„Wage keine Prognose mehr“ – Forscher Rink über Leipzigs Wachstum und die Folgen

Erstveröffentlicht: 
20.10.2014

Leipzig. Die Messestadt wächst weiter im Rekordtempo. Für das laufende Jahr wird erneut eine Nettozuwanderung von über 10.000 Menschen erwartet. Zusammen mit steigenden Mieten verändert die Entwicklung die Stadt. Im Leipziger Westen seien Hartz-4-Bedarfsgemeinschaften aus einigen Straßen bereits fast vollständig verdrängt worden, sagte der Leipziger Soziologe Dieter Rink im Interview mit LVZ-Online.

 

Als Soziologe beschäftigen Sie sich bereits lange mit der Bevölkerungsentwicklung in Leipzig. In diesem Jahr wird erneut ein Plus von weit über 10.000 Einwohnern erwartet . Sind Sie erstaunt von der Geschwindigkeit, mit der sich Leipzig verändert?

 

Ja, das Wachstum übertrifft alle Prognosen. Nach einer sehr langen Schrumpfungsphase setzte ab Anfang der 2000er erstmals ein leichtes Wachstum ein, es kamen pro Jahr etwa 1000 bis 2000 Menschen. Wir dachten, die Talsohle ist durchschritten, es geht nun in dieser Geschwindigkeit weiter. Die Zahl stieg aber auf 3000 bis 4000 Zuwanderer pro Jahr und das überraschte uns bereits. Seit 2010 ist das Wachstum auf mehr als 10.000 neue Einwohner jährlich gestiegen. Damit hat keiner gerechnet.

 

Warum nicht?

 

Wir gingen von einem Rückgang der Zuwanderung nach 2010 und neuerlicher Schrumpfung aus. Die Zuwanderung speist sich überwiegend aus Ostdeutschland. Dort sind aber in den 1990ern die Geburten sehr stark gesunken. Ostdeutschland hatte in den ersten Jahren nach der Vereinigung die niedrigste, jemals auf der Welt gemessene Geburtenrate. Also erwarteten wir, dass sich dieser Einbruch in Leipzigs Zuwanderung abbilden müsste. Aber das passiert nicht.

 

"Ich wage momentan keine Prognose mehr abzugeben."

 

Wie kann man diese Entwicklung erklären?

 

Es geht zurück in die Städte, Stichwort Reurbanisierung - das ist ein weltweiter Trend. Allerdings profitieren davon nicht alle Städte, sondern vor allem Metropolen und Groß- sowie einige Unistädte. In Leipzig erklärt sich das in erster Linie mit dem starken Jobwachstum in den letzten Jahren, des Weiteren mit der Rolle als Ausbildungsstandort und der Attraktivität der Stadt . Die Schrumpfung verlagert sich dagegen mehr und mehr in die ländlichen Räume. Einige Gegenden bluten sehr stark aus, insbesondere junge Menschen verlassen das Land und die kleinen Städte. Viele gehen wegen eines Studiums bzw. Ausbildungsplatzes. Dazu kommt eine stärkere Erlebnisorientierung bei vielen jungen Menschen, gesucht werden auch vielfältige kulturelle Angebote, die es auf dem Land kaum gibt.

 

Wann ist der Prozess abgeschlossen, weil die Stadt einfach voll ist?

 

Schwer zu sagen. In der Bevölkerungsvorausschätzung 2013 habe ich die Position vertreten, dass das Wachstum zurückgeht. Schon ein Jahr später bin ich aber widerlegt worden. Statt den von mir angenommenen rund 7000 neuen Einwohnern kamen 11.000. In diesem Jahr sieht es schon wieder nach über 10.000 Zuwanderern aus. Ich wage momentan keine Prognose mehr abzugeben.

 

"Leipzig ist prozentual gesehen die am stärksten wachsende Stadt in Deutschland"

 

Viele junge Menschen verlassen die Stadt nach Abschluss ihrer Ausbildung wieder. Sie haben dafür einmal das Bild vom „biographischen Durchlauferhitzer“ geprägt. Stimmt es noch?

 

Teilweise schon. Nach wie vor gehen viele Studienabsolventen wegen eines Jobs weg, auch wenn viele das eigentlich nicht wollen. Auf der anderen Seite kommen viele Berufsanfänger nach Leipzig, die Umzugsmobilität ist insgesamt sehr hoch. Und dann gibt es ein Phänomen, das ich mehrfach in unserer kleinen Abteilung im Umweltforschungszentrum (UFZ) erlebt habe. Junge Menschen, die in Heidelberg oder Marburg studiert hatten, sind nach Leipzig gezogen, ohne ein konkretes Jobangebot und ohne Kontakte zu haben.

 

Was hat sie daran verwundert?

 

Dass es ganz offenbar eine Zuwanderung allein aufgrund der Attraktivität der Stadt gibt. Ich kenne zwei junge Kolleginnen, die nur einmal in Leipzig waren und sich danach spontan entschieden, hierher zu ziehen. Ihre Jobchancen schätzten sie in Heidelberg und Marburg nicht besser ein. Also wollten sie lieber in Leipzig wohnen, weil es ihnen hier besser gefiel.

 

Gibt es um Leipzig also einen ähnlichen Hype, wie um Berlin vor ein paar Jahren?

 

Ja, allerdings hält der auch in Berlin nach wie vor an. Gerade vergleichen wir die Zuwanderung hier mit der in anderen deutschen Großstädten. Es zeigt sich, dass Leipzig zwar prozentual gesehen die am stärksten wachsende Stadt ist. 10.000 Zuwanderer pro Jahr bedeuten etwa zwei Prozent Wachstum. Demgegenüber hat Berlin nur einen Prozent Zuwachs. In absoluten Zahlen ist die Zuwanderung der Hauptstadt mit durchschnittlich 35.000 Menschen pro Jahr deutlich stärker. Beide Städte haben bei der letzten Volkszählung, dem Zensus, ihre Einwohnerzahlen massiv nach unten korrigieren müssen. Beide haben das durch die Zuwanderung sehr schnell wieder kompensiert.

 

"Die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert."

 

Immer mehr Menschen kommen inzwischen auch wegen eines Jobs nach Leipzig. Verbessert sich dadurch die Wirtschaftskraft der Stadt?

 

Natürlich. Vor ein paar Jahren wurde Leipzig in einem Forschungsprojekt noch als „Weak-Market-City“ bezeichnet, also als Stadt mit schwachem Arbeitsmarkt. Das stimmt heute so nicht mehr. Im Vergleich stehen Frankfurt, Hamburg, München oder Stuttgart natürlich sehr viel besser da. Aber die großen Ansiedlungen von Unternehmen wie DHL, BMW, Porsche, vieler kleiner Zulieferfirmen und auch das Wachstum der Kreativwirtschaft zeigen deutliche Effekte. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert. Die Durchschnittseinkommen sind dennoch relativ niedrig geblieben.

 

Woran liegt das?

 

Es sind viele prekäre Jobs geschaffen worden. Etwa bei Amazon und teilweise auch bei DHL verdienen die Mitarbeiter nicht viel. Unser OBM, Herr Jung, fordert deswegen immer wieder mehr nachhaltige Jobs, bei denen die Menschen nicht am Ende des Monats zur Arbeitsagentur gehen müssen, um ihr Einkommen aufzustocken.

 

Trotzdem hat man nicht das Gefühl, die Leipziger nagen am Hungertuch.

 

Dadurch, dass die Mieten und andere Lebenshaltungskosten relativ moderat sind, kann man sich hier einen Lebensstil leisten, der sich meiner Meinung nach nicht groß von dem unterscheidet, der in westlichen Großstädten möglich ist. Wenn man Hannover, Dortmund oder Nürnberg anschaut, dann lebt man in Leipzig vergleichsweise gut. Entscheidend ist die Relation zwischen Einkommen und Ausgaben.

 

"In fünf bis zehn Jahren wird sich die Einwohnerschaft der Viertel im Leipziger Westen komplett verändert haben."

 

Bringt der Boom an den Immobilienmärkten dieses Verhältnis in Leipzig in Gefahr? In Berlin sind die Mieten inzwischen ja massiv gestiegen.

 

Durchaus. Leipzig spielt auf den Immobilienmärkten als sogenannter B-Standort in Deutschland zwar nur in einer Liga mit Nürnberg oder Dortmund oder in Europa mit Danzig oder Liverpool. Trotzdem sind die Mieten auch hier in den vergangenen Jahren angezogen. Die Leipziger geben inzwischen 35 Prozent ihres Nettoeinkommens für Wohnkosten – in der Regel die Mieten – aus. Das bewegt sich zwar noch im Rahmen des Üblichen, auch im Vergleich mit den genannten anderen Städten. Aber bedingt durch die niedrigen Einkommen reichen schon geringe Mietsteigerungen, um bezüglich der Relation der Wohnkosten zu den Einkommen schnell Verhältnisse wie in Hamburg oder München zu bekommen, also Städten, mit denen sich Leipzig ansonsten nicht vergleichen kann.

 

Einige Stadtviertel, etwa der Süden, teilweise auch der Westen, gelten ja bereits als etwas teurere Wohnlagen, mit der Folge, dass dort nicht mehr jeder die Mieten bezahlen kann. Denken Sie, die Entwicklung wird weitere Gegenden erfassen?

 

Kürzlich habe ich von einem Investor gehört, der in der Mariannenstraße im Leipziger Osten acht Häuser im Paket gekauft hat und dort aufwändig sanieren will. Teilweise stehen die Häuser leer, teilweise sind sie bewohnt. Und dort leben nicht junge Akademiker wie im Süden oder Westen, die mithalten können, sondern Migranten und Empfänger von Sozialleistungen. Die werden die sanierten Wohnungen nicht bezahlen können.

 

"Wenn die Stadt weiterhin viel Zuwanderung will, braucht sie ausreichend preiswerte Wohnungen."

 

Ist das nur eine Gefahr oder gibt es bereits eine messbare Verdrängung von Bewohnern mit geringen Einkommen aus bestimmten Gegenden?

 

Das findet bereits statt. Im Leipziger Westen etwa bildet sich der Wandel deutlich ab. Aus einigen Straßen wurden etwa Harz-IV-Bedarfsgemeinschaften fast vollständig verdrängt. In fünf bis zehn Jahren wird sich die Einwohnerschaft der Viertel dort komplett verändert haben.

 

Wie muss die Stadt darauf reagieren?

 

Da spielt das wohnungspolitische Konzept eine zentrale Rolle, das derzeit erarbeitet wird. Ich meine, wenn die Stadt weiterhin viel Zuwanderung will, braucht sie ausreichend preiswerte Wohnungen. Der Markt schafft lediglich Wohnraum im gehobenen Segment. Nehmen Sie das Brunnenviertel in Lindenau als Beispiel: Das wird einmal angefasst und im ganzen Komplex erneuert. Hinterher ist es energetisch saniert, es gibt eine klare Zielgruppe – das ist aus Sicht des Unternehmens ein super Konzept. Aber es ist auch ziemlich teuer und für die bislang typische Bevölkerung nicht erschwinglich.

 

"Im Vergleich zu anderen Städten vollzieht sich Leipzigs Entwicklung in Extremen, das macht die Planung – auch die von Kitas – nicht eben einfacher."

 

Bislang speist sich das Wachstum vor allem aus Zuwanderung. Ist auch in Sicht, dass mehr Kinder geboren werden, als Menschen sterben?

 

Die Geburtenrate hat sich in den letzten Jahren erholt und dem Wert in Westdeutschland angeglichen. Parallel zur Zuwanderung junger Haushalte ist die Geburtenzahl gestiegen. In diesem oder im nächsten Jahr könnte diese erstmals wieder über der Zahl der Sterbefälle liegen. Das war zuletzt im Jahr 1965 – also vor fast fünfzig Jahren – der Fall. Damit folgt Leipzig einem Trend, der auch in anderen Großstädten beobachtbar ist. In München speist sich das Wachstum schon seit langem auch aus Geburtenüberschüssen, zu etwa einem Drittel, in Dresden seit 2007, allerdings nur zu etwa einem Zehntel.

 

Ist angesichts dieser rasanten, die Prognose sprengenden Entwicklung aus Ihrer Sicht nachvollziehbar, dass die Stadt bei der rechtzeitigen Schaffung von Kita- und Schulplätzen enorme Probleme hat?

 

Die Geburten steigen seit Jahren kontinuierlich, insofern war der steigende Bedarf an Kita-Plätzen absehbar. Freilich haben Kita-Neubauten einen langen Vorlauf, was die politischen und planerischen Entscheidungen betrifft. Zudem ist die Standortsuche unter den Bedingungen gestiegener Flächennachfrage nicht eben einfacher geworden. Ich würde jetzt nicht sagen, dass die Stadt geschlafen hat, sie hat kurz nach dem sprunghaften Anstieg der Zuwanderung auf mehr als 10.000 Einwohner pro Jahr auf den Modus „dynamisches Wachstum“ umgeschaltet. Im Vergleich zu anderen Städten vollzieht sich Leipzigs Entwicklung in Extremen, das macht die Planung – auch die von Kitas – nicht eben einfacher.