Interview: „das Projekt der Demokratischen Autonomie und die Verdrängung des Staates stärken“

BIJI

Das Interview: „das Projekt der Demokratischen Autonomie und die Verdrängung des Staates stärken“ wurde im autonomen Blättchen Nr. 19 veröffentlicht. Da es sehr informativ und spannend die Hintergründe und die aktuelle Situation in Rojava und den anderen Teilen Kurdistans beschreibt, sollte es weiter verbreitet werden. Viel Spaß beim Lesen!

 

AB: Stell dich doch bitte kurz vor.

 

Ich komme aus der autonomen linken Bewegung und wurde Anfang der 90er Jahre politisiert. Sowohl die Pogrome von Rostock, als auch der Mord an Halim Dener und die Verfolgung der kurdischen Bewegung in den 90er Jahren haben mich politisch geprägt. Insbesondere zu dieser Zeit stellte die PKK eine der größten kämpferischen, linken und revolutionären Organisationen in der BRD dar und internationalistische Solidarität war für uns damals selbstverständlich.

 

AB: Wo und wie engagierst du dich? Welche Bezüge zur kurdischen Bewegung hast du?

 

Ich beschäftige mich mit der kurdischen Bewegung seit Anfang der 90er Jahre und gerade die Paradigmen des Demokratischen Konföderalismus, von radikaler Demokratie und Geschlechterbefreiung, die in den letzten 14 Jahren in der kurdischen Bewegung eine immer stärkere Dynamik bekommen haben, stellen in meinen Augen ganz wichtige Beispiele für Aufbau einer Alternative jenseits der kapitalistischen Moderne dar. Insofern konnte und kann ich immer wieder sehr viel von der kurdischen Bewegung lernen. Ich engagiere mich u.a. in der Kampagne Tatort Kurdistan. Diese Kampagne hat sich gegründet, um die deutsche Unterstützung für die Türkei im Kampf gegen die kurdische Bevölkerung und ihre Freiheitsbewegung zu thematisieren. Es ging dabei zunächst vor Allem um Waffenlieferungen an die Türkei, das PKK Verbot und Kriegsverbrechen der Türkei. Wir gingen aber dann auch einen Schritt weiter und sagten uns, wir wollen das fortschrittliche Projekt der kurdischen Freiheitsbewegung untersuchen und darstellen. Denn PKK Verbot, Waffenlieferungen, Repression stellen nicht nur außenpolitische Unterstützung des NATO Partners Türkei dar, sondern richten sich genau gegen eine linke revolutionäre Bewegung. Sie zielen darauf ab, den Aufbau einer radikalen, demokratischen Alternative an der Peripherie der EU zu verhindern. Also machten wir 2012 eine Broschüre in der wir das Modell der Demokratischen Autonomie in Nordkurdistan (Türkei) darstellten.

 

AB: Du warst mehrfach in Rojava und auch in anderen Teilen Kurdistans. Was hast du da gemacht?

 

Meine Aufenthalte in Nordkurdistan dienten u.a. der Teilnahme an Delegationen um das Modell der Demokratischen Autonomie besser kennenzulernen, aber um auch Kriegsverbrechen des türkischen Staates zu untersuchen. Daraus ergab sich als nächster logischer Schritt, nach der Revolution in Rojava, das Funktionieren und die Probleme des Systems der Demokratischen Autonomie in einer Region unter Selbstverwaltung und eben ohne die Repression eines Staates wie der Türkei zu erleben. Natürlich ohne Repression ist etwas kurz gegriffen oder eigentlich falsch. Die Region wurde, wie bekannt von Kräften wie dem IS, Cebhet al Nusra und anderen Gruppen mit Unterstützung der Türkei, Saudi Arabiens und Qatars und mindestens unter Billigung der NATO angegriffen.

 

AB: Wo in Rojava warst du und was war dein erster Eindruck?

 

Ich habe mich bei meinen beiden Aufenthalten in Rojava im Kanton Cizire aufgehalten. Das ist der östlichste und im Moment größte Kanton von Rojava. Im Westen und Süden des Kantons Cizire befindet sich der IS, im Norden die türkische Grenze und im Westen die irakische Grenze. Dieses Jahr war ich mit einer Delegation im Mai den ganzen Monat dort.

 

Das erste Mal fuhren wir im Oktober 2013 in die Region. Damals kamen wir aus Südkurdistan (Nordirak) über den Grenzübergang Semalka. Südkurdistan ist de facto ein Nationalstaat und eben auch ein Beispiel dafür, dass das nationale Befreiung nicht einhergeht mit sozialer Befreiung oder nationale Unabhängigkeit nichts mit politischer oder ökonomischer Unabhängigkeit gemein hat. Die PKK hat das schon seit langem erkannt und richtet sich in ihren Analysen radikal gegen das Modell des Nationalstaats, den sie als Mittel zur Profitgewinnung bestimmter Klassen oder gesellschaftlicher Gruppen auf Kosten der Mehrheit analysiert. Südkurdistan hebt verbal seine nationale Unabhängigkeit hoch und feiert diese als Errungenschaft, letzten Endes ist die Region jedoch ökonomisch vom türkischen Kapital abhängig und politisch ebenfalls von den USA und der Türkei. Durch das System in Südkurdistan profitieren nur die Klienten der Regierungspartei KDP während der Rest der Bevölkerung außen vor bleibt. Während wir uns in Südkurdistan aufgehalten haben prägte der soziale Widerspruch alle Bereiche und insbesondere wurde das martialische und repressive Auftreten der Sicherheitskräfte immer wieder deutlich. Von diesen Sicherheitskräften, Männern, verabschiedeten wir uns an der Grenze bei Semalka, setzten nach Rojava über und wurden dort von Einheiten der Sicherheitskräfte von Rojava, den Asayis empfangen. Hier waren zwei junge Frauen und ein junger Mann an der Grenze tätig und an ihrem Auftreten und ihrem respektvollen Umgang mit der Bevölkerung wurde deutlich, dass wir vor Allem auch eine Systemgrenze überschritten hatten. Solche Beobachtung konnten wir immer wieder machen.

 

AB: Kannst du kurz umreißen welche Ideen hinter dem Schlagworten demokratische Autonomie bzw. demokratischer Konföderalismus stehen? Wie werden diese Ideen in den drei Kantonen Rojavas umgesetzt? Welche Rolle spielen sie in den andern Teilen Kurdistans?

 

Der Demokratische Konföderalismus ist eine Form der Selbstverwaltung, die dem Modell von Staatlichkeit gegenübersteht. Es geht eher um einen Ansatz perma nenter sozialer Revolution, die sich in jeder Facette der gesellschaftlichen Struktur widerspiegelt. Die Überwindung des Nationalstaats ist als langfristige Perspektive vorgesehen. Der Staat wird dadurch überwunden, dass auf praktischer Ebene alle Strukturen in Selbstorganisation und Selbstverwaltung übernommen werden. Weder staatliche noch territoriale Grenzen sollen dabei eine Rolle spielen.

 

Durch die Selbstverwaltung der Gesellschaft wird der Staat und der Nationalstaat vom Demokratischen Konföderalismus überflüssig gemacht. Das bedeutet, dass die Kommune, der Rat, die Gemeinschaft die politischen Zentren in diesem Gesellschaftsmodell dargestellen. Als Form hat sich die Region Rojava zunächst das schweizer Kantonale Modell mit seiner weitgehenden Autonomie der Regionen gewählt. Im Idealfall entsteht der Kanton aus der Kooperation der autonomen politischen Räte, angefangen bei den Nachbarschaften in den Städten und Dörfern. Die Föderation der Räte wird als Konföderalismus bezeichnet.

 

Die Kommune ist die Struktur der Selbstverwaltung, welche die Nachbarschaften direkt einbindet. Um den Organisierungsgrad der Gesellschaft dabei zu erhöhen, werden Bildungsveranstaltungen für die Mitglieder der Kommunen durchgeführt, bei denen unter anderem demokratische Selbstbestimmung und Rechte, Frauenbefreiung, Geschichte von Syrien, Geschichte von Kurdistan, Kurdischkurs, und viele andere gesellschaftliche Anliegen Thema sind. Bei unseren Reisen konnten wir feststellen, dass dies von Region zu Region unterschiedlich gut gelungen ist.

 

Dem entgegengesetzt beruht der Nationalstaat auf gesellschaftlicher Homogenisierung durch Identitätsbildung und deren automatisch gewaltförmiger Durchsetzung. Der Nationalstaat hat eine Blutspur durch die Weltgeschichte gezogen. Als Beispiele aus der Region, seien hier nur die Arabisierungspolitik Syriens und die Türkisierungspolitik der Türkei genannt. Dagegen setzt der demokratische Konföderalismus auf gesellschaftliche Vielfalt. In Syrien leben sunnitische Araber*innen, schiitische Araber*innen, sunnitische Kurden*innen, assyrische Christ*innen, Chaldäer*innen, ezidische Kurd*innen, Armenier*innen, Aramäer*innen, Tschetschen*innen, Turkmen*innen und viele weitere kulturelle, religiöse oder ethnische Gruppen. Eine Repräsentanz aller dieser gesellschaftlichen Gruppen soll ebenfalls über das Rätesystem und eine entsprechende Quotierung im System erreicht werden. Es bestehen auch in vielen Bereichen arabische Räte und insbesondere die Assyrer*innen sind sehr eng mit der Rätebewegung (TEV-DEM) verbunden. Zentrale Positionen werden nach System von drei oder vier Covorsitzenden besetzt, die den gesellschaftlichen Gruppen der Region entsprechen sollen.

 

AB: Welche Rolle spielen dabei Frauen?

 

Während wir uns in Rojava aufhielten fiel uns von Anfang an die starke Präsenz von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen ins Auge. Die Revolution in Rojava wird in erster Linie auch als eine antipatriarchale Revolution verstanden, denn die kurdische Bewegung sieht den Staat als zentrales Unterdrückungsmittel und analysiert historisch Staatlichkeit als Ausdruck der Patriarchats. So sind alle Rätestrukturen geschlechter-quotiert, das heißt keine Struktur ist Entscheidungsfähig ohne Einhaltung einer Geschlechterquote von 40%. Weiterhin existieren zu allen gemischten Strukturen parallel autonome Frauenstrukturen, welche die Umsetzung der Ziele der Geschlechterbefreiung garantieren sollen. Konkret heißt das zum Beispiel, das bei Fällen von patriarchaler Gewalt juristische Frauenkomissionen zu den Fällen arbeiten und solche Fälle nicht von Männern behandelt werden dürfen. In vielen Stadtteilen gibt es außerdem inzwischen sogenannte Frauenhäuser. Es sind keine Frauenfluchthäuser wie in der BRD, sondern Häuser, in denen Frauen zusammenkommen, sich gemeinsam bilden, ihre Probleme besprechen, oft werden Computer-, Sprach- oder Nähkurse angeboten. Die wichtigste Arbeit der Frauenhäuser ist jedoch die Hilfe bei gesellschaftlichem Sexismus. Weiterhin gibt es das Asayis Jin, die Frauensicherheitskräfte, die neben den normalen Aufgaben als Sicherheitskräfte insbesondere auch soweit möglich bei patriarchaler Gewalt intervenieren. Es wird von Frauen eine kommunale Frauenökonomie in Form von Frauenkooperativen aufgebaut um die Frauen auch ökonomisch unabhängig zu machen. Bildung ist eines zentralen Momente dieser Bewegung und sie findet organisiert von der Frauenbewegung Yekitiya-Star auf allen Ebenen statt. Diese Bewegung strahlt mittlerweile weit über die kurdische Bevölkerung aus, da sich in allen Bereichen, vor allem auch in den militärischen, assyrische, arabische und kurdische Frauen beteiligen und dort entsprechendes Empowerment erfahren. Das gleiche gilt auch für männliche Einheiten, die sich ebenfalls in ihrer Bildung mit der Frauenfreiheitsideologie auseinandersetzen. Insofern können wir deutlich einen Transformationsprozess in der gesamten Gesellschaft Rojavas sehen, der einmalig für den heutigen Mittleren Osten ist.

 

AB: Von außen betrachtet sieht der basisdemokratische und antizentralistische Anspruch der Bewegung, die sich auf den demokratischen Konföderalismus bezieht und die Rolle und Verehrung, die Abdullah Öcalan zukommen, wie ein Widerspruch aus. Wie bewertest du diesen Widerspruch oder nehmen wir das falsch wahr und wie wird dies in der Bewegung diskutiert?

 

Ich selbst habe diese Frage häufig gestellt. Wenn ich mit Frauenaktivistinnen, die das Porträt von Öcalan tragen, rede und sie frage warum sie gerade das Porträt eines Mannes tragen, dann bekam ich immer wieder die Antwort ohne Abdullah Öcalan und die PKK gebe es die kurdischen Frauenfreiheitsbewegung nicht. Innerhalb der PKK, die ja zunächst, wie auch Strukturen anderer linker Bewegungen in der Türkei in den 60er und 70er Jahren männerdominierte Bewegungen waren, setzte Abdullah Öcalan einen starken Akzent auf eine antipatriarchale Haltung und eine eigenständige revolutionäre Frauenorganisierung. Dies ist der Kern der heutigen Frauenfreiheitsbewegung, die wir durchaus als eine der größten feministischen Bewegungen weltweit betrachten können. Die Darstellung von Führungspersönlichkeiten oder Theoretiker*innen ist nichts neues in der Geschichte linker Bewegungen weltweit, denken wir doch einfach den Begriff Marxismus. In der kurdischen Freiheitsbewegung steht Abdullah Öcalan, mit seinen von der Pariser Commune, Rosa Luxemburg, Murray Bookchin und vielen anderen entwickelten radikaldemokratischen Konzepten, für das Empowerment des einzelnen Menschen, hin zu einem Wesen, das auf allen Ebenen sich selbst politisch repräsentiert. Insofern ist die Herausstellung von Abdullah Öcalan für die Menschen ein Symbol für das Modell, das auch als Apoismus bezeichnet wird, also eben das geschlechterbefreite Modell der Demokratischen Autonomie. Es ist natürlich klar, dass dies für viele in Deutschland sozialisierte Menschen widersprüchlich erscheint – dies hat jedoch auch viel mit Projektion eigener Vorurteile zu tun.

 

AB: Der Kanton Kobane wird seit zwei Monaten massiv vom IS angegriffen, mittlerweile scheint sich die Lage etwas gebessert zu haben und die YPG/ YPJ erklären, dass sie gemeinsam mit Einheiten der FSA und der Peschmerga in die Offensive gegangen ist und die Dörfer rund um die Stadt wieder befreien. Wie ist die Situation in den anderen beiden Kantonen?

 

Der Hauptangriff des IS fand bisher auf Kobani statt, er kann sich jedoch jederzeit vor Allem auch gegen den Kanton Cizire richten. Im Kanton Cizire befinden sich im Moment zehntausende ezidische Flüchtlinge, die von den Räten versorgt werden. Diese Flüchtlinge konnten aus den Sengal Bergen, durch einen von der HPG (PKK Guerilla) und der YPG/YPJ erkämpften Korridor, nach Rojava fliehen. Die Ezidinnen und Eziden waren zuvor von den Peschmerga der KDP (Regierungspartei der autonomen Region Kurdistan im Irak) dem IS kampflos überlassen worden. Dies führte zu massiven Massakern. Nur die Intervention von HPG und YPG/YPJ (Volks-/Frauenverteidigungseinheiten in Rojava) rettete vielen Flüchtlinge, nach eigener Aussage, das Leben. Es ist bezeichnend, dass nun gerade diese Peschmerga der KDP von der Bundesregierung mit Waffen ausgestattet werden. Der Korridor besteht zur Zeit nicht mehr und es sind im Moment zehntausend Ezid*innen auf dem Sengal vom IS eingeschlossen. Sie verteidigen sich mit Hilfe der neugegründeten YBS (Sengal Verteidigungseinheiten) und HPG Einheiten. Die militärische Situation dort, also im Nordirak ist sehr ernst. An der Grenze entlang gibt es immer wieder Vorstöße des IS und Operationen der YPG/YPJ.

 

Im Moment sieht es aber andererseits so aus, als könnte die YPG/YPJ vor allem in der Region um Serekaniye (Rojava, Kanton Cizire, Nordsyrien in der Nähe der Türkei) viele Dörfer befreien. In der Region um Heseke (Rojava, Kanton Cizire) gibt es immer wieder schwere Gefechte sowohl mit dem Assadregime, als auch mit IS. Die Lage ist von hier aus aber nicht einfach zu beurteilen.

 

Die Situation in Afrin gestaltet sich ebenfalls ernst. Insbesondere die von der Türkei immer noch massiv unterstützte Al Nusra Front (Al Qaida) scheint im Moment mit der Konkurrenzgruppe im Dschihadistischen Sektor gleichziehen zu wollen und begann am 11.11. eine Offensive gegen Afrin. Wie sich die Lage in Afrin entwickelt wird sich zeigen. Die Kantone sind von einander durch von Dschihadisten kontrolliertes Gebiet getrennt und können nur indirekt kommunizieren. Deswegen ist die Errichung eines humanitären Korridors eine zentrale Forderung.

 

AB: Die Ausrufung Rojavas ist nur möglich gewesen, weil einerseits das Assadregime als Zentralmacht durch den Bürgerkrieg geschwächt war und andererseits weil die kurdische Bewegung versucht hat sich nicht zur Partei in diesem Bürgerkrieg zu machen. Dieser „dritte Weg“, eine Strategie der Entmilitarisierung, hat dazu geführt, dass es in Rojava lange verhältnismäßig friedlich blieb. Doch scheint dies nur gegenüber dem Assadregime zu funktionieren. Rojava wurde schon lange von unterschiedlichen islamistischen Gruppen angegriffen. Dies hat sich seit der IS in den Kanton Kobane eingefallen ist massiv zugespitzt. Welche Strategien entwickelt die Bewegung in Rojava um, trotz der aufgezwungenen Militarisierung der Gesellschaft, die eigenen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren und nur noch nach militärischen Maßgaben zu handeln?

 

Die kurdische Bewegung hat mehr als 30 Jahre Kriegserfahrung und auch Erfahrungen mit dem Problemen, die eine Militarisierung von Konflikten mit sich bringt. Daher hat die kurdische Bewegung auch in Nord- (Türkei) und Ostkurdistan (Iran) das Paradigma der legitimen Selbstverteidigung entwickelt. Dabei liegt das Primat auf der gewaltfreien Lösung. Die kurdische Bewegung und insbesondere die Jugendkomitees und die PYD organisierten schon vor der syrischen Revolution Widerstand gegen das Assad -Regime. Dabei ging es um einen demokratischen Wandel, eine Militarisierung des Konflikts sollte verhindert werden. Mit Ausbrechen des Krieges, der Islamisierung und Fremdbestimmung des syrischen Aufstands, entschied sich die kurdische Bewegung in Rojava deshalb für einen dritten Weg. Weder mit dem Regime, noch mit der Opposition. Selbstverteidigung ja, Krieg nein. Und diese Politik behält diese Bewegung bis heute bei.

 

Deshalb werden in den von Regimeunterstützern bewohnten Vierteln von Qamişlo (Rojava, Kanton Cizire) noch Einheiten des Regimes geduldet. Das Gleiche gilt für den Flughafen. Ziel ist immer noch eine politische, demokratische Lösung für ganz Syrien. Allerdings kommt es in den Regionen um Hesekê und auch in Qamişlo immer wieder zu schweren Gefechten mit dem Regime. Angriffen des Regimes werden von der YPG und YPJ dem Niveau der Angriffe entsprechend beantwortet werden. In Hesekê versuchte Ende Mai das Regime beispielsweise eigene Stellungen nahe der Stellungen der YPG/YPJ und Asayis zu errichten. Die Regimesoldaten eröffneten das Feuer. Daraufhin kam es zu einem etwa drei Tage dauernden Krieg in Hesekê, der damit endete, dass etliche Stellungen unter anderem das Wasserwerk von Hesekê nun nicht mehr unter Regimekontrolle stehen, sondern selbstverwaltet sind. Dieser Konflikt blieb aber auf Hesekê begrenzt, denn eine politische Lösung steht trotz Gefechten immer ganz oben auf der Agenda.

 

Aus diesem Grund sehen sich YPG und YPJ nicht als klassische Armee und auch die Kräfte der inneren Sicherheit, die Asayis nicht als Polizei eines Staates, sondern als Einheiten zur Verteidigung der Gesellschaft. Das bedeutet konkret, es geht den Asayis und YPG/YPJ nicht um die Verteidigung irgendeines Status Quo, irgendeiner Machtstruktur, die sich in Form eines Staates ausdrückt, sondern darum ein freies und selbstbestimmtes Agieren der Gesellschaft, in ihrer ganzen Vielfältigkeit, zu ermöglichen. Soweit in quasimilitärischen Strukturen möglich sind auch Asayis demokratisch organisiert. So erklärte uns Hevale Ahmed einer der Vorsitzenden des Asayis von Qamişlo, dass monatlich Versammlungen stattfinden auf denen er ,vor den Mitarbeiter*innen des Asayis, Rechenschaft abzulegen hat und neue Vorsitzende vorgeschlagen und gewählt werden können. Auf diese Weise soll eine Militarisierung der Gesellschaft verhindert werden. Weiterhin soll es eben keinen Staat geben, das heißt alle Strukturen sind Teil der Zivilgesellschaft. Verteidigungsministerien bilden sich u.a. aus Verteidigungskommissionen der Räte etc.

 

Wir müssen natürlich auch sehen, dass im Moment insbesondere in Kobani aber auch in ganz Rojava ein Kampf ums Überleben stattfindet, von daher kann von einer Demilitarisierung der Gesellschaft im Moment nicht die Rede sein.

 

AB: In Nordkurdistan (Türkei) sind Teile der Bewegung schon länger unzufrieden, weil der von der PKK angestrebte Friedensprozess von der AKP-Regierung unterlaufen wird bzw. sich nur in Worten aber kaum in Taten ausdrückt. Die mehr oder weniger offene Unterstützung des IS durch die AKP und die Blockade Kobanes hat für viele das Fass zum überlaufen gebracht, es gab mehrtägige Ausschreitungen mit über 30 Toten und auch wieder Aktivitäten der Guerilla. Dann hat die türkische Regierung einerseits PKK Stellungen bombardiert und andererseits zugelassen, dass Peschmerga von Südkurdistan (Irak) durch die Türkei nach Kobane ziehen. Wie bewertest du dieses doppelte Spiel der AKP? Welche Perspektive hat der Friedensprozess in Nordkurdistan (Türkei) noch?

 

Nun, zunächst müssen wir die permanente Unaufrichtigkeit der AKP Regierung im Friedensprozess konstatieren. Während Guerillakräfte abgezogen wurden, errichtet das türkische Militär Staudämme um Gebiete militärisch unter Kontrolle zu bekommen und Rückzugswege der Guerilla abzuschneiden. Auch wurden hunderte, wenn nicht gar über tausend neue Militärbasen, auf türkisch häufig Kalekol, also Militärburgen mit ferngesteuerten Kanonen und sonstiger modernster Kriegstechnik, errichtet. Während in Nord-Kurdistan (Türkei) mehr als ein Jahr lang kein Guerilla und kein Soldat gefallen ist, hat die massive Unterstützung der Türkei für den IS und Cebhet al Nusra hat, den Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung nach Rojava getragen.

 

Dies sind alles Bedingungen, die einem Frieden extrem zuwider laufen. Uns muss allerdings auch klar sein, dass von der AKP Regierung sicher nicht viel anderes zu erwarten war. Jedes Zugeständnis, das im Laufe des Prozesses gemacht wurde, ist ein erkämpftes Recht. Der Kampf findet auf politischer Ebene statt und auf der Ebene der Selbstverteidigung. Das heißt auch wenn es einen Waffenstillstand gibt macht die Guerilla vom Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch – das heißt Staudammprojekte werden auch durch bewaffnete Aktionen bekämpft, das gleiche gilt für den Ausbau von Militärbasen, Festnahmeoperationen oder Massaker durch den türkischen Staat. Dies wird ebenfalls direkt von der Guerilla beantwortet, ohne dass der Prozess grundsätzlich in Frage gestellt werden muss.

 

Währenddessen werden in ganz Nordkurdistan Kommunen, Viertelräte etc. nach dem Modell der Demokratischen Autonomie aufgebaut, das heißt wir können in den letzten Jahren eine immer stärkere Ausweitung der kurdischen Bewegung und vor Allem auch durch die Gründung der linken Bündnispartei HDP und die Teilnahme an den Gezi Protesten eine stärkere Verbindung mit sozialen Bewegungen und der Arbeiter*innenbewegung in der Türkei beobachten. Das sind alles Entwicklungen, welche das Projekt der Demokratischen Autonomie und die Verdrängung des Staates stärken.

 

Moralisch beantwortet, könnte man sagen, der Waffenstillstand hat nach den Angriffen des türkischen Staates keinen Sinn mehr. Aber es gilt auch folgendes zu Bedenken, durch ihre Interventionen auf dem Sengal und ihrem entschlossenen Kampf gegen den IS wurde die diplomatische Position der kurdischen Freiheitsbewegung gestärkt. Dies war für das Erdogan Regime derartig bedrohlich, dass es der sog. Anti-IS Koalition beitrat. Die Türkei trat dem bei unter der Erklärung, dass man alle „Terrororganisationen“ gemeinsam bekämpfen müssen, nicht nur den IS, sondern auch die PKK. So versuchte er die Koalition gegen die kurdische Freiheitsbewegung in Stellung zu bringen. Gleichzeitig nehmen die Provokationen von Seiten der Türkei zu, ihr habt ja schon die mehr dreißig Toten bei Protesten gegen die Unterstützung der Türkei für den IS erwähnt. Übrigens werden diese Proteste völlig falsch in den deutschen Medien kolportiert, niemand außer Erdogan möchte gerne das türkische Soldaten in Kobani einmarschieren, denn das würde das Ende von Rojava bedeuten, es geht um einen humanitären Korridor zwischen den Kantonen. Des weiteren wurden drei Guerillas vom türkischen Militär extralegal hingerichtet, die Unterstützung für den IS geht bis heute ungebrochen weiter und Kämpfer*innen von YPG und YPJ werden in der Türkei, wenn sie verletzt über die Grenze kommen und die Wartezeit überleben, als „Terroristen“ inhaftiert. Diese und viele andere Provokationen zielen meiner Meinung nach darauf ab, die kurdische Bewegung in einer militärische Eskalation in der Türkei zu zwingen und damit Erdogans Position zu stärken. Die kurdische Bewegung hat allerdings immer ganz deutlich gezeigt, dass sie sich auf solche Spiele nicht einlässt. Aktuell sind aber sowohl die Fortsetzung als auch die Beendigung des Waffenstillstandes durchaus im Bereich des möglichen. Es wird sich in den nächsten Wochen zeigen welche politischen und strategischen Überlegungen die Bewegung anstrengt.

 

Zu Peschmerga in Kobani ist zu sagen, dass Erdogan vermutlich kalkuliert hat, dass diese Peschmerga türkische Interessen in Kobani durchsetzen könnten. Allerdings wurden bisher nur etwa 150 Peschmerga mit schweren Waffen geschickt, was eine Unterstützung für die Verteidigung von Kobani darstellt. Dies scheint Erdogan nicht recht gewesen zu sein, denn der Konvoi wurde wo es ging aufgehalten, schikaniert, Fingerabdrücke genommen etc. Dass er letztlich doch durchkam ist dem internationalen Druck und nicht zuletzt der internationalen Protestwelle zu verdanken. Denn ich möchte daran erinnern, dass US-Außenminister Kerry noch vor wenigen Wochen gesagt hat, Kobani sei von keiner strategischen Bedeutung und deswegen zu vernachlässigen. Erst der internationale Protest und Widerstand haben zumindest zu einem bescheidenen Umdenken in diesem Sinne geführt. Erdogan hätte schließlich lieber 1700 FSA Kämpfer nach Kobani geschickt, denn damit hoffte er seine Interessen eher umsetzen zu können. Dabei kämpfen dort im Moment sowieso Resteinheiten der FSA im Bündnis Burkan al Firat zusammen mit der YPG/YPJ und den Peschmerga.

 

AB: Bis vor kurzem gab es auch von der südkurdischen (Autonomie Region im Irak) KDP-Regierung ein Embargo gegen Rojava. Nun schickt sie Waffen und Peschmerga nach Kobane, das südkurdische Parlament in Hewler (Erbil) hat die Regierung aufgefordert Rojava anzuerkennen und auch z.B. in Kirkuk gibt es Kooperationen zwischen PKK nahen Kräften und Peschmergas. Wie ist diese Entwicklung zu beurteilen? Ist dies ein kurz oder mittelfristiger Schachzug der KDP, der unter dem militärischen und öffentlichen Druck zustande kommt oder ein tatsächlicher Wandel in deren Politik?

 

Diese Frage wird die Zeit beantworten. Sicher ist, dass sich das System der KDP und die Demokratische Autonomie diametral gegenüber stehen. Dennoch wird in Rojava auf einen demokratischen Prozess wert gelegt, in den alle Kräfte einbezogen werden. Wenn man mit der KDP zusammenarbeitet, dann muss man sich eben dessen bewusst sein, dass sie alles dafür getan haben um das Projekt Rojava zu zerstören. Das geht von der Ausbildung von Terroristen und dem IS die Ezid*innen im Sengal überlassen, über das Embargo bis hin zu einer massiven medialen Antipropaganda.

 

Insofern stellt die Selbstverwaltung in Rojava auch immer wieder klar, es gibt eine militärische Verteidigungskraft, YPG und YPJ, in die alle eintreten können. Es soll nicht zugelassen werden, dass jede Partei eigene Milizen aufbaut, denn das würde zu einer Destabilisierung führen. Ich selbst habe etwas Zeit mit Einheiten der YPG und YPJ verbracht und dort ebenfalls Menschen unterschiedlichster politischer, ethnischer oder religiöser Identitäten kennengelernt.

 

AB: Deutschland hat der KDP-Fraktion Waffen geliefert, auch über weitere militärische Unterstützung wird debattiert? Wie bewertest du die Politik der Bundesregierung in diesem Konflikt?

 

Die Politik der Bundesregierung ist eine scheinheilige. Wenn wir in die Geschichte des Konflikts zurückgehen und nach dem IS fragen, so erscheint es als sei er im Juni diesen Jahres plötzlich vom Himmel gefallen. Wir beobachten das Morden von IS und Al Nusra schon seit Beginn der Revolution in Rojava. In der Region wurde es von der Bundesregierung systematisch ignoriert. Ein Beamter der bayrischen LKA sagte gegenüber Monitor aus, dass seit 2009 Djihadisten aus Deutschland von deutschen Behörden bei der Reise in den Djihad unterstützt wurden. Einerseits wollte man sogenannte „Gefährder“ loswerden, andererseits wurde so der „unterstützenswerten syrischen Opposition“ unter die Arme gegriffen. Damit hat sich die Bundesregierung mitschuldig an Massakern gemacht. Wir untersuchten beispielsweise das Massaker von Til Harran und Til Hasil im Juni 2013. Dabei wurden 73 Menschen aufs brutalste von Djihadisten ermordet. Die Überlebenden berichteten uns, dass „blonde, deutsche Kämpfer“ das Massaker mit kommandierten. Daraufhin wurde Anfrage an die Bundesregierung diesbezüglich gestellt. Die Antwort war, dass über Massaker von Islamisten in der Region nichts bekannt sei, allerdings sei man besorgt über die „Diktatur der PYD in Nordsyrien“. In dieser Antwort werden die politischen Prioritäten der Bundesregierung ganz deutlich. Man ignorierte den regen Grenzverkehr von Djihadisten. z.B zogen 2013 über 3.000 Djihadisten in der Nähe von Serekaniye mit Panzern über die türkische Grenze um die Dörfer um Elok anzugreifen – und jetzt muss bedacht werden, das in der Region ebenfalls deutsche Patriot Raketen stationiert sind. Man kann nicht behaupten, dass solche militärischen Bewegungen der Bundesregierung unbekannt sind und wir haben gesehen was diese Banden in der Region angerichtet haben. Sie haben mit Blut an die Wände geschrieben: „Wir sind gekommen um zu schlachten.“

 

Die Bundesregierung veränderte ihre Haltung erst als der IS in Mossul einmarschierte und damit den engen Wirtschaftspartner Südkurdistan bedrohte. In diesem Kontext ist auch die symbolische Unterstützung der Peschmerga mit Altbeständen von Bundeswehrwaffen zu betrachten. Des weiteren rüstet man natürlich die Kräfte auf, welche die eigenen Interessen am besten in der Region vertreten und gezeigt haben, dass sie auch bereit sind gegen ein fortschrittliches kurdisches Projekt wie Rojava mit allen Mitteln vorzugehen.

 

AB: Was können wir hier in Deutschland tun um Rojava und fortschrittliche Kräfte in anderen Teilen Kurdistans zu unterstützen?

 

Ich denke wir sollten aufhören die kurdische Frage oder Rojava als Objekt unserer Solidarität zu sehen und beginnen den Kampf der Menschen dort als unseren eigenen zu definieren und zu schauen was wir im Austausch mit der kurdischen Bewegung einander mitzuteilen und voneinander zu lernen haben. Trotz dem ist es im Moment wichtig alle Unterstützung für das Projekt Rojava zu mobilisieren. Wir müssen immer wieder lautstark den Finger in die Wunden legen und deutlich machen, dass der Krieg in Kurdistan, wie viele andere auch von hier aus durch Waffenexporte, durch Repression, durch Waffenbrüderschaft mit der Türkei usw. beginnt. In diesem Sinne ist es wichtig sich gemeinsam mit der kurdischen und anderen fortschrittlichen Bewegungen in Widerstandskomitees zu organisieren. Aber grundsätzlich ist es wichtig hier eine Bewegung aufzubauen und zu stärken, die ebenfalls hier gegen die kapitalistische Moderne und für radikale Demokratisierung eintritt.

 

AB: Welche Erfahrungen habt ihr bei euer Informations- und Solidaritätsarbeit in Deutschland gemacht? Entstehen neue Verbindungen zwischen deutschen und kurdischen Aktivist_innen und Gruppen? Wird das Konzept des Demokratischen Konföderalismus, als Modell Gesellschaft zu verändern, auch für Deutschland und Europa für relevant gehalten?

 

Das Modell des Demokratischen Konföderalismus ist selbstverständlich ein Modell, das nicht nur für den Mittleren Osten von Bedeutung ist. Wir müssen ja historisch sehen, dass dieses Modell nicht vom Himmel gefallen ist, sondern eine Weiterentwicklung der klassischen Rätemodelle von Hannah Arendt bis Rosa Luxemburg und Bookchin darstellt. Insbesondere wenn wir den patriarchalen Rollback der letzten Jahre betrachten, ist die radikale Patriarchatskritik der kurdischen Freiheitsbewegung von großer Bedeutung.

 

Aber auch Aufbau von Räten, Kommunen und an diese Kommunen angeschlossene, selbstverwaltete Ökonomie stellen wichtige Ansätze dar um als linke Bewegung hier in Europa eine reale Alternative darzustellen. Die Ansätze des Demokratischen Konföderalismus finden sich ja ähnlich auch bei Hardt und Negri, um mit ihren Worten zu sprechen geht es beim Aufbau radikaler Demokratie um Repräsentation der Singularität der Multitude, also jeder Identität.

 

AB: Du veröffentlichst mit anderen bald ein Buch über Rojava. Worum geht es da? Mach doch mal etwas Werbung.

 

Wie gesagt, wir haben im Mai einen Monat in Rojava verbracht und über 120 Interviews geführt. Wir haben versucht uns ein Bild von Praxis der Demokratischen Autonomie und des Funktionierens dieser Strukturen zu machen. Das Buch stellt einen Überblick über diese Strukturen dar, es wird aber auch die Geschichte der Region thematisieren und vor allem werden viele Zeitzeug*innen der Revolution, Mitglieder von Räten, Aktivist*innen und viele andere zu Wort kommen. Unser Buch wird voraussichtlich im Dezember im Mezopotamien Verlag erscheinen. Es ist dann über die Kampagne Tatort Kurdistan zu beziehen.

 

AB: Vielen Dank für das Interview

 

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