Leipzig: Polizei außer Kontrolle? Interview mit Juliane Nagel (Teil 1)

Polizeikontrolle

Anfang des Jahres machte die Polizei in Hamburg von sich reden durch Einrichtung großzügiger Kontrollbereiche und kleinlicher Schikanierung aller, die sich dort bewegten. Die Unschuldsvermutung galt plötzlich nicht mehr, Proteste wurden illegalisiert. Das sächsische Polizeigesetz hält ähnliche Instrumente bereit – und der Erfahrung nach werden sie auch eingesetzt, insbesondere im Leipziger Süden.

 

Das Innenministerium des Freistaates, immerhin Dienstherr der Polizei, will davon aber nichts wissen, wie kürzlich eine Anfrage der Landtagsabgeordneten Juliane Nagel (DIE LINKE) ergab. Mit ihr unterhielt sich Enrico Auerbach für leipzig.antifa.de über die Kontrollpraxis der Polizei, Folgen für Betroffene und Grenzen demokratischer Kontrolle.

 

Du hast im Landtag nach der Einrichtung von „Kontrollbereichen“ im Leipziger Süden gefragt. Die Antwort des Innenministeriums: Seit 2013 gab es hier keinen „Kontrollbereich“. Hat dich die Auskunft überrascht?

 

Nein, mir wurde schon vorher gesagt, dass die Auskunftsfreudigkeit der Staatsregierung nicht sehr ausgeprägt ist. Andererseits antwortet sie nicht mit den üblichen Floskeln über „Geheimhaltung“, sondern stellt klar heraus, dass es ab dem Jahr 2013 keine Kontrollbereiche im Sinne des Polizeigesetzes gab. Das muss ich erst mal so hinnehmen.

 

Außerdem habe ich nach so genannten „gefährlichen Orten“ gefragt. Für Connewitz ist der Begriff schon ein geflügeltes Wort, „gefährliche Orte“ sind aber auch im Polizeigesetz definiert als Orte, an denen „erfahrungsgemäß Straftäter sich verbergen, Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben, sich ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen oder der Prostitution nachgehen“. Hier liegen die Kontrollschranken für die Polizei, ähnlich den Kontrollbereichen, sehr niedrig. Der Knackpunkt ist: Wie und warum solche Orte durch die Polizei ausgewählt werden, liegt vollkommen im Dunkeln. Das ist demokratisch nicht kontrollierbar.

 

Interessanterweise wurde ein Abschnitt der Kneipenmeile Karl-Liebknecht-Straße während der Fußball-WM zu so einem „gefährlichen Ort“ erklärt. Ich erinnere mich aber nicht, dass dieser Bereich jemals in der Öffentlichkeit für „gefährlich“ gehalten wurde, nicht einmal während der Fußball-WM, als einige betrunkene Deutsche eine wirkliche Gefahr für Menschen darstellten. Stattdessen wird immer das „gefährliche Connewitz“ beschworen. Es wird diskursiv dazu gemacht, um den Stadtteil dann mit repressiven Strategien zu „behandeln“. Ein Beispiel war die Errichtung des Polizeipostens.

 

Glaubhafte Schilderungen von Leuten, wie sie in Connewitz einkaufen wollen und vor dem Discounter aufgefordert werden, die Schuhe auszuziehen, weil da Drogen drin sein könnten, gibt es zuhauf. Ich frage mal ganz direkt: Hegst du den Verdacht, dass das Innenministerium spitzfindige bis falsche Angaben macht?

 

Fakt ist, dass es im Leipziger Süden heftigere Polizeikontrollen gibt als in anderen Stadtteilen. Denn wer sitzt schon abends in einer Kneipe in Reudnitz, Gohlis oder Lindenau und sieht alle zehn Minuten Polizeiwagen im Schritttempo vorbeifahren oder muss sich nachts auf dem Heimweg von einer Party ausweisen? Die Berichte über solche Kontrollen kommen übrigens nicht nur aus Connewitz, sondern auch aus der Südvorstadt.

 

Ich habe jetzt eine weiteren Anfrage gestellt, mit der ich mich nach anderen Rechtsgrundlagen für verdachtsunabhängige Kontrollen erkundige. Das Sächsische Polizeigesetz sieht so genannte Kontrollstellen vor sowie Straßen von „erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität“.

 

Darum wird es im Falle Leipzigs aber doch nicht gehen.


Es klingt komisch, aber das haben Betroffene von Polizeikontrollen im Leipziger Süden von BeamtInnen tatsächlich schon als Begründung für verdachtsunabhängige Kontrollen zu hören bekommen. Hier wird es interessant sein, ob es tatsächlich einen Nachweis dafür gibt, dass Straßen im Leipziger Süden von „erheblicher Bedeutung“ für die „grenzüberschreitende Kriminalität“ sind. Ich frage mich, ob die nächstgelegene Grenze gemeint ist – das wäre die zu Sachsen-Anhalt. Für mich ergibt so eine Begründung wenig Sinn.

 

Übrigens muss das Sächsische Innenministerium dem Landtag jährlich über „Umfang und Ergebnisse“ von Kontrollmaßnahmen im Sinne des Polizeigesetzes berichten. Das passiert bis jetzt nicht, also werden wir es im Landtag einfordern.

 

Abgesehen davon bleibt es dabei: Die Kontrollen im Leipziger Süden sind keine Hirngespinste, sondern werden von Zeit zu Zeit Alltagsrealität. Wenn das Innenministerium auch auf meine neue Anfrage antworten sollte, dass es nach den Rechtsgrundlagen, die das Polizeigesetz hergibt, keine Befugnisse für solche verdachtsunabhängigen Kontrollaktionen gab, dann werde ich von Willkür ausgehen müssen.

 

Du hast auch gefragt, inwieweit künftig auf die Einrichtung von „Kontrollbereichen“ und die Festlegung „gefährlicher Orte“ hingewiesen wird, damit sich BürgerInnen darauf einstellen können, nicht unabgetastet zur eigenen Haustür oder zum Einkaufen durchgelassen zu werden. Darauf verweigert das Innenministerium die Antwort. Kannst du erklären, warum man sich selbst in solchen ganz alltagspraktischen Fragen nicht in die Karten gucken lässt?

 

Den Satz, der vom Innenministeriums aufgeschrieben wurde, werde ich wohl noch oft zu hören bekommen: „Die Staatsregierung kann die Beantwortung von Fragen ablehnen, wenn die den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung berühren“. Dieser Kernbereich entzieht sich erklärtermaßen der demokratischen Kontrolle. Genau das finde ich undemokratisch, schließlich geht es bei verdachtsunabhängigen Kontrollen um Maßnahmen, die tief in die Grundrechte von Menschen eingreifen, diese Grundrechte verletzen und die Unschuldsvermutung außer Kraft setzen. Das ist nichts „Normales“. Und schon gar nicht ist die Antastung von Grundrechten die „Eigenverantwortung“ der Staatsregierung.

 

Warum sie hier die Antwort umgeht, kann ich nur vor genau diesem Hintergrund sehen: Es geht darum, demokratische Rechte einzuschränken, Menschen einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Meine Anfrage war übrigens inspiriert durch eine ähnliche Anfrage der Linksfraktion in Bremen. Dort gab es eine vernünftige Antwort: Die „Gefahrengebiete“ wurden detailliert aufgeführt und zudem angekündigt, auf die Einrichtung solcher Kontrollzonen künftig öffentlich hinzuweisen. Das hätte ich mir natürlich auch für Sachsen gewünscht. Aber wir sind eben in Sachsen.

 

Wir erinnern uns gut an den früheren Leipziger Polizeichef und gescheiterten OBM-Kandidaten Horst Wawrzynski: Der hat ausgiebig mit der eigentlich unspektakulären „Ausbeute“ seiner so genannten Komplexkontrollen geprahlt. Für wie glaubwürdig hälst du die jetzige Behauptung des Innenministeriums, die Polizei habe gar keinen Überblick darüber, aus welchem Anlass und wie oft sie an welchen Orten kontrolliert?


Beim Stand der Technik und dem akribischen Umgang der Ordnungsbehörden insbesondere mit dem Stadtteil Connewitz kann ich diese Antwort nicht für bare Münze nehmen. Ich erinnere nur an die AG Stadtentwicklung des Kriminalpräventiven Rates, in der die Polizei sehr detaillierte Analysen diverser Vorgänge in Connewitz eingespeist hat.

 

Solange man dieses so genannte Wissen einer Geheimhaltung unterwirft, werde ich der Polizei bei der Verwendung und Verwertung der erhobenen Daten nicht vertrauen.

 

Im Lichte der Hamburger Erfahrungen mit „Kontrollbereichen“ gibt es die Einschätzung, dass deren Einrichtung ein Art „Polizeistaatsexperiment“ im kleinen Maßstab sei: Gebiete, in denen unliebsamer Protest stattfindet, werden durch die Polizei regelrecht besetzt und es entstehen Zonen, in denen der Schutz von BürgerInnen vor polizeilicher Willkür faktisch aufgehoben ist. Ist das deiner Meinung nach der Hintergrund, warum Instrumente wie die „Kontrollbereiche“ – auch wenn sie nicht immer so heißen – bedient werden?

 

Die Konstruktion „gefährlicher Orte“, das Ausrufen von „Gefahrengebieten“ oder die Einrichtung von „Kontrollbereichen“ sind Teil eines ordnungspolitischen Paradigmenwechsels hin zum „Präventionsstaat“. Klassische Aufgabe der Polizei war einmal die Abwehr von Gefahren, die von Einzelnen ausgehen. Heute fokussiert sich ein staatliches Kontrollregime aber auf ganze Räume. Der Staat verlagert die Befugnisse der Polizei in ein gar nicht mehr abzugrenzendes Vorfeld, indem er Orte deklariert, an denen schon verdächtig ist, wer sich dort aufhält. Das passiert, ohne dass irgendeine Straftat oder auch nur eine Ordnungswidrigkeit vorausgegangen sein muss.

 

Ziel ist die soziale Normierung und die Ausschaltung vermeintlicher Gefährdungslagen, auch wenn die noch gar nicht eingetreten sind. Diese Präventionslogik erhielt vor allem nach 9/11 Auftrieb und bedeutet im Grunde nichts anderes als die Aushebelung der Unschuldsvermutung. Die Akzeptanz solcher Maßnahmen ist in der Bevölkerung leider recht groß, denn die Furcht vor Kriminalität wird medial und politisch geschürt, die Ursachen werden zugespitzt auf bestimmte Orte oder bestimmte Menschengruppen.

 

Manchmal passiert beides zugleich, wenn wir zum Beispiel an so genannte „Grenzkriminalität“ denken. Hier verbinden sich dann ethnisierende und rassistische Diskurse mit der Debatte um „innere Sicherheit“…


Ja, und es ist interessant zu beobachten, welche Bevölkerungsgruppen es sind, denen der Staat regelmäßig unterstellt, „Delinquenten“ zu sein: Es sind derzeit vor allem Muslime, aber auch allgemein Menschen, die an den sozialen oder politischen Rand gedrängt werden und die man dort halten will, um sich mit sozialen Schieflagen oder auch der Kritik an Missständen nicht auseinandersetzen zu müssen. Man hält bestimmte Gruppen an diesem Rand, und das gelingt dadurch, dass man auf Polizei statt auf Politik setzt. Genau das ist der Effekt der Vorverlagerung polizeilicher Befugnisse. Das ist völlig im Sinne der herrschenden Logik des Kapitalismus.

 

Es fällt auch auf, dass bundesweit immer wieder Gebiete betroffen sind, in denen es zum einen eine starke linksalternative Szene gibt, wie in Connewitz, Berlin-Kreuzberg und der Hamburger Sternschanze. Oder aber Gebiete mit hohem MigrantInnenanteil wie Leipzig-Volkmarsdorf oder Berlin-Neukölln. Das sind Orte, die aus Sicht des Staates unkalkulierbar sind und die darum mit Härte, wenn nötig auch mit Willkür unter Kontrolle gebracht werden sollen.

 

Leider ist es so, dass diese Logik weitgehend aufgeht: Eine erwähnenswerte Kritik gibt es selten, Solidarisierungen mit den Betroffenen bleiben aus. Im Gegenteil akzeptieren weite Teile der Öffentlichkeit die von der Polizei betriebene Markierung der „Anderen“ als den angeblich „Kriminellen“. Im Bereich Eisenbahnstraße wurden zwischen August 2008 und Dezember 2011 insgesamt acht Mal Kontrollbereiche eingerichtet. Gestört hat das bis vor kurzem kaum jemanden. Das meine ich durchaus auch selbstkritisch. Wir haben zu lange weggeschaut.

 


Demnächst erscheint auf leipzig.antifa.de der zweite Teil des Interviews. Darin geht es um die Praxis des „racial profiling“, Chancen einer unabhängigen Kontrollstelle für die Arbeit der Polizei und die mögliche Einführung einer Kennzeichnungspflicht in Sachsen.


 

Mehr zum Thema steht in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift CILIP – Bürgerrechte & Polizei mit dem Schwerpunkt „Polizei und Krise“. Neben einem Überblick über die Situation in mehreren europäischen Ländern geht es auch um Kontrollbereiche und verdachtsunabhängige Kontrollen im Lichte der Hamburger Erfahrungen.

 

Über kritische Anmerkungen und Erfahrungsberichte zum Thema freut sich leipzig.antifa.de. Schreibt uns!