ sanktioniert.
Auch die Gewalt gegen Polizisten steigt.
Wir
erleben einen allgemeinen Verlust des Respekts, auch gegenüber den
Beamten. Aber das rechtfertigt keine Gewalt, die von Polizisten ausgeht.
Da beobachten wir eine gewisse Verrohung, die qualitativ eine andere
Dimension darstellt als jene von Bürgern gegen Beamte. Letztere handeln
hoheitlich, sie begehen dann gewissermaßen staatliche Gewaltübergriffe.
Immer
wieder wird die namentliche Kennzeichnung von Polizisten gefordert. Die
Beamten sollen sich nicht mehr durch Anonymität bei Übergriffen aus der
Affäre ziehen können…
Mir gefällt nicht das Bild, das die Polizei heute nach außen trägt. In
den 1970ern waren wir bei Demonstrationen noch ohne harten Hut im
Einsatz. Heute stehen die Polizisten mit Helm und Rüstung da. Manchmal
denke ich mir: Sind wir hier im Bürgerkrieg? Wir „Kritischen Polizisten“
sind für ein Namensschild an der Uniform. Wir wollen keine Willkür
verdecken, sondern einen funktionierenden Staatsapparat und Gemeinwohl.
Eine Kennzeichnung mit Nummern scheidet für Sie aus?
Nummern
sind nur die zweitbeste Lösung. Schließlich sind auch Richter und
StaatsanwältInnen den Angeklagten bekannt. Da fordert niemand
Anonymisierung. Wir sagen: Namen – alles andere ist lächerlich und einer
demokratischen Gesellschaft wie der unseren nicht würdig.
Verbotene Demonstrationen - ein verfassungsrechtlicher Skandal
Bei
Großereignissen wie den Legida- und Pegida-Demonstrationen sind
tausende Beamte im Einsatz. Die Polizei klagt über Personalnot. War es
richtig, einige der Aufzüge zu verbieten?
Nein! Das ist ein
auch verfassungsrechtlicher Skandal. Das hat es so noch nie gegeben. Das
waren türkische Verhältnisse in Dresden und von der Landesregierung
dreist begründet. Die Personalnot wurde in dem Fall nur vorgeschoben.
Dennoch, die Belastungen steigen. Ist der Druck, dem die Beamten ausgesetzt sind, inzwischen zu groß?
Auch
unter Druck muss ein Polizist funktionieren. Wenn er nicht
funktioniert, dann muss sein Fehlverhalten mit den dafür bestehenden
Normen sanktioniert werden.
In keinem der eingangs erwähnten
182 Verfahren gegen Polizisten kam es zu einer Verurteilung. Waren all
diese Anzeigen unbegründet oder hakt es bei den Ermittlungen?
Es kommt nur selten zu Anklageerhebungen gegen Polizisten bei Vergehen
im Dienst. Das liegt an der Nähe zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei
und internen Ermittlern. Die Dienstaufsicht funktioniert nicht. Es
herrscht ein flächenhaft grassierender, falscher Korpsgeist: Da wird
nicht gegen Kollegen ermittelt. Das ist ein ganz unsauberes Geschäft,
was da läuft. Und: Alle Insider wissen das.
Wenn die interne Kontrolle versagt, braucht es mehr Transparenz?
Die
Presse ist teilweise zu sehr mit eingewoben. Wenn da mal einer kritisch
nachfragt, dann bekommt er beim nächsten Mal keine Auskunft mehr, wird
zu den nächsten Einsätzen mit Durchsuchungsbildern, Festnahmen und
Ähnlichem nicht mitgenommen. Zudem muss man sagen, die Pressestellen der
Polizei, das ist einer der wenigen Bereiche, wo noch sehr professionell
gearbeitet wird. Auch deshalb haben wir das falsche Bild über die
Verhältnisse in unseren Polizeien.
Den Polizisten fehlt ein Ombudsmann
An wen können sich Beamte wenden, die Fehlverhalten beobachten?
Aus
anderen Staaten kennen wir unabhängige Institutionen ähnlich den
Ombudsleuten. Für die Soldaten der Bundeswehr gibt es den
Wehrbeauftragten. So etwas fehlt bei der Polizei. Und wenn es solche
Stellen gibt, dann sind sie meist dem Innenressort angegliedert. Eine
Ansiedlung außerhalb dieses Ministeriums scheitert am Einsatz von
Lobbygruppen wie den Polizeigewerkschaften. Wir haben keine neutrale
Instanz mit Sanktionsmöglichkeiten, weil auch die Staatsanwaltschaften
patzen, wenn es um „ihre“ Helfer von der Polizei geht.
Ist die Politik in der Bringschuld?
Ich vermisse den politischen Willen zu echten Reformen. Sie finden
selten liberale Köpfe auf dem Posten des Innenministers. Da sitzen eher
Hardliner. Hinzu kommt, die Apparate führen ein Eigenleben. Da wartet
die Führungsebene halt, bis ein genehmer Minister ins Amt kommt, und
überwintert mit Schläue und Geschick.
Aber wenn das oben jemand
entschiede, dann würde es stattfinden. Denn wir sind Polizeibeamte und
das bedeutet: Befehl und Gehorsam funktionieren.
Und bei den Polizisten? Wo muss man ansetzen?
Die
Ausbildung ist verbesserungswürdig. Es muss mehr für die Fort- und
Weiterbildung der Beamten getan werden. Außerdem brauchen wir
Supervision. Besonders in kritischen Bereichen wie der Betreuung von
V-Leuten, verdeckten Ermittlern muss man die Polizisten an der kurzen
Leine halten und gegebenenfalls sanktionieren können. Die Dienstaufsicht
müsste endlich funktionieren. Und: je sensibler der dienstliche
Handlungsauftrag, so intensiver sollte Dienstaufsicht ausgeübt werden.
Zur Person:
Thomas Wüppesahl, Jahrgang 1955, ist Vorsitzender des Berufsverbandes
„Kritische Polizisten“. Der gebürtige Hamburger war Streifenpolizist auf
dem Kiez, später wechselte er zur Kriminalpolizei. Nach seinem Studium
kümmerte er sich um Wirtschaftskriminalität und Organisierte
Kriminalität.
Wüppesahl engagiert sich bereits seit den 1970er
Jahren in der Anti-Atomkraftbewegung. Nach den Ereignissen rund um die
Demonstrationen gegen das AKW Brokdorf gründete das
Gewerkschaftsmitglied mit Kollegen aus dem Polizeidienst 1986 das
„Hamburger Signal“, aus welchem die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG)
kritischer Polizisten hervorging. 1987 zog er für die Grünen in den
Bundestag ein, schied im gleichen Jahr jedoch aus der Partei aus. Er ist
Bundessprecher der BAG.