Der Namengeber

Erstveröffentlicht: 
19.02.2015

Kunst zum Erinnern: Gunter Demnig ist der Mann, der Europa mit Zehntausenden Stolpersteinen bepflastert. Was treibt ihn an? Ein Arbeitsbesuch.

Von Marina Kormbaki

 

Hameln. Der rote Kleinbus rumpelt aufs Pflaster der Fußgängerzone, vor der Menschentraube bleibt er stehen. Ein Mann steigt aus, den Stetson tief ins Gesicht gezogen, rotes Halstuch, Weste mit vielen Taschen. Er geht ums Auto und öffnet die Hecktüren, aber die Menschen beachten ihn nicht. Zu ihnen spricht der Bürgermeister von Hameln, anschließend halten Schüler Referate über Menschen, die einst im Haus hinter ihnen lebten und dann nicht mehr. Der Mann mit Hut trägt Kelle, Mörtel und einen goldglänzenden Stein heran und macht sich ans Werk; ans Erinnerungswerk.


Fast jeder in Deutschland kennt die Stolpersteine. Der Mensch aber, der sie erfunden hat und verlegt, der von ihnen lebt, ist den meisten ein Unbekannter.


Gunter Demnig ist der Mann, der Deutschland mit Stolpersteinen bepflastert - jenen quadratischen Betonsteinen mit einer Oberseite aus Messing, die im Telegrammstil Auskunft gibt über das Schicksal von Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. "Hier wohnte...", "hier wirkte...", "hier lernte..."- so beginnt der Text, gefolgt vom Namen des Opfers, seinem Geburtsjahr, Deportationsjahr, Todesort. Es gibt Menschen, die halten die Stolpersteine für eine Initiative der Bundeszentrale für Politische Bildung oder sonst einer offiziellen Stelle. So sehr scheint sich das Projekt schon institutionalisiert zu haben, was verständlich ist angesichts der mehr als 50000 bereits verlegten Stolpersteine. "Nee, nee", sagt Gunter Demnig, und sein leicht spöttisches Lächeln lässt wiederum auf Steine schließen, die ihm von offizieller Seite in den Weg gelegt worden sind, "das ist mein Kunstwerk." So sieht er sich: ein Künstler, der jenen ihre Namen zurückgibt, die von den Nationalsozialisten zu Nummern entwürdigt wurden. Das Erinnern an Tod und Vertreibung ist Demnigs Lebenswerk.


Seit 20 Jahren schon ist der Kölner Bildhauer mit seinem Werkzeug und den Steinen im Kleinbus unterwegs, um ­irgendwo in der Republik Stolpersteine zu verlegen. Ein endloser Road Trip, am Abgrund der Geschichte entlang. In jüngster Zeit aber werden Demnigs Termine zahlreicher und die Wege länger. Manchmal vergehen Wochen, ehe er seine Partnerin wiedersieht. Hotels sind an die Stelle eines Zuhauses getreten. Und der rote Transporter, versteht sich. Im vergangenen Jahr war er 265 Tage auf Achse, und manchmal waren es drei, vier Orte pro Tag, die der 67-Jährige aufsuchte. In Deutschland, aber auch in den Niederlanden, in Polen, Norwegen, Österreich, Rumänien, Tschechien.


Demnigs unheimlich voller Terminkalender spiegelt das ungeheuerliche Ausmaß der NS-Vernichtungspolitik. Aber Demnig hat eine weitere Erklärung dafür, dass ausgerechnet jetzt so viele lokale Gedenkinitiativen, Schulen, Gemeinden und Privatleute die 120 Euro pro Stein berappen und Demnig zu sich einladen. "Die Generation der Täter und der Opfer sprach nicht über ihre Erlebnisse, jahrzehntelang wurde geschwiegen, aber das ist jetzt vorbei. Die heute Jungen wollen wissen, was geschehen ist." Ist das so? Erst vor Kurzem, zum ­ 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung, hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie veröffentlicht, wonach 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung gern "hinter sich lassen" möchten, 58 Prozent möchten einen "Schlussstrich" ziehen. "Das deckt sich nicht mit meiner Erfahrung", sagt Demnig an diesem trüben Wintermorgen in Hameln und deutet auf die Schülergruppe, die gleich, bei der nächsten von insgesamt 20 Steinverlegungen an diesem Tag, aus dem Leben weiterer NS-Opfer berichten wird. "Mit der monströsen Zahl von sechs Millionen Holocaust-Opfern können die im Geschichtsunterricht doch nichts anfangen - wer kann das schon? Sobald aber vom Einzelschicksal die Rede ist, sind sie interessiert und betroffen."


Demnigs Geschichtsunterricht endete mit der Weimarer Republik. Der Vater hat über seine Zeit als Besatzer in Frankreich geschwiegen. Am Sterbebett, erzählt Demnig, rief er aus, er sei im KZ. "Mein Geschichtslehrer war Rudi Dutschke", sagt Demnig, "ich hab' den noch in der Berliner Falken-Baracke reden hören." Demnig malte damals US-Flaggen mit Totenköpfen, was ihm einige Tage in Haft einbrachte. Seine Kunst war immer schon politisch, sagt er und bezweifelt, dass es überhaupt so etwas wie unpolitische Kunst geben kann. Die Stolpersteine sind sein Beitrag zur Überwindung des Schweigens, wie es damals bei ihm zu Hause herrschte.


Die ersten 7000 Steine hat Demnig noch selbst gegossen. Inzwischen aber ist die Anfrage so groß und die Organisation so aufwendig, dass er ein Team von fünf Leuten um sich geschart hat, darunter ein Bildhauer, der in Berlin die Steine herstellt. Dass die nun immer häufiger im Ausland verlegt werden, erklärt er mit dem Stand der Aufarbeitung dort. Immer neue Erkenntnisse treten zutage, und Demnig staunt über die vielen unbeleuchteten Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. "Im September war ich in der griechischen Stadt Thessaloniki, wo einst eine jüdische Mädchenschule war. Von einem Tag auf den anderen verschwanden alle 174 Schülerinnen. Oder neulich, in Rom: Dort verlegte ich Steine für zwölf Carabinieri. Sie hatten sich geweigert, der SS beim Aufspüren von Juden zu helfen, und wurden deportiert." Ob die Leute das nicht seltsam finden, dass ausgerechnet ein Deutscher sie an die Vergangenheit erinnert? "Im Gegenteil", sagt Demnig, "immer wieder höre ich: Schön, dass endlich mal ein Deutscher zu uns kommt und mit uns der Opfer gedenkt."


Nicht jeder mag, was Demnig macht. München zum Beispiel ist für ihn tabu, weil Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, sein Projekt "unerträglich" findet. Die eingravierten Namen Ermordeter würden mit Füßen getreten, argumentiert die Münchnerin Knobloch, einige jüdische Gemeinden sehen es ähnlich. Künstler und Kunstkritiker werfen Demnig wiederum ein allzu plakatives Werk vor, was er auch gar nicht bestreitet.


"Klar sind die Stolpersteine plakativ, deswegen sind sie als Mahnmal auch besser geeignet als abstrakte Gedenkstätten, wo zweimal im Jahr Kränze abgelegt werden und das war's. Die Steine sind alltäglich und konkret, und jeder weiß sofort, was gemeint ist, anders als beim Holocaust-Denkmal in Berlin, wo man erst mal lange nachdenken muss." Im Unterschied zum Stelen-Monument für die ermordeten Juden Europas richten sich die Stolpersteine an alle Opfergruppen. Was aber nicht bedeutet, dass Demnig jede Anfrage umsetzt. "Vor Kurzem bat ein Paar um einen Stolperstein für einen Angehörigen, der 1936 wegen Widerstands verurteilt worden sei. Nach unseren Recherchen beim Bundesarchiv stellten wir aber fest, dass der Mann wegen seiner Homosexualität ins Zuchthaus gesteckt wurde. Seine Familie wusste das, bestand aber auf das Etikett ,politischer Häftling'. Ich wollte dem Mann nicht noch mal seine Identität nehmen und lehnte ab."


Präzise hämmert Demnig die Steine ins Pflaster, einfühlsam spricht er über die Schicksale dahinter. Einzig der unruhige Blick unter der Hutkrempe verrät die Rastlosigkeit eines Menschen, der noch viel vor hat im Leben und bezweifelt, dass dazu genug Zeit bleibt. Reich sei er nicht geworden, sagt Demnig. Aber er hat 50000 Euro gespart und damit eine Stiftung gegründet. Sie soll sein Werk fortsetzen, wenn er es nicht mehr kann. Mag sein, dass Demnig sich mit jedem Stolperstein auch selbst ein Denkmal setzt. Vor allem aber ist seine Kunst ein Wettlauf gegen das Vergessen. Demnig und sein roter Bus sind unaufhaltsam.