OB Jung im LVZ-Interview: "Wer das Abendland retten will, muss Flüchtlinge aufnehmen"

Erstveröffentlicht: 
24.12.2014

Leipzig. Seit Wochen ziehen die selbst ernannten Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) durch Dresden und andere Städte, wenden sich gegen eine Überfremdung Deutschlands, kritisieren die Asyl- und Flüchtlingspolitik des Bundes, der Länder und Kommunen.


Im neuen Jahr wird der in Teilen rechtsextreme Protest Leipzig erreichen. Legida, der hiesige Ableger von Pegida, hat gerade für den 12. Januar eine erste Demonstration durchs Waldstraßenviertel angemeldet. Im LVZ-Interview spricht Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) über seine Sorgen, die Angst in der Bevölkerung und die Gegen-Bewegung.

 

LVZ: Wie denken Sie über Pegida/Legida?

Burkhard Jung: Überall in Deutschland, auch in Leipzig, gibt es Menschen, denen vieles in ihrem Leben momentan undurchschaubar erscheint, sie sprachlos macht. Die Nachrichten aus aller Welt und dem eigenen Land münden in einem seltsamen Gefühl, ausgeliefert zu sein. Dann tauchen radikale Einpeitscher von rechts außen auf - vor allem in den sozialen Netzwerken, in denen wir die Entwicklung von Legida seit Wochen beobachten - und verbreiten Halbwahrheiten und Lügen. Sie verführen mit falschen Fakten auch die, die der sogenannten normalen Bevölkerung angehören. Mich besorgt die Entwicklung einer latenten Ausländerfeindlichkeit aus der Mitte unserer Gesellschaft schon länger, gerade aber ganz besonders.

Seit wann beobachten Sie dieses Phänomen?

Als es erstmals um den Bau der Ahmadiyya-Moschee in Gohlis ging, vor gut zwei Jahren also, habe ich in Leipzig etwas erlebt, was ich von unserer Stadt bis dato nicht kannte: eine ausgesprochene undifferenzierte Angst vor dem und manchmal sogar Hass auf den Islam. Pegida missbraucht die Angst der Menschen vor islamistischen Gewalttätern, wie begründet oder unbegründet sie auch sein mag. Sie missbraucht die Ängste vor dem Ausgeliefertsein. Sie missbraucht die generelle Unzufriedenheit und gefühlte Ungerechtigkeit, um gleich sämtliche Muslime, Asylbewerber und Flüchtlinge in Sippenhaft zu nehmen und deutschnational zu argumentieren nach dem Motto: "Jetzt sind wir mal dran."

Und sie unterstellt der Politik, die Befindlichkeiten der einheimischen Bevölkerung beim Thema Zuwanderung nicht ernst zu nehmen. Haben Sie sich etwas vorzuwerfen?

Wir alle sollten uns und unser Tun regelmäßig hinterfragen. Das mache ich auch. Wenn es um die Unterbringung der Flüchtlinge in unserer Stadt und die Kommunikation mit der Bevölkerung geht, haben wir uns aber ganz bestimmt nichts vorzuwerfen. Wir sind sehr aktiv, transparent und offen auf die Menschen zugegangen. Wir haben in vielen Runden miteinander diskutiert und gesprochen. Und wir sind vielerorts letztlich auch auf Verständnis gestoßen. Spätestens mit Eröffnung der Heime haben sich die Wogen geglättet. Die jeweiligen Sozialarbeiter machen eine hervorragende Arbeit, es gibt Initiativen und Patenschaften in den Vierteln, die sich den Flüchtlingen zuwenden. Das ermutigt mich wieder.

Mit wie vielen Teilnehmern rechnen Sie, wenn Legida am 12. Januar zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung tritt?

Schwer zu sagen. Die Kundgebung vor dem Sportforum ist für 3000 Teilnehmer angemeldet worden. Von dort soll es durchs Waldstraßenviertel gehen. Die genaue Route muss aber mit der Versammlungsbehörde noch abgestimmt werden.

Ein Gegen-Bündnis steht gleichfalls in den Startlöchern, plant einen Sternmarsch. Mit Ihnen an der Spitze?

Ich bin auf jeden Fall dabei. Und ich freue mich darüber, dass sich Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Flüchtlingsvereine und andere Gruppen unserer Stadt zusammenschließen, um sich für das Recht auf Asyl, für eine Willkommenskultur auszusprechen. Ich bin sehr, sehr zuversichtlich, dass viele Tausend den demokratischen Protest unterstützen werden. Viele haben sofort reagiert, innerhalb weniger Tage gab es fünf Demo-Anmeldungen. Und in unseren evangelischen wie katholischen Kirchen wird am Heiligabend ein Aufruf zur Gründung einer ökumenischen Flüchtlingshilfe verlesen. Die Kirchen nehmen ihre Verantwortung ernst. Wir feiern jetzt Weihnachten. Maria und Josef mit dem kleinen Jesus waren frühe erste Asylsuchende. Sie suchten aus Angst vor Ermordung Asyl in Ägypten. Wer also, um auf Pegida und Legida zurückzukommen, das christliche Abendland retten will, der muss - ich betone - der muss Flüchtlinge aufnehmen und darf sie nicht wegschicken.

In Dresden schallt der Slogan "Wir sind das Volk" durch die Straßen, wenn Pegida marschiert. Wie kommt das bei Ihnen an?

Das tut geradezu weh. Der Ruf aus der Nikolaikirche, der Ruf der Leipziger Montagsdemonstranten von 1989 wird aufs Schlimmste missbraucht. Auch deshalb bin ich froh, dass sich ein breites Bündnis dem entgegenstellen will, dass es zunächst ein Friedensgebet in der Nikolaikirche geben wird. Das sind wir schon dem verstorbenen Christian Führer schuldig.

Und doch ist da diese diffuse Angst vor Fremden. Dabei beträgt die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund in Leipzig gerade mal zehn Prozent. Etwas weniger als die Hälfte dieser Menschen hat einen deutschen Pass. Worin sehen Sie die Gründe für diese Ablehnung?

Dort, wo die wenigsten Ausländer leben, herrscht die größte Angst vor ihnen. Das ist wissenschaftlich belegt. Ein zweiter Grund ist die Demokratie-Erfahrung, die noch reifen muss. Eine demokratische Gesellschaft ist eine offene Gesellschaft. Diese Offenheit müssen wir wollen, müssen wir lernen auszuhalten. Das ist ein langer Prozess. Der betrifft aber nicht nur den Osten. An Demokratie-Erfahrung besteht in Deutschland insgesamt ein großer Bedarf. Sonst gäbe es Pegida nicht.