Verunsicherung und Angst: Etwa die Hälfte der kleinen Geschäfte macht dicht
Von Sabine Kreuz
"So viel Polizei, so viele Krankenwagen. Sagenhaft." Roswitha Wirth
kommt aus Thüringen, aus der Nähe von Gera - und versteht die Welt nicht
mehr. "Das ist hier wie im Krieg." Ihr gestriger geplanter
Einkaufsbummel in der Leipziger City fällt aus. "Ich bin genervt, weil
hier alles zu ist", schimpft die 66-Jährige. Es ist zwei Minuten nach 16
Uhr, als sie keine Chance mehr hat, in der Parfümerie Douglas ihren
Gutschein einzulösen. Andere Läden in der Einkaufsmeile Petersstraße
vis-à-vis wie der Buchladen Hugendubel sind zu dieser Zeit schon längst
zu, andere ziehen sukzessive nach. "Sollen die doch alle in Berlin ihren
Frust ablassen, hier ist der falsche Ort", findet die enttäuschte
Thüringerin. Nun könne sie noch nicht mal mehr mit der Straßenbahn
zurück ins Hotel.
Die großen Kaufhäuser Karstadt, Galeria Kaufhof, die Höfe am Brühl und
Breuninger beispielsweise bleiben zwar offen, sind teils aber schon am
Nachmittag gähnend leer. Passagen wie etwa Specks Hof, der Messehof und
die Marktgalerie sind wie ausgestorben. Überall hängen Schilder an den
Eingangstüren "Wegen der Demonstrationen heute geschlossen. Wir bitten
um Verständnis."
"Wir können doch nicht das ganze gesellschaftliche Leben beenden", meint
Karstadt-Chefin Marlies Göllnitz-Gellert, die auch der Gemeinschaft der
City-Händler vorsteht. Karstadt habe auf, "weil die Kunden ein Recht
darauf haben, während der Öffnungszeiten einzukaufen", meint sie. "Es
gab im Vorhinein jede Menge Gerüchte und eine Unmenge an Anrufen von
Händlern, die fragten, wie sie sich verhalten sollen", schildert sie.
Viele seien verunsichert gewesen. Trotz anderslautender Gerüchte habe
der City-Verein in Abstimmung mit der Stadt Leipzig aber keine
Empfehlung zur früheren Schließung von Geschäften gegeben. Bei ihrem
Rundgang am Nachmittag durch die Innenstadt resümiert sie: "Etwa die
Hälfte der kleinen Geschäfte hat zu. Das waren individuelle
Entscheidungen der Händler. Wer geschlossen hat, machte das auf eigene
Faust."
Wie gewohnt empfängt das Spezialgeschäft "Edle Tropfen" unter den
Arkaden des Alten Rathauses seine Kunden bis 19 Uhr. Mit-Inhaber Ingo
Förster fühlt sich sicher: "Gucken Sie doch auf den Markt. Es ist genug
Polizei da." Der Traditionsladen besteht schon seit 108 Jahren. "Und hat
viel überstanden. Da überstehen wir auch das hier", meint der
73-Jährige. Andere sehen es ganz anders: "Es ist kein Mensch mehr in der
Stadt, was soll ich da noch hier? Da kommen doch auch keine Kunden",
sagt eine Verkäuferin, die gerade ihren Laden abschließt.
Straßenmusiker Pjotr aus Polen hat nur wenige Münzen in seinem
Gitarrenkasten. Der 25-Jährige nimmt es gelassen, eine halbe Stunde
harre er noch aus, sagt er kurz nach 16.30 Uhr. In Leipzig sei er eh nur
auf der Durchreise.
Viele Restaurants in der Innenstadt sind hell erleuchtet, teils gut
besucht. "Aufgrund der Demonstration öffnet die Gaststätte einige
Minuten später", steht am Eingang zum Kabarett Academixer. Im Ticketbüro
ein paar Meter weiter in der Kupfergasse haben bis 17 Uhr schon relativ
viele Leute angerufen und sich danach erkundigt, ob die Veranstaltung
"Oberhalb der Gürtellinie" unter anderen mit Anke Geißler auch wirklich
stattfindet, erzählt Mitarbeiterin Sara Bräuer. "Wir haben allen
versichert: ,Wir spielen auf jeden Fall'", so die 29-Jährige. Einige
hätten aber abgesagt - aus Angst vor Tumulten. "Ein Mann meinte, mit 75
Jahren wolle er sich das nicht mehr antun, an einem solchen Tag ins
Zentrum zu kommen. Wir könnten die Karten verschenken", erzählt die
Mitarbeiterin.
Seit einer halben Stunde schon versuche er, mit seinem Fahrrad aus der
Innenstadt herauszukommen, erzählt Dennis Lieschke (37). Da ist es ein
paar Minuten nach 17 Uhr. Überall würde Polizei Ein- und Ausgänge
versperren. Es spricht sich herum: Am Neuen Rathaus gibt es noch eine
Schleuse auf den Ring. Kurz vor 18 Uhr füllt sich die City wieder. Die
Kundgebungen beginnen.
Merbitz: "Insgesamt ist es gut gelaufen"
Polizeipräsident zieht positive Zwischenbilanz
Von Andreas Debski
Es scheint, als würde jeglicher Stress an Bernd Merbitz abprallen. Der
Leipziger Polizeipräsident steht mitten auf dem Augustusplatz.
Lagebesprechung unter freiem Himmel. Das Innenministerium hat
Staatssekretär Michael Wilhelm nach Leipzig beordert,
Landespolizeipräsident Jürgen Georgi steht genauso in Rufweite der
Legida-Kundgebung wie Merbitz-Stellvertreter Torsten Schulze, der den
Großeinsatz koordiniert. Mehr polizeiliche Führungsriege geht kaum.
"Bis jetzt läuft es gut. Aber Legida ist noch nicht losgelaufen",
erklärt Merbitz im Entscheider-Quartett. Er weiß, dass nicht wenige der
Demonstranten ihn als Feind sehen. Das müsse man aushalten können, gibt
der Polizeichef einen der wenigen Einblicke in sein Innenleben. Und:
"Ich bin völlig ruhig." In diesem Moment beginnt der erste Legida-Redner
vor der Oper mit seiner Ansprache. Merbitz beendet die Besprechung,
über Funk ist er mit dem Stab in der Polizeidirektion an der
Dimitroffstraße verbunden. Hier laufen alle Informationen zusammen,
werden die aus der gesamten Bundesrepublik nach Leipzig entsandten
Hundertschaften verteilt. Der Chef selbst bleibt überwiegend im
Schatten.
Am Abend ist so viel Polizei in der Innenstadt präsent, wie seit den
Montagsdemos im Herbst 1989 nicht mehr. "Wir haben eine Woche lang Tag
und Nacht gearbeitet, um die Demonstrationen absichern zu können",
erklärt Merbitz. Das heißt unter anderem: Gefährdungspotenziale und den
Zulauf zu den Veranstaltungen analysieren, Absperrungen festlegen,
Personal-Anforderungen bundesweit herausgeben und Marschbefehle
erstellen. Ein Kraftakt, der nun möglicherweise jede Woche zu bewältigen
ist, um das Versammlungsrecht zu gewährleisten, sagt Merbitz.
Legida bewegt sich in Richtung Hauptbahnhof. Der Polizeipräsident läuft
brenzlige Punkte ab: Goethestraße, Grimmaischer Steinweg. Auf dem Weg
passen ihn einige Legida-Anhänger ab, belagern und beschimpfen den
58-jährigen Familienvater. Der Polizeichef bleibt äußerlich gelassen,
lässt sich auf keine Diskussionen ein. Ein ergrauter Mann will eine
Eingabe schreiben, andere Legidisten halten ihm Plakate mit Parolen vor
das Gesicht. Merbitz hält das alles aus, weicht nicht. Zu diesem
Zeitpunkt weiß er bereits, dass am Hauptbahnhof eine Gruppe von
Gegendemonstranten versucht, Legida aufzuhalten - die Polizei muss den
Durchbruch verhindern. Selbst jetzt lässt sich Leipzigs oberster
Polizist nichts anmerken. Erst als der letzte "Abendspazierer" vorüber
ist, geht er zum Gewandhaus, wo Wasserwerfer bedrohlich aufgereiht sind,
inspiziert den Roßplatz. Legida marschiert nahezu reibungslos,
begleitet von lauten Protesten. Auf den Straßen bleibt es weitgehend
friedlich.
Gegen 21 Uhr sitzt Merbitz im Präsidium - erste Auswertung im
Einsatzstab: "Insgesamt ist es gut gelaufen." Über Funk wird der
Brandanschlag auf ein Auto am Grassi-Museum gemeldet. Merbitz presst die
Lippen aufeinander. "Das wird noch eine lange Nacht. Ich werde der
Letzte sein, der wahrscheinlich erst morgen Früh hier rausgeht."
Schulen machen früher Schluss
Ausnahmezustand gestern Mittag auch in einigen Leipziger
Schulen - speziell in denen, die in City-Nähe beheimatet sind und/oder
deren Schüler auf dem Weg nach Hause über den Ring und durch die
Innenstadt müssen. In diesen Bildungseinrichtungen endete der Unterricht
vorfristig. Das Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium beispielsweise schickte
seine jungen Leute zwei Stunden früher gen Heimat. Die
Bildungsagentur-Dependance in Leipzig hatte den Schulen der Stadt einen
Ermessensspielraum zugestanden. "Ansonsten hätte die Gefahr bestanden,
dass Schüler wegen des ab dem Nachmittag lahm gelegten öffentlichen
Personennahverkehrs nicht rechtzeitig nach Hause kommen", sagte
Bildungsagentursprecher Roman Schulz auf Anfrage.
Das Abendgymnasium in Czermaks Garten sagte seine Veranstaltungen laut Schulz gestern sogar ganz ab. dom
Tag der verschlossenen Türen
Verschärfte Kontrollen im Hauptbahnhof
Von VICTORIA gRAUL
Irritiert blickten Reisende gestern auf versperrte Eingangstüren des
Leipziger Hauptbahnhofes. Wegen den Demonstrationen blieben die Ausgänge
der Ost- und Westhalle gesperrt. Reisende mussten die Seitenausgänge
nutzen. Sicherheitskräfte zeigten sich zeitweise entgegenkommend,
öffneten die Türen der Hauptausgänge. "Ich hatte Angst, dass ich nicht
mehr reinkomme und den Weg nicht mehr schaffe. Alles hat bisher
reibungslos funktioniert", sagte Steffen Ebermann (34), der nach Zittau
unterwegs war. Für Jessica Fuchs (28) war der Reisetag weniger
entspannt: "Ich finde es chaotisch. Die Straßenbahn fährt nicht und so
muss ich jetzt auf den Zug umsteigen."
Am Hauptbahnhof herrschte am frühen Nachmittag reges Getümmel. Da
fuhren die meisten Züge noch planmäßig. Besonders groß war da der
Andrang in den City-Tunnel-Stationen, da es Einschränkungen im
Nahverkehr gab. Bundespolizei und Mitarbeiter des
Bahn-Sicherheitsdienstes waren verstärkt im Bahnhof sowie an den
Tunnel-Haltepunkten im Einsatz. "Ich fühle mich sicher. Hier drinnen
bekommt man eh nicht viel von den Demonstrationen mit," sagte Nicole
Eisele, Mitarbeiterin eines Obst- und Gemüseladens. Die 32-Jährige
gehörte zu den wenigen Verkäuferinnen, die am Nachmittag in den
Promenaden Hauptbahnhof ihrer Arbeit nachgingen. 80 bis 90 Prozent der
Geschäfte hatten ab Nachmittag geschlossen. "Wir stehen im engen Kontakt
mit den Händlern und der Polizei. Dennoch können die Händler im eigenen
Interesse entscheiden, ob sie ihre Läden öffnen oder schließen,"
erläuterte Stefan Knorr vom Center-Management.
Verkäuferin Sophie Trettner (26), Mitarbeiterin in einem Textil-Shop,
blickte zu diesem Zeitpunkt gespannt auf den zu erwartenden Verkaufstag.
"Falls es brenzlig wird, machen wir halt zu."
Kliniken waren gerüstet
Uniklinikum und das Klinikum St. Georg waren auf Verletzte aus den Demos vorbereitet. So war am Abend etwas mehr Personal als üblich im Einsatz, ein zusätzlicher Rufdienst für Ärzte und Pflegepersonal stand bereit, "um im Bedarfsfall schnell reagieren zu können", sagte André Gries von der zentralen Notfallaufnahme der Uniklinik. Alle Mitarbeiter seien auf ein erhöhtes Patienten-Aufkommen vorbereitet worden, sagte auch St.-Georg-Sprecher Martin Schmalz. A. Rau.
"Hoffentlich geht das nicht jede Woche so"
Busse und Bahnen ausgebremst / LVB ab 14 Uhr mit vielen Umleitungen / Strom auf Ring abgestellt
Von Josephine heinze
Umleitungen, Verspätungen, Einschränkungen für alle Straßenbahn- und
Buslinien der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB): Gestern kurz nach Mittag
war zunächst nur klar, dass an diesem Mittwoch nichts so sein würde wie
an einem normalen Werktag. "Wir wissen momentan nicht, wann die Polizei
den Straßenbahnverkehr auf dem Innenstadtring unterbindet", erklärt
Marc Backhaus, Sprecher der LVB, gegen 13.45 Uhr. Nur wenige Minuten
später geht dann schon nichts mehr. Weder Autos noch Trams noch Busse
fahren - und dieser Ausnahmezustand gilt mindestens acht Stunden lang.
"Die Polizei hat angeordnet, dass der Strom auf dem Ring abgestellt
wird", so Backhaus. Für die Verkehrsbetriebe heißt das: Ausweichen auf
ein Umleitungskonzept.
Währenddessen warten auf der Karl-Liebknecht-Straße einige Leipziger
vergeblich auf den ÖPNV. Zwar pendeln die meisten Bahnen zwischen
einzelnen Stationen, zahlreiche Haltestellen werden jedoch gar nicht
bedient. Doch der Ärger hält sich in Grenzen. "Es war ja damit zu
rechnen, dass so was kommt", erklärt eine Passantin und zuckt mit den
Schultern. Für einen Mittwochnachmittag sind ohnehin wenig Menschen
unterwegs. "Ich finde es in Ordnung, für mehr Sicherheit zu Fuß zu
gehen. Außerdem kann man ja auf die S-Bahn umsteigen", sagt ein Student,
der aus der Innenstadt in den Süden will. Auch Backhaus bestätigt: "Die
S-Bahn-Eingänge werden von der Bundespolizei kontrolliert, aber die
Züge fahren."
Wegen der Sperrungen enden zahlreiche Straßenbahnen am Waldplatz - fast
alle von ihnen fahren schlicht als Linie E. "Ich weiß gar nicht, welche
Bahn ich nun nehmen soll, um nach Hause zu kommen", sagt eine Rentnerin.
"Für uns ältere Leute ohne Internet auf dem Handy ist das alles
unübersichtlich."
Am westlichen Rand der City rollen alle fünf Minuten Bahnen, die voll
sind, aber nicht überfüllt. Nur ein paar Leute ärgern sich, als es an
der Waldstraße nicht weitergeht. "Mir sind die Hände gebunden", versucht
sich der Fahrer der Tram zu erklären. Probleme haben derweil auch die
Busse: Durch das hohe Verkehrsaufkommen fahren sie am späten Nachmittag
mit bis zu 30 Minuten Verspätung.
Obwohl sich viele mit den Einschränkungen arrangiert haben, wird ein
Tenor deutlich: "Hoffentlich geht das jetzt nicht jede Woche so."