Abschiebe-Drama kurz vorm Fest in Leipzig: 18-Jährige nachts außer Landes gebracht

Erstveröffentlicht: 
27.12.2014

Leipzig. "Stille Nacht, heilige Nacht." So war es in den vergangenen Tagen vielerorten zu hören. Das ganze Gegenteil spielte sich kurz vor dem Fest des Friedens in Plagwitz ab. Ziemlich unheilig wurde mitten in der Nacht eine junge Tschetschenin - nach Aussagen von Zeugen gewaltsam - abgeschoben. Die vor gut zwei Jahren gegründete Bürgerinitiative (BI) Offene Nachbarschaft Leipzig-Südwest für Flüchtlinge hat sich nach diesem Vorfall mit einem offenen Brief an die Sächsische Staatsregierung in persona von Ministerpräsident Stanislaw Tillich und Innenminister Markus Ulbig sowie an die Stadt Leipzig gewandt.

 

"Direkt in unserer Nachbarschaft wurde aus der Asylsuchenden-Unterkunft in der Markranstädter Straße 16/18 eine junge Frau gewaltsam ihrer vertrauten Umgebung entrissen", berichtet BI-Sprecherin Julia Eckert. Mitten in der Nacht zwischen 3 und 4 Uhr sei sie von ihrer Familie getrennt sowie unangekündigt und vollkommen unerwartet abgeschoben worden.
 

 

Junge Frau geriet wegen Trennung von Familie in Panik

"Tamara S.* war erst 18 Jahre alt. Sie engagierte sich in ihrem Umfeld, übersetzte für andere mit geringeren Deutschkenntnissen, wollte nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin beginnen", erzählt Eckert. Doch das Drama nahm seinen Lauf: Angesichts der plötzlich bevorstehenden Trennung von ihren Eltern und ihren zwei Brüdern sei Tamara in jener Nacht in Panik geraten, versuchte, sich aus dem Fenster zu stürzen und Suizid zu begehen.

Feuerwehr und Rettungsdienst wurden gerufen und stellten auf der Straße ein Sprungtuch auf. Die zu Hilfe eilenden anderen Bewohner ließ die Polizei nicht durch. "Tamaras Mutter flehte die Polizei an, sie auch mitzunehmen, aber ohne Erfolg. Die Tochter wurde von der Polizei in ein Fahrzeug gezwungen und noch am selben Tag den polnischen Behörden übergeben", so die BI-Sprecherin. Wohl um die 20 Minuten hatte die junge Tschetschenin Zeit, einen 20-Kilo-Koffer zu packen. Dies ist in der Regel immer so.

Bürgerinitiative kritisiert hartes Vorgehen der Polizei

Zuvor waren laut Zeugen sämtliche Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft von der Polizei wach geklingelt und "durch lautes aggressives Auftreten verschreckt" worden. Angst breitete sich aus. "Seit jener Nacht finden viele keinen Schlaf mehr", sagt Eckert. Die Polizei habe mit dieser rohen Vorgehensweise eine Re-Traumatisierung der Geflüchteten verursacht. "Wir erheben vehement Einspruch gegen einen solchen gewaltsamen Akt gegen unsere Nachbarn, die wir kennengelernt und mit denen wir den Alltag im Kiez geteilt haben", so die junge Leipzigerin. Als BI habe man sich zum Ziel gesetzt, die neuen Bewohner willkommen zu heißen.

"Wir finden es sehr problematisch, dass sich unsere Nachbarn der permanenten Bedrohung einer unfreiwilligen Abschiebung ausgesetzt sehen - insbesondere im Winter und isoliert von ihren Familienmitgliedern", erklärt Eckert. Es dürfe nicht sein, dass ein 18-jähriges Mädchen gewaltsam seiner Familie entrissen und alleine im Winter in ein ihr vollkommen fremdes Umfeld abgeschoben wird. Der Staatsregierung und der Stadt Leipzig sei deshalb ein Forderungskatalog übergeben worden:

- Keine Abschiebungen im Winter - dies kann ohne richtige Unterkunft lebensbedrohlich werden!

- Keine Familientrennungen - die Famlie ist für viele nach Jahren auf der Flucht und der Perspektivlosigkeit der einzige Halt!

- Keine Abschiebungen mitten in der Nacht - Geflüchtete sind keine Kriminellen!

- Keine gewaltsamen Methoden der Polizei, die zu einer (Re-)Traumatisierung der Betroffenen und anderer im Haus Wohnender führen!

Fabian: "Abschiebung hat mich traurig gemacht"

Eine erste Reaktion auf das Abschiebe-Drama erfolgte am Tag vor dem Fest des Friedens aus dem Leipziger Rathaus: "Als ich von der Abschiebung der jungen Frau erfahren habe, hat mich dies emotional sehr aufgewühlt und traurig gemacht", erklärte Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) auf LVZ-Anfrage. Nach allem, was er wisse, sei sie auf dem besten Weg gewesen, in Leipzig anzukommen "und zu uns zu gehören". "Ich unterstütze ganz klar die Forderungen dieser Bürgerinitiative", so Fabian.

Epilog: Tamaras Familie ist der abgeschobenen Tochter gen Osten hinterhergereist. Mittlerweile sitzen alle fünf Familienmitglieder vereint in einem Zimmer in einem Abschiebelager in Polen fest. Auf Antrag wird ihnen eine Stunde Ausgang am Tag in Begleitung gewährt. Was weiterhin mit ihnen geschehen wird, ist bis dato unbekannt. "Stille Nacht, heilige Nacht. Die der Welt Heil gebracht."(*Name geändert)

Kirchliche Weihnachtskampagne: Leipziger Theologen starten Online-Petition gegen Winterabschiebungen im Freistaat

Keine Winterabschiebung in Sachsen: Asyl ist eine Frage der Menschlichkeit! - unter diesem Motto haben Thomaskirchenpfarrerin Britta Taddiken sowie der Arbeiterpriester und Schriftsteller Andreas Knapp eine Weihnachtskampagne gestartet sowie eine Online-Petition auf der Plattform "Open Petition" initiiert. Die Sächsische Landesregierung soll damit aufgefordert werden, dem Beispiel von Schleswig-Holstein und Thüringen zu folgen, auf Winterabschiebungen zu verzichten. Die Initiative soll zivilgesellschaftlichen Druck für eine ausstehende Entscheidungssitzung im Innenausschuss am 15. Januar mobilisieren. Das einst CDU-regierte Thüringen hat beispielsweise seit dem Winter 2012/13 auf Abschiebungen in der kalten Jahreszeit verzichtet.

"Auch in diesem Winter werden wieder Asylsuchende aus Sachsen eiskalt abgeschoben - ohne Rücksicht auf die harten winterlichen Bedingungen ihrer Herkunftsländer, in denen die Abgeschobenen keine behagliche Weihnachtsstimmung erwartet. Besonders betroffen sind Roma aus dem Westbalkan (Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien)", so die Initiatoren. Alarmierend sei diese Praxis auch deshalb, weil Sachsen den traurigen Rekord hält, im Vergleich mit den anderen Bundesländern die meisten Abschiebungen durchzuführen.

Unterstützung für die Kampagne gibt es unter anderem von der katholischen Pfarrei St. Martin in Grünau. "Wenn wir Roma in Slums abschieben, nehmen wir ihnen sehenden Auges den Mantel weg", so Pfarrer Eberhard Thieme in Anspielung auf den Namenspatron der Gemeinde.